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Fünftes Kapitel

Als die Bluttat in der Stadt bekannt geworden war, beeilte sich alles, was Beine hatte, und sich, sei es durch den Besitz einer Bahnsteigkarte oder Fahrkarte oder einer Beschäftigung im Bahnhof, halbwegs legitimieren konnte, auf den Frankfurter Bahnsteig zu rennen. Zu sehen gab es zwar nichts, denn der D-Zugwagen mit dem Toten wurde sofort nach der Abkuppelung durch eine Rangiermaschine aus dem Hauptgleis gezogen und nach einem Güterschuppen gebracht, vor dessen verschlossenen Türen ein Polizist in Zivil Wache hielt. Die Neugierigen auf dem Bahnsteig kamen daher nicht auf ihre Rechnung, und nachdem die Menge den Fall auf alle Möglichkeiten hin erörtert hatte, bei welcher Gelegenheit die gewagtesten Behauptungen inbezug auf Ausübung des Verbrechens aufgestellt wurden (sonderbarerweise glaubte niemand von Anfang an an einen Unglücksfall), verliefen sich die Sensationslustigen nach und nach, und die Polizei hatte, um den Tatort endgültig zu säubern, nicht mehr viel zu tun. –

Als Lutz und seine Begleiter den Bahnsteig betraten, war dieser nahezu leer, lediglich zwei Herren, die auf einer Bank gewartet hatten, erhoben sich beim Näherkommen der Beamten, legitimierten sich als Vertreter zweier größerer Frankfurter Zeitungen und baten um die Erlaubnis, bei den Ermittlungen anwesend sein zu dürfen.

Auf einen Wink von Dr. Lutz machte der Polizeiphotograph zuerst eine Aufnahme des Tatorts, inzwischen ließ sich der Detektiv von dem Bahnhofsvorsteher die Stelle bezeichnen, wo der Wagen ungefähr gehalten hatte. Der Beamte war in der Lage, den Ort beinahe auf den Meter genau anzugeben, denn er kannte natürlich die Zusammensetzung des Zuges und auch die Stelle, die den Maschinen als Haltepunkt bei der Einfahrt vorgeschrieben war.

Lutz zeigte sich äußerst befriedigt. »Dort drüben auf dem Gleis stand demnach der Personenzug?« fragte er, »und hier ungefähr befand sich das Fenster, wo der Unglückliche die tötliche Kugel erhielt?«

Und ohne die zustimmende Antwort des Bahnbeamten abzuwarten, ohne sich um die Vorbereitungen des Photographen, der seinen Apparat einstellte, – eine an und für sich belanglose Tätigkeit, auf die sich aber begreiflicherweise das Interesse aller Anwesenden für den Moment konzentrierte, – zu kümmern, drehte sich Lutz nach der Richtung um, aus der er gekommen war.

Der Bahnhofsvorsteher hielt sich neben ihm. »Gestatten Sie, bitte«, fragte Lutz den Beamten, und deutete mit der Rechten in der Richtung vor sich. »Von dort muß wohl der Schuß gekommen sein, das Gebäude da drüben gehört zum Bahnhof und jenes größere Haus, dort rechts, was ist das?«

»Das Hotel Großherzog von Hessen, Herr Doktor.«

»Danke«, sagte Lutz. »Bitte lassen Sie uns nun den Wagen und den Toten besichtigen. Der Photograph kann, wenn er hier fertig ist, nachkommen. – Herr Rademacher, wollen Sie bitte mitkommen? Auch die beiden Damen als Zeugen und den Bahnbeamten bitte ich um ihre Begleitung. Natürlich auch die Beamten aus Friedberg und die Herren von der Presse. Die anderen Herrschaften bleiben zurück, allzuviel unnütze Zuschauer stören die Untersuchung. – – –«

Der Polizist vor dem Güterschuppen öffnete auf einen Wink des Friedberger Kommissars die schwere Flügeltür und Lutz betrat als erster den Schuppen, in dessen Hintergrund einsam auf einem blinden Gleise der ausrangierte D-Zugwagen mit der Leiche stand. –

