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Siebentes Kapitel

Doktor Lutz bewohnte in der St. Margarethenstraße unweit des Polizeipräsidiums eine geräumige 6 Zimmerwohnung.

Wer ihn als Freund oder Klient erstmalig besuchte und durch kitschige Detektivfilme ein grundfalsches Bild von der Tätigkeit eines Kriminalisten, und vor allem aber von der Einrichtung einer »Detektivwohnung« erhalten hatte, war erstaunt, gediegen und solide eingerichtete Räume vorzufinden, wo nichts sichtbarlich auf die Tätigkeit seines Bewohners hinzuweisen schien.

Besonders das Arbeitszimmer wirkte mit seiner einfach-vornehmen Ausstattung wie die Studierstube eines stillen Gelehrten, ein Eindruck, der noch durch die zahlreichen Bücher, die die Wände bis an die Decke ausfüllten, gehoben wurde. Einige physikalische und chemische Instrumente, wie Mikroskope, Retorten und Destillierballons, standen auf einem Glastisch im Hintergrund des Zimmers, ein breites Ruhebett mit zahlreichen Kissen, ein orientalischer Rauchtisch und ein breiter »Diplomat« aus dunkelgebeiztem Mahagoniholz vervollständigten die Einrichtung.

Die üblichen Requisiten des schlechten Detektivfilms, wie Totenköpfe, Skelette und Falltüren, sowie versenkbare Schränke und Truhen und ähnlichen, einem beschränkten Filmregisseursgehirn entsprossenen Unsinn suchte man in der Wohnung Karl Egon Lutz' vergeblich.

Am Abend des 1. Juli lag Lutz in einem leichten Hausrock auf der Chaiselongue, vor ihm saß, bequem in einen Klubsessel gelehnt, die Beine faul von sich gestreckt, sein Freund, der Inspektor Fischer von der Kriminalpolizei.

Fischer war gegen 15 Jahre älter als Lutz, und seit 22 Jahren in den Diensten der Frankfurter Kriminalpolizei. – Hinter dem behäbigen großen und breitschultrigen Mann mit dem langen, blonden Vollbart, den gutmütigen blauen, durch eine goldene Brille halbverdeckten Augen, vermutete niemand den tüchtigen und gefürchteten Kriminalisten, der Fischer anerkanntermaßen war. Er besaß eine stoische Ruhe, dabei eine zähe Energie und verstand es, mit der größten Liebenswürdigkeit, aus dem schwersten Jungen alles das herauszuholen, was er zu wissen wünschte.

Er erfreute sich, wenn man so sagen darf, selbst bei den größten Gaunern, die seine regelmäßige »Kundschaft« bildeten, einer gewissen Beliebtheit, denn er konnte, so scharf er sonst im Dienste war, hin und wieder bei kleineren Vergehen ein oder auch beide Augen zudrücken, und er war der letzte, der einen armen Plattmächer wegen einer Bagatelle gleich hochgehen ließ.

Fischer kannte als geborener Frankfurter seine Vaterstadt, wie die Schublade seines Schreibtisches, und sprach gerne ein unverfälschtes Frankfurter Deutsch, das ihn, schon dem Klange nach, von den meisten seiner Kollegen im Exekutiv- oder Kriminaldienst unterschied, die sehr zu Mißvergnügen der wenig preußenfreundlichen, alten Reichsstadt Frankfurt zumeist die Mark Brandenburg, Pommern, Ost- oder Westpreußen ihre Heimat nannten.

Mit Lutz war er seit vielen Jahren befreundet, und da dieser gewissermaßen inoffiziell die Ermittlungstätigkeit des Friedberger Falles, dem zwar sehr korrekten und gewissenhaften, aber alles andere als besonders fähigen Kommissar Rademacher aus der Hand genommen hatte und sofort die üblichen greifbaren Erfolge verbuchen konnte, beeilte sich Fischer seinen Freund Karl Egon nach Dienstschluß aufzusuchen, um die einzelnen Phasen der Ermittlungen nochmals persönlich mit ihm durchzuarbeiten.

Fischer blieb dann, sans façon – Lutz machte keine großen Umstände – zum Abendessen und jetzt nach Tisch bei einer Zigarre besprachen die beiden Männer die weiteren Schritte, die die Untersuchung erforderte.

Während Fischer interessiert, ohne sein Gegenüber zu unterbrechen, zuhörte, entwickelte Lutz seine Theorie.

