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Neunzehntes Kapitel

Doktor Lutz saß im Sprechzimmer des Untersuchungsgefängnisses und wartete auf die Vorführung des Untersuchungsgefangenen Georg Kreß.

Das Verhör sollte für Lutz der letzte Versuch sein, wenigstens einen Teil der vollen Wahrheit zu erfahren, bevor die Ermittlungen nach dem eigentlichen Mörder, jenem Georg in Zürich, tatkräftig in die Hand genommen wurden.

Gelangweilt sah sich Lutz in dem öden Wartezimmer um.

Zwei hohe, vergitterte, vorhanglose Fenster, die auf den Gefängnishof führten, gekalkte, mit Wasserfarben bemalte Wände. – Ein einfacher Tisch aus Tannenholz mit einer zerschlissenen grünen Filzdecke und eine halberblindete Wasserflasche mit zwei Gläsern. Drei Stühle und der obligate, mit weißem Sand gefüllte Spucknapf, vervollständigten das Mobiliar. – –

Die Türe öffnete sich leise und Lutz, der am Fenster stand, drehte sich schnell um.

Der Athletenschorsch war eingetreten; ihm folgte ein Schließer des Untersuchungsgefängnisses, der hinter sich die Türe abschloß und schweigend auf einem Stuhl am Fenster Platz nahm.

Lutz winkte den Gefangenen an den Tisch und forderte ihn auf, Platz zu nehmen. Dann sah er ihm ernst prüfend in die Augen.

Der Athletenschorsch kam der Aufforderung sofort nach. Er freute sich im Voraus auf das Verhör, das die tötliche Langeweile des Gefangenenlebens unterbrach, und als er Lutz erblickte, konnte er ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken. Dr. Lutz war kein Menschenfresser, das wußte er, wenn es auch im gewissen Sinne gefährlich schien, sich dem gerissenen Detektiv rückhaltslos anzuvertrauen, da er eine Art hatte, mit der Miene des teilnehmenden Biedermanns gefährliche Fallen aufzustellen, in die schon mancher verstockte Sünder ahnungslos hineingetappt war.

Aber auf solche Mätzchen fiel er, Georg Kreß, längst nicht mehr hinein. Er kannte die »Brüder von der Polente« aus langer Erfahrung, und was er gerade von Lutz zu halten hatte, wußte er zu genau, deshalb war ihm der Grund des Besuchs auch sofort klar.

Schon bei der Festnahme, draußen in der Villa Degischer, hatte es Lutz mit seiner verkappten Liebenswürdigkeit versucht, ihm, dem Athletenschorsch, die Würmer aus der Nase zu ziehen, aber natürlich vergeblich. Wegen der sechs Monate, die sie ihm schlimmstenfalls aufbrummen konnten, pfiff er nicht, und ging lieber hoch. – Er wußte schon, warum er schwieg. – –

Trotz seiner Gerissenheit hatte Lutz natürlich nichts von Belang ermitteln können, und glaubte nun vielleicht, bei einem neuen Verhör das herauszulocken, was ihm beim ersten Mal nicht gelingen wollte.

Nun, da sollte er tüchtig anlaufen. – –

Lutz rechnete nach Meinung des Athletenschorsch auf die Wirkung der gleichmäßigen, tötlichen Langeweile des Gefängnislebens, die den verstocktesten Sünder mit der Zeit zermürbt und langsam aber sicher zu einem Geständnis reif macht.

Bei ihm sollte sich Lutz aber ganz gehörig getäuscht haben. Er hatte in seinem Leben schon soviel Knast geschoben, daß ein paar Tage Untersuchungshaft ihm nichts mehr antaten. – Er freute sich im stillen diebisch auf das enttäuschte Gesicht, das der superkluge Detektiv draußen schnitt, wenn er in wenigen Minuten unverrichteter Dinge mit einer langen Nase abzog.

Georg Kreß war bei bester Laune und folgte daher grinsend der Aufforderung des Detektivs, am Tische vor ihm Platz zu nehmen. Er freute sich auf die seiner Meinung nach äußerst kurzweilige Vernehmung, die nun beginnen mußte, aber er sah sich getäuscht, denn entgegen seiner sonstigen lustigen, beinahe liebenswürdigen, verbindlichen Art, setzte Lutz eine ernste Miene auf, die nicht nach Verstellung aussah, sondern durchaus echt wirkte.

»Wissen Sie, warum ich nochmals komme, Kreß?« fragte Lutz den Einbrecher.