Seine Begleiter folgten ihm in neugieriger Spannung, vor allem legten die Friedberger Polizeiorgane begreifliches Interesse an den Tag, das System des berühmten Kriminalisten kennen zu lernen. An der Türe bat Lutz, alle zurückzubleiben, nur Rademacher und den Friedberger Polizeikommissar forderte er auf, ihm in das Innere des Wagens zu folgen. –

»Ich bitte Sie, meine Herren, hier an der Türe des Abteils warten zu wollen,« sagte er mit höflicher Bestimmtheit, »und mich in keiner Weise zu unterbrechen oder auch nur etwas zu fragen,« dann konzentrierte sich seine ganze Aufmerksamkeit in intensivster Weise auf die Person des Toten, der noch in der gleichen Stellung, wie er gefunden worden war, am Boden lag. Das eine Bein hatte er halb an den Leib gezogen, das andere hing langausgestreckt. Der Erschossene lag auf dem Rücken, die beiden Hände zu Fäusten geballt.

Mit einer geradezu wunderbaren Geschicklichkeit begann Lutz den Unglücklichen, nachdem seine Augen einige Sekunden auf dem wachsgelben Gesicht geruht hatten, zu entkleiden, wobei er bestrebt war, dessen Lage in nichts zu verändern. Dann suchte er in den Taschen nach einem irgend brauchbaren Hinweis auf die Identität des Toten oder seiner Mörder. Die wenigen Gegenstände, die er vorfand, legte er behutsam neben sich auf die Bank.

Die Durchsuchung der Leiche war eine außerordentlich minutiöse, besonders lange betrachtete Lutz die Schußverletzung, die er mit einem Vergrößerungsglas beinahe eine volle Minute lang prüfte. Das Projektil hatte nur ein kleines, fast kreisrundes Loch mit festen, dunkelroten, fast schwarzen Wundrändern gerissen. Der Ausschuß am Hinterkopf war natürlich bedeutend größer, die Kugel, die den sofortigen Tod herbeigeführt haben mußte, hatte geringe Hirn- und Knochenteile mit herausgerissen und war durch die offene Türe und das Fenster ins Freie gesaust. Das Fenster war glatt durchgeschlagen, es wies ein kleines rundes Loch auf, von dessen Mittelpunkte aus strahlenförmig einige wenige Sprünge verliefen.

Die Durchschlagskraft des außerordentlich kleinkalibrigen Geschosses mußte allem Anschein nach eine sehr starke gewesen sein.

Das Gesicht des Toten wies nicht die geringste Verzerrung oder den entstellten Ausdruck eines Todeskampfes auf. Es zeigte klare, regelmäßige, fast hübsche und edle Züge eines Mannes von ungefähr 38-40 Jahren. Er hatte volle, dunkelbraune, an den Schläfen ein wenig angegraute Haare, die in einen Scheitel geteilt waren, das Gesicht war völlig glattrasiert. Die Kleidung, die einen sauberen, gepflegten Eindruck machte, bestand aus einem gutsitzenden grauen Sportanzug mit Kniehosen und schwarzen Wadenstrümpfen.

Lutz untersuchte jede Tasche und jedes Täschchen der Kleidung, ab und zu einen Gegenstand findend, den er neben sich auf die Bank legte. Es war nicht viel, was er fand. Eine einfache silberne Taschenuhr, mit einer Chatelaine aus schwarzem Ripsband und einem Medaillon, das jedoch weder ein Bildchen, noch eine Photographie enthielt. Lutz öffnete die Uhr und legte sie dann zur Seite, des weiteren fand sich eine kleine Nagelfeile, ein kurzer Bleistift und ein kleines Buch in Westentaschenformat, ferner ein Taschentuch aus weißem guten Leinen mit den Buchstaben L. M. gezeichnet vor. Erstaunlich war die Tatsache, daß weder ein Portemonnaie noch eine Brieftasche zu finden war, auch eine Fahrkarte, die der Reisende doch logischerweise hätte besitzen müssen, fehlte in den Taschen und war nirgends zu finden. In einer Ecke des Abteils lag ein breitrandiger, grauer Filzhut mit dem Stempel einer italienischen Firma, auch er trug die Buchstaben L. M. in das Schweißleder eingestanzt. Ein Gepäckstück, das dem Toten hätte gehören können, war in den Gepäcknetzen nicht zu finden; auch ein Gepäckschein fehlte. –