»Es handelt sich«, meinte er lächelnd, »wie Rademacher schon richtig vermutet hat, auch hier wohl um die alte Binsenweisheit, die ein Franzose in drei Worten Cherchez la femme zusammengefaßt hat. Meines Erachtens ist der Fall nicht auf die leichte Achsel zu nehmen, sondern als ein geradezu kapitales Verbrechen anzusehen.

Ein Mord, der in allen seinen Einzelheiten genau ausgedacht war und dessen Ausführung auch bis in die kleinsten Details hinein klappte.

Unser alter Professor Courvoisier in Lausanne pflegte in seinen Vorlesungen zu sagen:

›Wenn einer von Ihnen später in die Lage kommen sollte, polizeiliche Ermittlungen persönlich vorzunehmen, dann merke er sich folgenden altbewährten Vers und handle danach:

Wer, was, womit, mit wem, wann,
Warum, wo und wie –?‹

Diese Fragen auf unseren Fall angewandt, können teils restlos, teils auch nur im vermutenden Sinne beantwortet werden.

Wer? Wer ist der Täter? – –

Diese erste aber wichtigste Frage ist nur teilweise zu beantworten. Wir wissen bereits folgendes: Der Täter ist eine Frau mit dunkelbraunen, beinahe schwarzen Haaren, im Alter von 25-30 Jahren. Sie ist von ziemlich großer Figur, mindestens 168-170. Ihr Name sowie die übrigen Personalien sind noch nicht bekannt.

Wer ist der Getötete?

Diese Frage ist bereits restlos geklärt. Der Tote ist der Artist Leopold Marguth, genannt Lugos Marvay, geboren am 17. September 1880 in Donauwörth. Auf Grund meiner Diagnose, daß der Tote frisch mit Lues infiziert wurde, gelang es Polizeiorganen heute nachmittag innerhalb zweier Stunden bei dem Spezialarzt Dr. Hoffmann, Schillerplatz 78 festzustellen, daß er einen Artisten dieses Namens, auf den auch die äußere Beschreibung des Toten zutraf, seit vierzehn Tagen an frischer Lues behandelt hat und ihm bereits vier intravenöse Silbersalvarsaninjektionen verabreichte. Marvay wohnte nach Aussage des Arztes in der Georg Speyerstraße und war im Monat Juni als Schnellmaler am hiesigen Albert Schumanntheater engagiert. Für Juli hatte ihm die hiesige Agenturfirma Siegfried Sinzheimer ein Engagement am Hamburger Tivoli-Theater vermittelt.

Herr Sinzheimer jr., sowie der Regisseur des Schumanntheaters, Herr Winterberg, sind heute nachmittag mit meinem Sekretär Roderich im Auto nach Friedberg gefahren und haben den Toten einwandfrei als den Artisten Lugos Marvay identifiziert. –

Die Frage Was?, das heißt, welche strafbare Handlung liegt vor, nämlich Mord, ist ebenso schnell beantwortet, wie die Frage Womit?, mit welcher Waffe wurde der Mord ausgeführt?

Meine Vermutung, daß ein Kompressionsgewehr neuester Konstruktion in Frage kommt, fand bald ihre Bestätigung. Die starke Durchschlagskraft, das auffallend kleine Kaliber, sowie die mangelnde Detonation ließen diese Vermutung aufkommen, den Beweis fand ich an einigen Spritzern am Fenster des Zimmers 27 im Hotel Großherzog, die ich durch sofortige Untersuchung als eine chemische Substanz diagnoszierte, die in Verbindung mit komprimierter Luft eine Spitzkugel auf ungefähr 1000 Meter hinauszuschleudern vermag. Das Stubenmädchen fand im Koffer der Täterin ein Paket, das voraussichtlich die einzelnen Gewehrteile der Mordwaffe enthalten haben dürfte.

Mit wem? Oder deutlicher ausgedrückt: Wer hat mittelbar oder unmittelbar mitgeholfen? Antwort, mindestens drei Personen. Zuerst der Mörder selbst, dann der falsche Depeschenträger, der das Opfer ans Fenster lockte, und, nach Aussagen mehrerer Zeugen, eine kleine, schmale, junge Frau, die sich unter der Maske einer mitleidigen Angehörigen jammernd über den Toten warf und unauffällig seine Taschen leerte. Die Vermutung, daß der Schütze und die Frau, die Marvay beraubte, ein und dieselbe Person sein könnte, muß als nicht stichhaltig fallen gelassen werden, denn als eigentlicher Täter wurde eine große Frau festgestellt, während die andere nur klein gewesen sein soll. Ich gebe zwar auf die Aussagen der Zeugen nicht viel, aber es scheint unmöglich, daß der Schütze unmittelbar nach dem Mord bereits im Abteil des Frankfurter Schnellzuges sein konnte.

