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Achtes Kapitel

Regisseur Paul Winterberg, der die vormittäglichen Proben des Albert Schumanntheaters leitete, nahm zerstreut eine Visitenkarte aus den Händen des Theaterdieners.

Kaum hatte er aber den Namen gelesen, als er interessiert aufsprang.

»Fräulein Sellini!« rief er einer jungen Dame zu, die im Hintergrund der Bühne auf einem Hockerchen saß, und mit ihren Lackstiefelchen kokettierte. »Ich muß auf einen Augenblick ins Büro, bin aber in zehn Minuten wieder hier. Nehmen Sie mit dem Kapellmeister inzwischen Ihre Nummer durch.« – Dann eilte er durch die mit allen möglichen Varieté-Requisiten vollgestopfte Seitenkulisse nach dem Hauptgang, der sowohl zu den Künstlergarderoben, als auch den Büroräumen der Direktion führte. Als er die Türe seiner kleinen Schreibstube öffnete, erhob sich Dr. Lutz mit einigen Worten der Entschuldigung.

»Bitte, keine Exküsen, verehrter Herr Doktor!« wehrte der Regisseur eifrigst ab, »und bitte, auch Platz behalten. Ich stehe Ihnen jederzeit in der Angelegenheit Marvay, denn diese führt Sie wohl zu mir, zur Verfügung.«

Lutz dankte. »Ich habe Sie schon gestern belästigen müssen, mit der Reise nach Friedberg.«

»Aber ich bitte, eine Erholungsreise, die mir Vergnügen gemacht hat, das heißt,« verbesserte er sich schnell, »die Reise an und für sich wohl, nicht aber der traurige Zweck. – Der arme Marvay! Uebrigens wollen wir alle, wenn es sich arrangieren läßt, zu seiner Beerdigung gehen. Er war ein so anständiger Kollege! – Hat die Staatsanwaltschaft die Leiche schon freigegeben?«

»Noch nicht,« erwiderte Lutz, »aber die Freigabe zur Beerdigung wird wohl morgen oder übermorgen angeordnet werden.« Dann fuhr er schnell fort, um Winterberg, der sich selbst zu gerne sprechen hörte, das Wort abzuschneiden: »Ich wollte von Ihnen noch etwas über die Person des Toten erfahren. Was für eine Art Mensch war Marvay? Hatte er einen verträglichen Charakter, war er ein sympathischer Kerl, wie man so zu sagen pflegt?«

»Das war er, Herr Doktor, ein reizender, liebenswürdiger Kollege, ein wenig exklusiv und zurückhaltend, aber stets höflich und gefällig. Dabei pünktlich, tüchtig in seinem Fach, anscheinend auch nicht ganz unbemittelt und nicht allein auf seine – übrigens recht schöne Gage angewiesen. Ich kannte ihn nur einen Monat lang, er arbeitete zum ersten Male bei uns, hatte aber den allerbesten Eindruck von ihm, als Mensch und als Kollege.«

»Wo war sein letztes Engagement?«

»Er arbeitete vor Frankfurt im Königsbau in Stuttgart.«

Lutz machte sich eine Notiz, »Nun sagen Sie mal ehrlich, Herr Winterberg, haben Sie eine Ahnung, wer dem armen Kerl nach dem Leben getrachtet haben könnte?«

»Nein, Herr Doktor. Hier unter den Kollegen oder den anderen mir bekannten Leuten hatte er bestimmt keinen Feind.«

»Seine näheren persönlichen Verhältnisse kennen Sie nicht, Sie wissen nicht, ob er verheiratet war?«

Winterberg zuckte leicht die Achseln. »Darüber kann ich Ihnen beim besten Willen nichts erzählen. Er arbeitete überall, soweit mir bekannt, allein und ist, im Gegensatz zu vielen anderen, nie mit einer Frau gereist. Das Kapitel Artistenehen verlangt eine Spezialbeurteilung. Die Geschwister Soundso sind in vielen Fällen Mann und Frau. Hingegen das Ehepaar oder die Familie XYZ möglicherweise Geschwister. Fast alle Artisten haben eine Frau, ob es eine gesetzlich sanktionierte Ehe ist, die sie führen, weiß man nicht immer, frägt auch gar nicht danach.«