Rademacher und der Friedberger Kommissar traten vorsichtig bis an die offene Türe des Abteils und sahen Lutz interessiert bei seinen Untersuchungen zu. Dieser beachtete die beiden nicht, er hatte den Unglücklichen freigelegt und aufs eingehendste jedes Glied untersucht. Der gutgepflegte und reinliche Körper des Mannes, der auch mit guter, fast eleganter Unterwäsche bekleidet war, zeigte sportgestählte Muskeln, vor allem die Schenkelmuskeln und die Beinmuskulatur waren, wie die scharfen Augen des Detektivs schnell feststellten, stark entwickelt.

Nichts verriet an Lutz' ernsten Mienen, was sein Innerstes bewegte, niemand konnte ihm äußerlich anmerken, ob ihn das Resultat der Untersuchung befriedigt hatte oder ob es ein Negatives war. Lediglich die großen lebhaften Augen, in dem ruhigen, und bei dieser Untersuchung beinahe harten Gesicht zeigten, daß der Geist Dr. Lutz' umso lebhafter arbeitete, je ruhiger sich Dr. Lutz äußerlich gab.

Plötzlich zuckte der Detektiv doch leise zusammen und beugte sich schnell über den Kopf des Toten, dessen Mund und Lippen er mit dem Vergrößerungsglas einer ganz eingehenden Besichtigung unterzog. Darauf entblößte er nochmals den rechten Arm des Toten und für einen Augenblick, aber auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, zuckte ein ganz flüchtiges Lächeln der Befriedigung über seine Lippen, er begann den Toten wieder langsam und vorsichtig anzukleiden und erhob sich dann vom Boden.

»Ich bin fertig, meine Herren«, sagte er ruhig.

Rademacher kannte Lutz und seine Arbeitsmethode seit Jahren gut genug, er wußte, daß er keine Fragen stellen durfte, dennoch konnten seine Züge die Spannung und Neugierde kaum unterdrücken und Lutz, dem dies natürlich nicht entging, nickte dem Kommissar leicht zu. Rademacher hatte verstanden, er glaubte zu wissen, daß der Detektiv den Ariadnefaden bereits gefunden hatte, der ihn aus dem Labyrinth, das die Untat mit ihren sensationellen Zusammenhängen bisher noch darstellte, herausführen sollte.

Dr. Lutz hatte sich inzwischen mit der Untersuchung der Fensterscheibe befaßt, was aber nur wenige Sekunden in Anspruch nahm, dann bat er den Kommissar aus Friedberg, den Photographen und die beiden Zeuginnen herbeizurufen.

Während er die zwei Frauen nochmals nach den näheren Umständen befragte, vor allem für die junge Frau, die ihren Schmerz an der Leiche des Mannes in seltsamer Weise geäußert hatte, ein größeres Interesse an den Tag legte, machte sich der Photograph an die Reproduktion des Tatortes. Da das Tageslicht nicht stark genug war, um eine kurzfristige Zeitaufnahme von notwendiger Schärfe gewährleisten zu können, wurden einige Magnesiumpatronen im Rücken des Apparates aufgestellt und mehrere Blitzlichtaufnahmen des Gesamtbildes von verschiedenen Seiten und Richtungen hergestellt. Der photographische Apparat, den die Polizei für den Ermittlungsdienst verwendete, war derart konstruiert, daß sich die Kamera auf einem, bis zu einer Länge von zwei Metern ausziehbarem Stativ nach unten klappen ließ, so daß das Aufnahmeobjektiv direkt senkrecht zum Boden stand. Diese sinnreiche Anordnung ermöglichte es, einen am Boden liegenden Toten, ohne dessen Lage zu verändern, und ohne eine Verzerrung des Bildes zu bewirken, aufnehmen zu können. Dr. Lutz hatte vor Verlassen des Abteils noch einen kurzen Blick auf das wachsgelbe Gesicht des Mannes geworfen, dann nahm er dessen Filzhut zur Hand, und fuhr wie spielend, als wolle er die Qualität des Filzes prüfend, über Krempe und Hutband. Plötzlich griff er zwischen Band und Hut, und zog ein kleines braunes Kartonblättchen ans Tageslicht.