Es folgen die Fragen Wann? und Wo? – In einem Abteil dritter Klasse des Schnellzuges D 123 Frankfurt a. Main-Hamburg, um 10 Uhr 6 Minuten, während des fahrplanmäßigen Aufenthalts auf der Station Friedberg.

Warum wurde die Tat ausgeführt? Hierauf läßt sich nur in vermutendem Sinne eine Antwort erteilen. Es sprechen verschiedene Momente, das heißt, eigentlich die ganze äußere Aufmachung des Verbrechens für eine Familientragödie, deren Aufdeckung noch manche Schwierigkeit verursachen dürfte. Meine dahingehende Hypothese wird auch durch die Tatsache nicht umgestoßen, daß man den Toten beraubt hat, denn wäre lediglich ein Diebstahl beabsichtigt gewesen, um irgend etwas bei dem Toten zu holen, so hätte sich, um diesen Zweck zu erreichen, auch ein einfacherer, vor allem weniger blutiger Weg finden lassen, als ein so fein inszenierter vorzüglich vorbereiteter Mord.

Die letzte Frage, Wie wurde die Tat ausgeführt?, ist wieder restlos geklärt. Der Täter bezw. die Mord-G. m. b. H. brachte in Erfahrung, daß das Opfer Marvay den D-Zug nach Hamburg zu benutzen gedachte, der um 10 Uhr 6 in Friedberg ankommt. Er fuhr den Abend zuvor nach Friedberg, logierte sich im Hotel Großherzog ein und wartete am kommenden Morgen auf das Erscheinen des Zuges. Der zweite Täter lockte Marvay mit seiner fingierten Depesche ans Fenster, dort wurde er durch einen sicheren Schuß, von dem hinter dem Fenstervorhang stehenden Schützen niedergestreckt. Mit dem Opfer fuhr ein dritter Mitwisser des Verbrechens, eine junge Frau, im gleichen Zug ab Frankfurt, mit. Sie warf sich in der Maske der entsetzten und vor Schmerz aufgelösten Familienangehörigen über den Toten, raubte ihn kunstgerecht aus, dann benutzte sie die entstandene Verwirrung, um aus dem D-Zug zu verschwinden. Während die Friedberger Polizei rat- und tatlos dem sensationellen Verbrechen gegenüberstand, bestieg die Frau den auf dem Nachbargleis wartenden Gießener Personenzug und dampfte, wahrscheinlich in Gesellschaft der eigentlichen Mörderin nach Norden – – –«

Dr. Lutz wurde in seinen Ausführungen unterbrochen, denn es hatte leise und diskret an die Türe geklopft. Auf »Herein« des Detektivs betrat Roderich das Zimmer.

»Eine Depesche, Herr Doktor!«

Lutz riß das Formular rasch auf und reichte es nach Kenntnisnahme Fischer. »Es betrifft unseren Fall,« sagte er. »Hier die Mitteilung der Gepäckabfertigungsstelle Hamburg, daß das Gepäckstück 45 856, aufgegeben auf eine Fahrkarte dritter Klasse Frankfurt – Hamburg D-Zug Nr. 123, gezeichnet L. M. und dem Dienstvermerk ›Artistengepäck bevorzugt zu befördern‹, bereits drei Minuten nach Einlaufen des Zuges von einem Dienstmann abgeholt worden ist. Mein Avistelegramm kam, um sage und schreibe, zehn Minuten zu spät, sonst hätten wir den Abholer und damit wahrscheinlich auch den Täter fest. Die Hamburger Bahnhofspolizei war auf ihrem Posten, kam aber zu spät. Pech –!! Aber nicht zu ändern. –«

Fischer las die Bahndepesche und unterdrückte einen leisen Fluch.

»Die Chose fängt schon faul an«, brummte er ärgerlich. »Ich befürchte, das Frauenzimmer wird uns noch manche Nuß zu knacken geben, bevor wir es fest haben.«

»Geduld, lieber Fischer, die Frau läuft nur schon ins Garn. Der Fall beginnt eigentlich erst jetzt mich so richtig zu interessieren, es wäre doch ein mehr als banaler Ausgang gewesen, wenn wir einen halben Tag nach der Entdeckung die Täter oder Urheber schon gekappt hätten.«

»Mahlzeit!« erklärte Fischer trocken. »Ich hätte diese banale Lösung der interessanten langwierigen Arbeit, die jetzt beginnt, unter allen Umständen vorgezogen. Dem Renommée einer gutgeleiteten Kriminalpolizei dient es auch weit mehr, wenn ich meiner vorgesetzten Behörde und der Oeffentlichkeit melden kann: Aufklärung der Tat bereits nach zwei Stunden erfolgt, Festnahme der Mörder noch am gleichen Abend.«

»Stimmt,« erwiderte Lutz lachend. »Daß ein Außenseiter, wie Dr. Lutz, die Kiste eigentlich allein geschaukelt hat, braucht die vorgesetzte Behörde ja nie zu erfahren.«

Fischer klopfte dem Freund gutgelaunt aufs Knie.

