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Regierungsrat von Hatzfeld, Inspektor Fischer, die Kommissare Rademacher und von Klenck saßen vor Lutz im Dienstzimmer des Regierungsrates, das sich im zweiten Stockwerk des Frankfurter Polizeipräsidiums befand.
Lutz legte die vor einer Stunde bei dem Bildhauer Degischer in der Venusstatuette gefundenen Dokumente vor.
Fischer nahm sie als erster zur Hand, las den Inhalt flüchtig durch und sagte zu Herrn von Hatzfeld: »Jetzt können wir uns allerdings aufrichtig beglückwünschen. Der Inhalt dieser drei Briefe klärt den mysteriösen Mord so ziemlich auf.«
»Bitte, lesen Sie die Briefe der Reihe nach laut vor,« sagte der Regierungsrat.
Fischer griff nach dem ersten Bogen. »Mit Ihrer Erlaubnis nehme ich zuerst den anscheinend wichtigsten Brief vor. Es handelt sich um ein Original, dessen Absenderin Frau Grace Baronin von Rottsieper geb. Figueirao ist. Der Brief trägt das Datum des 22. August 191., wurde also, wenn ich nicht sehr irre, einen Tag nach der Verhandlung des Leutnants Marguth wegen Mordverdachts an dem Rittmeister von Wrede in Ingolstadt geschrieben. Er lautet wörtlich:
›Mein heißgeliebter kleiner Poldi!
Gott sei Dank, Du bist frei. Ich wußte wohl, daß Du kein Mörder bist. Niemand wußte es besser als ich – denn niemand anders als ich hatte an jenem verhängnisvollen Abend die tötliche Kugel auf den Rittmeister von Wrede abgefeuert. Heute darf ich die Wahrheit bekennen. Ich wurde zur Mörderin – aus Liebe zu Dir, mein einzig geliebter, süßer Junge.
Ich bin Dir eine Erklärung schuldig, Dir ganz allein, denn Reue empfinde ich über meine Tat nicht im geringsten, nur Befriedigung und ein starkes Glücksgefühl, bald in Deine Arme eilen zu können und Deinen Namen zu tragen.
Vorerst, lieber Poldi, die ehrenwörtliche Versicherung, daß ich mit Wrede nie die geringsten intimen oder auch nur herzlichen Beziehungen unterhalten habe. Der Schurke stellte mir nach, vom ersten Augenblick an, wo ich den Boden Ingolstadts betrat, aber er war vorsichtig. Er wußte wohl, daß ich nicht im Sturm zu nehmen bin, nicht so leicht auf seine Casanova-Allüren hereinfalle, wie eine Kellnerin aus dem Pschorrbräu, oder ein Statistengänschen vom Stadttheater.
Er ließ sich die Eroberung Zeit und Geld kosten, forschte in meiner Vergangenheit nach und da erfuhr er, was Dir, mein Liebling, ja nicht mehr unbekannt ist, was ich Dir in einer verliebten Stunde gestanden habe, daß die exklusive Baronin von Rottsieper noch vor kurzer Zeit eine kleine Vorstadtsoubrette war und in Varietés zweiten und dritten Ranges von Lissabon und Oporto den Matrosen aller Länder schöne Augen machte, aber nur einen erhörte, nämlich den Legationssekretär von Rottsieper von der deutschen Botschaft in Lissabon, der sie aus dem Sumpf herausholte und zu seiner Gattin machte.
Als Wrede nach einiger Mühe hinter diese Entdeckung gekommen war, warf er die Maske ab, er wurde kühner und kühner, ich konnte mich seinen frechen Zudringlichkeiten kaum mehr erwehren, und um endlich der Sache ein Ende zu machen, die mich meine mühsam erworbene gesellschaftliche Stellung kosten mußte, lud ich ihn am Abend jenes Tages zu einer ernsten Aussprache ein, an jenem Abend, den Du durch Dein verhängnisvolles Hineinplatzen in meine Wohnung zu einem öffentlichen Skandal machtest.
Das Duell mußte, koste es was es wolle, hintertrieben werden.
Erstens zitterte ich vor Angst, daß jener gewissenlose Schuft Dich, mein einzig Geliebter, niederschießen würde, zweitens wäre dann meine Situation noch unhaltbarer geworden, da ich dem Lumpen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert gewesen wäre. Ich zermarterte mein Hirn nach einem Ausweg, den ich bis zum Abend gefunden hatte. Ich ging in die Wohnung Deines Rittmeisters. – Er war allein und gerade im Begriffe zu Bett zu gehen, als ich plötzlich unerwartet in sein Zimmer trat.