»Die fehlende Fahrkarte!« sagte er und reichte sie nach kurzer Prüfung Rademacher zur Besichtigung.

»Von Frankfurt a. Main nach Hamburg –« sagte der Kommissar. »Der Mann hatte die bekannte Angewohnheit vieler Reisender, die Fahrkarte im Hutband unterzubringen. Sehen Sie doch mal bitte nach, Herr Doktor, ob Sie dort auch noch einen Gepäckschein vorfinden.«

»Nein –!« erwiderte Lutz. »Davon ist nichts zu sehen. Den Gepäckschein hat, falls überhaupt einer vorhanden war, so sicher wie zweimal zwei vier ist, das Frauenzimmer mitgenommen.«

»Haben Sie sonst noch etwas entdecken können, was uns die Feststellung der Person des Toten erleichtern könnte?«

»Ja –« meinte Lutz gleichmütig. »Nicht allzuviel zwar, aber immerhin manche Indizien, die aufgegriffen werden können. Den Namen des Mannes weiß ich noch nicht, glaube ihn aber heute nachmittag zu kennen. Von Beruf ist der Tote Artist. Dies scheint ohne alle Zweifel, und zwar ist er kein dritt- oder viertklassiger Artist, sondern in seinem Fach wohl ein Künstler. In welchem Fach er arbeitete? Darüber kann ich im Augenblick mit Bestimmtheit noch nichts sagen, Sänger ist er nicht. – Athlet auch nicht, auch bestimmt kein Musiker, wahrscheinlich – ich möchte sogar als sicher behaupten, haben wir es mit einem Bildhauer, Maler oder etwas Aehnliches zu tun. Weiterhin behaupte ich als bestimmt: Der Tote ist als das anzusprechen, was man gemeinhin einen gebildeten Menschen nennt und hatte das Unglück, sich in der allerletzten Zeit mit Lues zu infizieren. –

Keine großen Dinge – keine sensationellen Ueberraschungen, die mir die erste Untersuchung verraten hat, aber immerhin einige greifbare Anhaltspunkte zur Weiterführung der Ermittlungen. – Daß der Mann in Frankfurt gearbeitet und ab heute in Hamburg engagiert ist, scheint die gefundene Fahrkarte zu beweisen. Wir haben heute den ersten Juli. Mit den Frühzügen pflegen die Artisten – insofern sie keine allzugroßen Strecken zurückzulegen haben, meist erst nach ihrem neuen Engagementsort zu fahren. Sie sind am Ultimo durch die Schlußvorstellung mitunter noch bis in die Nacht hinein beschäftigt und benutzen die letzten Nachtzüge nur dann, wenn weite Entfernungen ein Opfern der Nachtruhe unbedingt erfordern.

Daß der Mann tatsächlich Artist ist, beweist seine Krawattennadel. Das runde, blaue Emailschildchen mit den goldenen Buchstaben I. A. L., Internationale Artisten-Loge, ist das Verbandsabzeichen, das die organisierten Artisten alle in irgend einer Form sichtbar tragen, sei es als Krawatten- oder Busennadel, oder als Plakette im Knopfloch. –