»Marvay wohnte hier bei einem Bildhauer in der Georg Speyerstraße?«

»Ja! – Und da fällt mir ein, daß der Bildhauer und Marvay gute Freunde und Landsleute waren. Beide stammen aus Bayern, Professor Tegisch – –!«

»Degischer!«

»Richtig, ja Degischer wird Ihnen bestimmt mehr über die Familienverhältnisse Marvays sagen können, als jeder andere hier in Frankfurt.«

»Ich werde den Bildhauer sofort aufsuchen. Nur noch eine letzte Frage bezw. eine Bitte, kann ich Ihr Programm des vergangenen Monats sehen?«

»Selbstverständlich!« Der Regisseur holte ein bedrucktes Plakat, das mit vielen anderen an der Wand hing und legte es vor Lutz auf den Tisch.

»Hier, die zweite Nummer, ›Professor Lugos Marvay Schnellmaler‹. Vor ihm arbeitete die Soubrette Pepita Lhotka. Dann kamen die vier Merys, komische Radfahrer, Mr. Dawson, der Salonjongleur, und die Akrobatentruppe Higgs Brothers. Vor der Pause war die letzte Nummer Silvio Ghilardini, der italienische Kunstpfeifer. Nach der Pause die Verwandlungstänzerin Gryt Roseberry, der Humorist Siegwart Gentes, der Trapezakt von Diana Hubay, und zum Schluß der Filmsketsch ›Ehe wider Willen‹ mit Bella Vargas und Paul Raster.«

Lutz überflog die verschiedenen Programmnummern. Auf die Erläuterungen des Regisseurs hörte er nur mit halben Ohren.

»Ein Kunstschütze trat in Ihrem vorigen Programm nicht auf?« fragte er.

»Kunstschütze?!« Winterberg lachte. »Nee, lieber Herr Doktor. Mit einem solchen Nepp dürfen wir in unserem erstklassigen Varieté nicht antreten.«

»Nepp?« fragte Lutz erstaunt.

»Na, und nicht zu knapp! Kennen Sie das Kunststück nicht, zehn Lichter und mehr auf eine Entfernung von hundert und mehr Metern auszuschießen?«

Lutz schüttelte lächelnd den Kopf.

»Die Kerzen stehen vor einem Vorhang,« erklärte der Regisseur mit behaglichem Grinsen. »Dahinter sitzt ein Gehilfe des Artisten mit dem Blasrohr. Der Schütze lädt Platzpatronen in seine Knarre, legt an und pätsch – – – der Gehilfe bläst mit seinem Pusterohr das Licht aus. – – – Das wiederholt sich unter donnerndem Beifall des entzückten Publikums sechsmal, achtmal, zwanzigmal – soviel Kerzen eben vorhanden sind.« –

Lutz mußte wider Willen auch lachen. »So spaßig Ihre Erklärung auch klingt, so möchte ich mit meinem Laienverstand doch behaupten, daß nicht immer und überall dieses einfache System zur Anwendung kommt, es gibt doch wohl auch Kunstschützen, die es wirklich zu einer erstaunlichen Fertigkeit gebracht haben, und wenn jemand ein Ei vom Kopf einer Figur, oder aus der Hand eines lebenden Gehilfen schießt, läßt sich dies doch kaum mit einem Trick bewerkstelligen oder markieren.«

»Nee! Selbstverständlich wird auf diesem Gebiet auch ganz seriös gearbeitet, nicht alles ist fauler Zauber, aber seitdem einige illustrierte Zeitschriften nichts besseres zu bringen wußten, als ihre Leser über die diversen Varietétricks der Illusionisten, Kunstschützen und so weiter aufzuklären, steht das Publikum derartigen Nummern immer ein wenig skeptisch gegenüber, wir wollen an unserem erstklassigen Theater von Kunstschützen nichts wissen.«

»Dann war meine Frage nach der Schießkünstlerin überflüssig,« sagte Lutz und verabschiedete sich dankend von dem Regisseur. –

Vor dem Theater bestieg er sein wartendes Auto und rief dem Chauffeur die Adresse zu: »Professor Degischer, Georg Speyerstraße 93.«


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