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Sechzehntes Kapitel

Auf der einfachen Bettvorlage lag der leblose Körper der Marva. Lutz ergriff die schlaff herabhängende Hand und horchte nach dem Herzschlag. Dann hob er ein kleines Fläschchen, das neben der Frau am Boden lag und noch einen kleinen Rest einer braunen, starkriechenden Flüssigkeit enthielt, gegen das Licht.

»Tot!« sagte er. »Vergiftet mit Morphium, und zwar erst vor wenigen Minuten. Der Körper ist noch warm.«

Hohenstatter blickte ernst in das noch im Tode schöne Gesicht der jungen Frau. Der lustige bunte Theaterflitter, den die Tote am Körper trug, kontrastierte unangenehm mit der düsteren, hehren Majestät des Todes.

»Wann haben Sie den Tod der jungen Frau entdeckt?« fragte Hohenstatter die Vermieterin, die erschüttert unter der Türe stand.

»Zwei Minuten, bevor Sie selbst kamen. Ich hatte Besorgungen in der Stadt und trat, ohne etwas Schlimmes zu ahnen, in meine Wohnung. Im Zimmer meiner Mieterin bemerkte ich zu dieser ungewöhnlichen Zeit Licht. Zu meinem Schrecken sah ich sie, anscheinend tot, am Boden liegen. Bevor ich noch einen Entschluß fassen konnte, läuteten Sie schon an der Türe.«

»Seit wann wohnt Frau Marva bei Ihnen?«

»Sie ist heute morgen eingezogen. Sie kam von Berlin, und ihre Effekten sind erst vor drei Stunden gebracht worden.« Die Vermieterin deutete auf einen großen, eleganten Koffer, der neben dem Spiegelschrank, dem schönsten Stück der einfachen Zimmereinrichtung, am Boden stand.

»Kannten Sie Frau Marva von früher?«

»Nein, Herr, sie kam heute zum ersten Mal zu mir, auf ein Inserat, das ich im Anzeiger hatte.«

»Das Gepäck ist beschlagnahmt,« erklärte der Inspektor und drehte sich zu Lutz um, der hinter ihm am Tische stand und einen Brief durchzulesen schien.

»Es liegt ohne jeden Zweifel Selbstmord vor,« sagte Lutz ernst. »Dieser Brief, den ich hier auf dem Tische vorfand, kann als unanfechtbarer Beweis gelten. Er ist übrigens inhaltlich außerordentlich interessant und lenkt jetzt, wo wir glaubten am Ende zu sein, die ganze Untersuchung in neue Bahnen.«

Der Inspektor nahm den Brief zur Hand und las laut vor:

 

Liebste G.

Triumphiere! Deine Rache kann befriedigt sein. Der arme Poldi ist tot und ich scheide freiwillig aus dem Leben. Ich habe ihn in den Tod getrieben – ich haßte ihn und – – ich liebte ihn doch, bis zu meinem letzten Atemzug. Ich kann ihn nicht vergessen und scheide jetzt aus dem Leben, um der Verhaftung durch die Polizei zu entgehen. Ich fühle mich als die Mörderin meines Mannes, wenn auch Georg den Schuß abgegeben hat, den ich aus Feigheit, oder war es Liebe zu ihm, die ich nie überwunden habe, nicht abfeuern konnte. Seine eigentliche Mörderin bin ich deshalb doch, und wenn ich mich dem göttlichen Gericht auch gerne unterwerfe, den weltlichen Gerichten kann und will ich keine Rechenschaft geben. Nenne es Feigheit – – – Ich kann nicht mehr – – – Ich will dies Leben nicht ertragen – –

Inge.

 

»Interessant ist auch der Umschlag,« sagte Lutz und reichte dem Inspektor ein einfaches, glattes, weißes Briefkuvert.

Es enthielt nur einen Teil der Adresse, nämlich das Fragment:

Frau G. Fig...