Der Mann war in seinem Fach bestimmt kein Stümper, denn er ist viel gereist und zwar auch – was für die Beurteilung dieser Frage das wichtigste ist – im Ausland. – Zweit- und drittklassige Artisten kommen aber über die Grenzen des Deutschen Reiches kaum hinaus. Die ganz neue Krawatte trägt das Firmenetikett ›Chicago-Klub Zürich‹, der Hut die Verkaufsfirma Fratelli Mutti in Milano, auf den Schlaufen seiner Schnürstiefel finden Sie den Namen eines bekannten Geschäftshauses in Frankfurt, der Kragen trägt den Aufdruck: Wenzel Czutak & Co. in Prag, sein Sportanzug ist in Kopenhagen angefertigt worden. – – –

Fahren wir fort. Der Mann ist kein Athlet, denn seine Arm-, Bauch- und Rückenmuskulatur ist zu wenig entwickelt, trotzdem die Bein- und Schenkelmuskulatur in ihrer starken Durcharbeitung bestimmt auf einen Reiter schließen lassen. Zu einem Sänger ist der Kehlkopf nicht genug ausgebildet und für einen Musiker sind die Hände nicht gepflegt genug. Die Nägel sind zwar sauber beschnitten, auch sonst nicht schmutzig, nichtsdestoweniger erkennt man deutlich Farbenflecken. Die Möglichkeit, daß wir es mit einem jener Schnellmaler zu tun haben, die häufig auf unseren Spezialitätenbühnen auftreten, kann daher als immerhin wahrscheinlich angesehen werden. – Die Annahme, daß der Tote als gebildeter Mensch gelten konnte, gewinnt Gestalt durch Betrachten des Buches, das ich in seiner Rocktasche gefunden habe. – Sehen Sie – her! Eine gebundene Ausgabe des »Urfaust« in Westentaschenformat, im allgemeinen keine Lektüre für geistige Proleten. Auch die saubere Unterwäsche und der gepflegte Körper des Mannes sprechen für meine Theorie. –

Wir verlassen jetzt das Abteil. Der Photograph ist mit seiner Arbeit ja auch zu Ende. – Hat einer von Ihnen noch eine Frage?«

»Ja gewiß Herr Doktor!« warf Rademacher ein. »Sie stellten vorhin die Behauptung auf, der Mann habe sich kurz vor seinem Tode mit Syphilis infiziert – – –!«

»Ach ja – richtig!«

»Ich habe nämlich« – fuhr Rademacher schnell fort – »irgendwelche Anzeichen an seinem Körper nicht entdecken können.«

»Doch«, erklärte Lutz bestimmt. »Die sind wohl vorhanden. Die Infektion ist wie gesagt noch zu frisch, um bereits über den sogenannten Primäraffekt hinausgegangen zu sein. Sie werden daher nach Pusteln oder anderen mehr oder weniger typischen Hautausschlägen, die erst im sekundären Stadium aufzutreten pflegen, vergeblich suchen. Hingegen finden Sie bei Betrachten der Unterlippe ein deutliches Ulcusgeschwürchen, zwar schon in der Rückbildung begriffen, aber immer noch sichtbar. Der Mann hat sich anscheinend sofort in fachärztliche Behandlung begeben und bekam auch bereits drei oder vier intravenöse Salvarsan- oder Merkurinjektionen. Die Einstiche der Injektionsspritze sind deutlich in der rechten Oberarmvene sichtbar, und noch ganz frisch. –

Die Entdeckung dieses Umstandes freut mich besonders, da durch eine Nachfrage bei Frankfurter Spezialärzten die Ermittlung der Identität des Toten vielleicht nur geringe Schwierigkeiten erfordert.«

Rademacher schien noch eine Frage auf den Lippen zu haben, aber Lutz, der dies wohl bemerkte, wehrte lächelnd ab.

»Nachher – lieber Rademacher! Wir haben augenblicklich zur Erörterung unserer Theorien keine Zeit. Manches wissen wir bereits, vieles noch nicht. Wir müssen weiter arbeiten. –« Und ohne eine Antwort des Kommissars abzuwarten, trat Lutz vor das durchschossene Fenster, prüfte nochmals das Kugelloch.