Was gesprochen wurde, weiß ich heute nicht mehr. Die Unterredung war nur kurz. Wie durch einen roten Schleier sah ich die Teufelsfratze des schurkischen Wüstlings, ich sah seine nervigen Arme, die nach mir greifen wollten, und – – zog die Pistole! – –
Als Du einen Tag später verhaftet wurdest, sprach ich nicht. – Ich schwieg, nicht aus Feigheit, ich hätte mich im Augenblick, wo Du verurteilt worden wärest, sofort als die Täterin bekannt.
Du bist freigesprochen worden. – –
In meinem und in Deinem Interesse habe ich sofort Ingolstadt verlassen müssen und wohne unter meinem Mädchennamen in unserer früheren Münchener Wohnung, Prinzregentenstraße 273.
Du wirst den Militärdienst wohl quittieren müssen. Es schadet nichts, mein kleiner Poldi, wir beide haben Geld genug, um ein sorgenfreies Leben zu führen. Ich verzehre mich in Sehnsucht nach Dir. – Lasse mich nicht warten und eile bald in die Arme Deiner Dich innigstliebenden, sehnsüchtigen
Fischer schlug die engbeschriebenen Bogen zusammen.
»Der Brief klärt uns mit wünschenswerter Deutlichkeit darüber auf, wer eigentlich als Mörder des Rittmeisters von Wrede in Frage kommt. In einem anderen Sinne hochinteressant ist auch der zweite Brief vom 1. September, also wenige Tage später:
›Lieber Leopold!
So also lohnst Du meine grenzenlose Hingabe?! Das ist der Dank für all das, was ich für Dich getan habe, nur aus heißer, brennender Liebe für Dich getan habe?! Pfui Teufel!! Ich könnte Dir ins Gesicht speien. Du Memme, Du Feigling!! Wie sagt doch Euer Schiller so treffend: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. – Sei zufrieden, mein Jungchen! Ich bin keine sentimentale, deutsche Grete, habe für Euren Fiesko nicht das geringste Verständnis, und zu der Rolle des Mohr, dessen Dienste man mit einem Fußtritt belohnt, hat Grace Figueirao noch weit weniger Talent, das merke Dir!
Ich bin in der guten Gesellschaft erledigt. Erledigt durch Dich, der jetzt feige kneifen will. – –
Deine Redensarten, wie blutbesudelte Hände und so weiter, klingen so albern, so hohl, sie verfangen bei mir nicht.
Ich gehöre zu Dir und Du zu mir. Ich verlange, daß Du mir Deinen Namen gibst, wie Du es in Ingolstadt versprochen hast.
Ich will Deinen häßlichen Brief, der mich beleidigt, nicht erhalten haben, denn – – ich liebe Dich nach wie vor – – und ich lasse Dich nicht. – – –
Ich erwarte, daß Du mich in München im Laufe der kommenden Woche aufsuchst und die gesetzlichen Formalitäten in die Wege leitest.
Ich warte, Leopold!
Mit einer Grace Figueirao zur Frau kannst Du den Himmel auf Erden finden, aber hüte Dich, eine Grace Figueirao zur Feindin zu haben!!
Ich biete Dir Liebe und biete Dir Haß, glühende Liebe und kalten Haß bis über den Tod hinaus. – Ich warte bis spätestens Sonnabend nachmittag, dann reise ich nach Bad Tölz. Ich hoffe, mich dorten mit Dir als meinen Bräutigam zeigen zu können. –
Mein Zug geht um 7 Uhr abends, und ich rate Dir dringend, pünktlich in München zu erscheinen.
Sonst – –?!
Hüte Dich vor mir, ich werde Dich zu finden wissen, und sollte ich Dich bis ans Ende der Welt zu verfolgen haben.