Hinter dem Buchstaben g setzte die Schrift brüsk ab, man sah deutlich, daß die Feder ausgeglitten und über den Umschlag gerollt war. Ihren Weg bis zur rot-weiß karrierten Tischdecke bezeichnete eine leichte Tintenspur.

Hohenstatter hatte den Umschlag besichtigt.

»Dumm!« sagte er, »daß die Adresse, – für uns das Wichtigste – fehlt. Warum mag die Frau plötzlich die Feder weggeworfen haben?«

»Die Tinte ist noch frisch, beinahe noch feucht,« antwortete Lutz. »Wahrscheinlich betrat Frau Kramer in diesem Augenblick den Vorplatz und die Unglückliche, in der Meinung, die Polizei schon auf den Hacken zu haben, griff nervös sofort zur bereitstehenden Giftflasche. – –«

Frau Kramer war an der Türe auf einen Stuhl gesunken und weinte leise vor sich hin, währenddessen untersuchten die Polizeibeamten ruhig, kühl und unbeirrt jedes Stück der einfachen Zimmereinrichtung.

Muschal öffnete zuletzt den großen Koffer der Toten mit einem Schlüssel, den er einer Schublade entnommen hatte. Er enthielt Wäsche, Kleider, Toilettegegenstände, ein paar Theaterkostüme und mehrere anscheinend harmlose Briefe und Postkarten.

Das einzige Beweisstück von Wert, das Lutz aus der Nachttischschublade herausholte, war ein Brief mit einer kräftigen männlichen Handschrift, der den Poststempel Zürich (Schweiz) trug und vor zwei Tagen an die Adresse » Frau Inge Marva, Zirkus Peltrini in Cassel« abgesandt worden war. Die Tote mußte ihn am Vormittag bei ihrer Ankunft auf dem Zirkusbüro in Empfang genommen haben.

Sein Inhalt lautete:

 

Liebe Inge!

Ich bin, wie Du siehst, in der Schweiz und kann daher zu Deiner Premiere nicht erscheinen, umso weniger, als ich selbst wieder in Engagement gehen muß, bis über die Sache Gras gewachsen ist. Mit Frau F. treffe ich mich in einigen Tagen hier, wir korrespondieren noch zusammen über den Zeitpunkt. Sobald die Geldfrage geregelt ist, wirst Du von mir hören. Schreibe mir unter G. H. 100 Hauptpostrestante Zürich. Es würde mich natürlich interessieren, wie sich Dein erstes Debüt angelassen hat.

Mit Gruß Dein Georg.

 

»Hier haben wir den Täter und seine Adresse,« sagte Lutz. »Das Netz zieht sich langsam, aber sicher über ihm zusammen. Noch fehlen mir die Einzelheiten des Verbrechens, auch das eigentliche Motiv kenne ich noch nicht, aber in wenigen Tagen weiß ich mehr.«

»Bleiben Sie noch hier?« fragte Inspektor Hohenstatter.

»Nein. Im Gegenteil. Wir fahren mit dem Nachtzug nach Frankfurt. Die noch frische Spur muß unverzüglich aufgenommen werden, umsomehr, als sie ins Ausland führt. Die Formalitäten hier sind Sache der Casseler Polizei.«

»Ich werde das Nötige veranlassen,« sagte der Inspektor. Sie erzählen mir vielleicht unterwegs den genauen Zusammenhang des Verbrechens, das ich nur in großen Umrissen kenne. Ein ausführlicher Bericht wäre mir erwünscht, weil die Durchsuchung der Effekten Marvas vielleicht noch mancherlei zu Tage fördert, was der Untersuchung dient.«

Die Polizeibeamten verließen mit einem letzten Blick auf die Tote, die, was sie auch im Leben begangen haben mochte, ihre Tat durch den freiwilligen Tod gesühnt hatte – das Haus in der Mönchebergstraße, und gingen langsam in der Richtung nach der Artilleriekaserne durch die Bremerstraße nach der Altstadt zurück.

Während Muschal den Inspektor ausführlich mit den Einzelheiten des Mordes und der Untersuchung bekannt machte, blieb Lutz ein wenig zurück und mit seinen Gedanken allein.