»Werden Sie nicht auch noch malitiös. Ihnen macht die Jagd auf das Frauenzimmer ja selbst am meisten Spaß.«

»Zugegeben, sonst ließe ich auch bestimmt meine Finger davon.« –

»Lieber Lutz, wie dankbar bin ich Ihnen, daß Sie die Sache in die Hand genommen haben. Rademacher ist ein ganz netter Kerl, aber er hat keinen Kopf und verkorkst mir den Zimmt unter Garantie. Von Klenck hat mir die Sitte auf zehn Tage abgeschnappt, und Neumann is auch nicht der richtige Mann für derartige Großfälle. Ich kenne einen, dem die Jagd nicht minder Spaß machen würde wie Ihnen, er hat den Vorzug, hier in Ihrem Zimmer zu sitzen, aber er kann heute als Inspektor nicht mehr so weg, wie früher als Kommissar.«

»Sparen Sie Ihre langen Ausführungen, Fischer,« sagte Lutz und erhob sich langsam und übertrieben faul aus seiner halbliegenden Stellung. Ich tue, was notwendig ist. – Langen Sie mal die Flasche mit dem Danziger Goldwasser herüber und zwei Gläser bitte, wir wollen noch schnell die weiteren Schritte besprechen, und dann lege ich mich in die Falle, ich bin rechtschaffen müde.«

Fischer war sofort der Aufforderung nachgekommen und schenkte andächtig den schwerflüssigen Likör in die hohen Kelchgläser. Dann wischte er sich seinen dichten Schnurrbart und sagte:

»Bei den bisherigen Ermittlungen sind noch die Antworten auf die Fragen: Wer ist der Täter? und Warum ist das Verbrechen begangen worden? – nebenbei bemerkt zwei Kardinalfragen, – noch ausständig. Hier heißt es ansetzen, und zwar müßten meines Erachtens in erster Linie die Recherchen nach dem Täter aufgenommen werden. Haben wir diesen erst, erfahren wir das an und für sich unwichtige Motiv von selbst.«

»Möglich,« meinte Lutz trocken, und trank sein Goldwasser aus, »aber auch der umgekehrte Weg führt vielleicht zum Ziel. Wenn wir nämlich das Motiv kennen, ist die Ermittlung des Täters vielleicht – ich betone nur vielleicht – die selbstverständliche Folge, und hier heißt es wohl zuerst anpacken, denn wie und wo im Augenblick des Täters habhaft werden, weiß keiner von uns beiden. Hingegen können uns Aufklärungen über die Person des Toten möglicherweise von großem Nutzen sein, und mein erster Gang morgen früh ist ins Schumanntheater, – das weitere wird folgen. – Und jetzt Schluß der Debatte, ich sehe, daß Sie mit der Steinhägerflasche drüben liebäugeln. In punkto alkoholische Flüssigkeiten kenne ich Ihren ausgeprägten proletarischen Geschmack zur Genüge, und ebenso wenig wie ich mich an Euer entsetzliches Frankfurter Nationalgetränk, den saueren Aepfelwein, wovon Sie auf einen Hieb sechs Schoppen trinken können, gewöhnen werde, ebenso wenig begreife ich, wie man einen scharfen Wachholder oder Korn, hochwertigen Edellikören vorziehen kann, aber de gustibus non est disputandum, holen Sie sich den Steinkrug und schenken Sie sich meinetwegen ein ganzes Wasserglas voll, es ist Ihnen gegönnt.«

Und als Fischer schweigend, nur leise in sich hineinlachend, ein großes Glas Steinhäger hinuntergegossen hatte und sofort ein zweites Glas einschenkte, erhob sich Lutz von seiner Ottomane und begann die Schubfächer seines Schreibtisches langsam abzuschließen.

Dann geleitete er den Inspektor bis zur Türe und schaltete die Treppenbeleuchtung ein.

Roderich war schon zu Bett gegangen, er bewohnte im gleichen Hause eine Mansardenstube. Wenige Minuten später erloschen im ersten Stockwerk des Hauses St. Margarethenstraße 18 die Lichter.


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