»Schade!« meinte er bedauernd. »Nach dem tötlichen Projektil zu suchen, wäre überflüssige Arbeit. Das Ackergestrüpp in einem Umkreis von 1000 Metern stempelt ein derartiges Bemühen zu einer Sysiphusarbeit. Wirklich schade! Die Kugel wäre ein Beweisstück von nicht geringer Bedeutung gewesen, denn – –!«, er prüfte nochmals das Loch in der Fensterscheibe, »die Durchschlagskraft des Geschosses war eine außerordentlich starke, das Kaliber auffallend klein. Aus einem Militärgewehr oder einem der bekannten Jagdmodelle, wurde das Geschoß nicht abgefeuert. Das kleine Kaliber ließe auf ein Tesching oder Flobert schließen, aber diese, an und für sich harmlosen Puffer haben, wenn Sie unter Umständen einen Menschen auch tötlich verwunden können, doch keinesfalls eine derartige Durchschlagskraft – –!«

»Seltsam ist auch«, warf Rademacher ein, »daß niemand einen Schuß gehört haben will.«

»Die Bekundungen der Zeugen wollen gar nichts bedeuten.«

»So nehmen Sie wahrscheinlich an, daß der Täter sich einer sogenannten Airrifle, einer Luftbüchse, bediente?«

»Nein!«, meinte Lutz nachdenklich, »eigentlich nicht. Diese amerikanischen Windbüchsen haben ein größeres Kaliber und tragen kaum weiter als 100-150 Meter. Ich glaube, daß die Kugel aus einem wenig bekannten Gewehrmodell mit richtiger Pulverladung abgefeuert wurde. Daß keiner der Zeugen eine Schußdetonation gehört haben will, besagt meines Erachtens gar nichts. – Vergessen sie nicht, daß zwei Bahnzüge neben einander auf den Gleisen stand. Der Lärm der beiden unter Dampf stehenden Maschinen, das Hasten und Rufen der Passagiere und des Bahnpersonals konnten bequem eine Schußdetonation, die an und für sich nicht allzu laut gewesen sein braucht, übertönt haben, außerdem ist der – übrigens mit einer fabelhaften Treffsicherheit abgegebene Schuß aus einer Entfernung von mindestens 350-400 Metern abgefeuert worden, ein Beweis für die Güte der Waffe und Treffsicherheit des Schützen. – Unsere Untersuchungen sind hier beendet –! Sie wissen, Herr Kommissar!«, wandte sich Lutz an den Friedberger Beamten, »daß alles unverändert bleiben muß, für Staatsanwaltschaft und Gerichtsarzt. Lassen Sie nach unserem Weggehen den Schuppen wieder fest verschließen und durch einen zuverlässigen Schutzmann bewachen. Unsere Ermittlungen erstrecken sich jetzt auf den mutmaßlichen Ort, von wo der Schütze seinen tötlichen Schuß abgefeuert hat.«

»Sie haben das Hotel Großherzog im Auge?« fragte der Friedberger Kommissar.

»Ja!«, erwiderte Lutz kurz und begann vorsichtig die steilen Treppen des D-Zugwagens wieder hinabzusteigen. Unten angekommen, fuhr er fort: »Meines Erachtens kommt kaum eine andere Oertlichkeit in Frage. Die oberen Zimmer des Stationsgebäudes liegen zwar ungefähr in der gleichen Richtung, aber doch zu weit nach rechts und sind auch zu niedrig, so daß die Abteilfenster der Züge von der Bahnhofshalle halb verdeckt werden. Außerdem weist die verlängerte Schußrichtung mit mathematischer Sicherheit nach einem Fenster des zweiten oder dritten Stockwerks im Hotel Großherzog von Hessen – –!«

Die Polizeibeamten und Lutz verließen den Schuppen, draußen schlossen sich die Zeugen an. Während Lutz, gefolgt von Rademacher, eilfertig über die Gleise sprang, gab der Friedberger Kommissar die notwendigen Anordnungen zur Sicherung der Tatstelle. Dann folgte er.


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