Als die vier den Königsplatz überquerten und gerade vor dem Hauptpostamt vorübergingen, blieb Muschal plötzlich stehen.

»Herr Doktor,« sagte er, »mir kommt da eben eine grandiose Idee! Nach allen Indizien, die vorliegen, heißt oder nennt sich der eigentliche Mörder Marguths Georg. Glauben Sie nicht, daß Georg Kreß, der Athletenschorsch, den wir in Frankfurt eingesponnen haben, Marvays Mörder war? Daß er in die Sache verwickelt ist, diese Sache scheint erwiesen, er weiß auch bestimmt mehr, als er sagen will, und der vorhin gefundene Brief, worin ein Georg des Mordes bezichtigt wird, könnte ihn doch schwer belasten.«

Auch Lutz hatte unwillkürlich seine Schritte gebannt.

»Nein, mein lieber Muschal,« sagte er nachdenklich. »Ihre Kombination in allen Ehren. Aber wie der Berufseinbrecher Kreß zu der bekannten Artistin kommen und intime Beziehungen zu ihr unterhalten konnte, ist mir nicht klar. – –«

»Nun,« meinte Muschal, »der Stil im Abschiedsbrief der ›schwarzen Pantherin‹ spricht schließlich nicht dafür, daß Frau Marva das Lyzeum besucht hat. Aus welchen Kreisen sie eigentlich stammt, wissen wir nicht.« –

»Mag alles stimmen, Muschal, und dennoch, in Bezug auf die Person des Mörders irren Sie bestimmt. Nichtsdestoweniger ist der Brief in anderem Sinne für uns außerordentlich wichtig, denn mit diesem Schreiben in der Hand, öffne ich meinem alten Freund Kreß morgen gewaltsam den Mund. Während Sie sich mit Herrn Inspektor Hohenstatter unterhielten, habe ich über die schwierigen, verworrenen Zusammenhänge des außerordentlich verwickelten Falles eingehend nachgedacht und bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß die Haupttriebfeder des Verbrechens, vielleicht die einzig Schuldige überhaupt, jene Frau ist, jene Frau G. F. in München, die uns nun bereits zum zweiten Mal in die Quere kommt. Zuerst bei jenem Meulenkamp in Frankfurt, der meines Erachtens mit dem Absender des Züricher Briefes identisch ist. Jetzt kreuzt sie als Empfängerin der Zeilen, die Inge Marva kurz vor ihrem Selbstmord schrieb, von neuem in einer sie außerordentlich kompromittierenden Weise unseren Weg.«

»Wer mag die Frau nur sein?!« fragte Muschal gedankenvoll.

Lutz gab die Antwort. »Nach allen vorliegenden Indizien eine Person, die Marguth von früher her kennt, ihn glühend haßt und anscheinend eine schwere Abrechnung mit ihm hatte. Ich kann mir nur denken ...!«

Er brach plötzlich ab und ein helles, triumphierendes Leuchten ging über sein bisher so ernstes, und nachdenkliches Gesicht.

» Ich glaube die Frau zu kennen –!«, sagte er wieder ganz ruhig.

»Das wäre ...?!«, fragte Muschal, konnte aber die Frage nicht zu Ende führen, da Lutz sofort in das Postamt stürzte und folgende Depesche an Herrn Oberst von Bodansky in Ingolstadt aufgab:

 

»Erbitte Drahtbescheid über Vorname und Mädchenname der verwitweten Frau Baronin von Rottsieper.
Lutz.«

 

Die Antwort kam postwendend.

Als Lutz am folgenden Vormittag von einer Besprechung aus dem Polizeipräsidium in seine Wohnung zurückkehrte, lag das Depeschenformular auf seinem Schreibtisch. Er riß es schnell auf und ließ sich dann befriedigt auf die Chaiselongue fallen.

Die Antwort lautete knapp, militärisch:

 

» Grace Figueirao.

Gruß Bodansky.«


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