Noch ein letztes Mal – mein lieber, heißgeliebter Poldi – ich bitte Dich, sei vernünftig – eile in die Arme Deiner Dich sehnsüchtig erwartenden Grace.‹«
Fischer legte den zweiten Brief zur Seite und sagte:
»Das nächste Schreiben jener fanatischen Frau ist eine kurze Karte aus Bad Tölz, sie enthält nur zwei Zeilen:
›Du hast die Zeit nicht wahrgenommen. Das Verhängnis muß seinen Lauf nehmen. –
G. F.‹«
»Und hier dieser Briefdurchschlag gibt auf die Frage, warum Marguth vor drei Wochen in Friedberg erschossen wurde, klipp und klar Auskunft. Es ist die einzige Antwort des Mannes, die in der Statuette versteckt vorgefunden wurde:
›Liebe Grace!
Ich gebe es nun endlich auf, Dir mit Vernunftsgründen zu kommen. Dem Lumpen, der mir gestern hier in Frankfurt auf dem Heimweg auflauerte, habe ich, noch bevor er zur Waffe greifen konnte, einen derartigen Denkzettel versetzt, daß ihm wohl auf lange Zeit die Lust vergangen sein dürfte, mir in den Weg zu kommen. Ich fürchte Deinen Haß nicht, den ich nie herausgefordert habe. – Ich wiederhole Dir nochmals, daß ich Dich nicht verachte, nur tief bemitleide in Deiner verblendeten Leidenschaft. – Deine Vergangenheit war mir gleichgiltig, Dich liebte ich, nur Deine Person, weder die Artistin Figueirao, noch die Baronin Rottsieper, aber Dein Verbrechen trennt uns, muß uns auf ewige Zeiten trennen.
Der Schatten des gemordeten Rittmeisters von Wrede steht zwischen uns beiden. Ich hielt Dich für einsichtsvoll genug, all dies zu begreifen, statt dessen schämst Du Dich nicht, gedungene Mörder zu bezahlen, ein Umstand, der mich zwingt, zu meinem Schutze nun einige notwendige Maßnahmen zu ergreifen, die Dir Unannehmlichkeiten bereiten könnten. Ich teile Dir mit, daß ich Deine Briefe wohlverwahrt bei mir trage. – Briefe, die, wie Du weißt, Dir den Hals kosten können. Laß mich in Frieden, wie ich auch Dich in Ruhe lasse, aber sei versichert, bei der nächsten feindseligen Handlung mache ich der Staatsanwaltschaft, unter Vorlage Deines eigenen Geständnisses, darüber Mitteilung, wer vor eineinhalb Jahren den Rittmeister von Wrede in Ingolstadt erschossen hat.
Leopold von Marguth.‹«
Fischer schloß die Vorlesung und reichte Lutz die wichtigen Dokumente zurück.
»Der Brief,« sagte er, »datiert vom 6. Juni dieses Jahres, die Antwort der Frau bestand in einem tötlichen Schuß am 1. August morgens 10 Uhr. – –«
Alle Anwesenden schwiegen erschüttert, ob der Tragödie der Leidenschaft, die sich vor ihren Augen entrollte. Lutz sprach als erster.
»Wir wissen nun, wer als Anstifter der Bluttat gilt, wir kennen den Namen, wenigstens den Vornamen des gedungenen Mörders, und das Motiv zu der Untat. Auch die Rolle jener Frau, die im D-Zug Marguth um seine Papiere und den Gepäckschein bestahl, erscheint jetzt geklärt, denn jene Grace verlangte nicht nur den Tod des gleichzeitig geliebten und bitter gehaßten Mannes, sondern ihr Hauptbestreben mußte dahin gehen, die Dokumente ihrer Schuld aus der Welt zu schaffen.
In Marguths Gepäck fand sie wohl die Statue der › Venus vulgivaga‹ – woher sie wußte, daß die Papiere gerade in der Skulptur versteckt waren, darüber haben wir vorerst nur Vermutungen – aber die Papiere fehlten.
Warum, wissen wir. – Sie liegen vor unseren Augen hier auf dem Tische.
Unklar ist noch die Rolle, die Marguths legitime Frau in der Tragödie gespielt hat, unklar sind noch manche andere Einzelheiten mehr oder weniger nebensächlicher Art, aber uns Klarheit zu verschaffen, ist vielleicht nur eine Frage von Tagen, vielleicht – auch nur von Stunden –«
»Was gedenken Sie zu tun?« fragte der Regierungsrat von Hatzfeld.
»Ein Diensttelegramm an die Münchener Polizeidirektion absenden und um Verhaftung der Frau von Rottsieper bitten, über einen weiteren Schritt, der uns vielleicht sämtliche dunklen Punkte mit einem Schlag aufklärt, berichte ich Ihnen heute abend.