»Des kann ich mer so ungefähr denke,« grinste dieser. »Sie wolle mich noch emol nach alle Regel der Kunst ausquetsche, awwer Sie werde kaa Glick hawwe, Herr Doktor, von mir erfahre Se nix.« –

Lutz sah den Sprecher mit seinen ruhigen, kühlen Augen ernst an.

»Lieber Kreß,« sagte er. »Ich glaubte, daß Sie mich doch ein wenig klüger einschätzten. – Wie lange sitzen Sie schon in Untersuchung?«

»Elf Dag!«

»Gut. Und haben Sie vielleicht angenommen, daß ich mich die zwei Wochen auf die faule Haut gelegt habe und Gott den guten Mann sein ließ? Halten Sie mich wirklich für so naiv – –?!«

Der Athletenschorsch zog es vor, die Antwort schuldig zu bleiben und sah mit neidischer Begierde zu, wie Lutz seiner Tasche eine gut aussehende Zigarre entnahm, sie umständlich anzündete und mit sichtbarem Wohlbehagen den blauen Rauch einzog.

Einen solch feinen Glimmstengel hätte der Athletenschorsch auch gerne gehabt. – Es war eigentlich an dem ganzen Knast das Schlimmste, daß man auf endlose Zeit hinaus den geliebten Tabak entbehren mußte. Der gottverdammte Gefängnisfraß war ja für einen, der besseres Futter gewöhnt war, auch schon arg genug, auch der Verzicht auf Bier oder Schnaps kam in den ersten Tagen schwer an, aber – du lieber Gott – an den Rumfutsch gewöhnte man sich, wenn es nichts besseres gab, und für das entgangene Alkoholquantum hielt man sich schadlos, sobald man aus dem Kasten kam. Da ging man morgens um 9 Uhr sofort einen Tüchtigen verlöten und hörte erst um Mitternacht steckensteif besoffen auf.

Aber Wochen und Monate keinen Tabak, keine Zigarre, keinen Priem, das war hart. – – –

Lutz entgingen die Gefühle, die sich auf dem Gesicht des Häftlings allzudeutlich abspiegelten, nicht.

»Sie möchten wohl auch gerne 'ne Zigarre rauchen, Kreß? Ich seh's Ihnen an. Sie kennen mich, wissen, daß ich nicht geizig bin. Dem Einbrecher Kreß hätte ich diesen Gefallen auch schließlich erweisen können und dürfen, aber bei dem Mörder Kreß liegt der Fall doch anders – – – Bitte keine Emotionen!« fuhr er schnell fort, als Kreß in die Höhe fahren wollte, »ich weiß, was ich sage, und nun, mein Junge, will ich Ihnen auch den Grund verraten, warum ich Sie heute nochmals aufgesucht habe. – –

Der Staatsanwalt kennt Sie nicht. Er urteilt nach den Tatsachen und vorliegenden Beweisen, während ich noch ein wenig das Gefühl mitsprechen lasse, weil ich Ihnen einen Mord aus kalter Ueberlegung offengestanden nicht zutraue, und gerne annehmen möchte, daß Sie im Affekt gehandelt haben. – Ich kann Ihnen vielleicht – – wohlgemerkt vielleicht – – helfen, aber hierzu ist ein offenes, rückhaltloses Geständnis die erste Bedingung. –«

Der Athletenschorsch, dessen Gesicht sich bei den einleitenden Worten des Detektivs sichtlich verfärbt hatte, gewann nun nach und nach die Ruhe wieder.

»Was erzähle Se mer da fer dummes Zeug!« brummte er unwillig. »Ich bin kaan Mörder, un uff Ihren Schmuß mag en größere Olwel ereinfalle als ich. Wenn Se mich mit der Angst verdumme wolle, um all des zu erfahre, was Se noch net wisse, dann müsse Se sich en dümmere Kerl aussuche, wie ich aaner bin –!«

» Ihr Scharfblick ist phänomenal,« sagte Lutz spöttisch, »aber es wäre um meinen Scharfblick doch recht traurig bestellt, wenn ich nach elf langen Tagen das Verbrechen nicht längst aufgeklärt hätte. Ich weiß, daß der Erschossene ein Artist namens Lugos Marvay ist, und ich kenne auch die Anstifterin zu dem Verbrechen, jene Frau Grace Figueirao in München, deren Name Ihnen vielleicht nicht einmal bekannt ist. Sie sehen, mein Junge, ich weiß mehr als Sie. Dem Toten sollten Dokumente von größter Wichtigkeit abgenommen werden, die aber nicht gefunden wurden, deshalb suchten Sie zweimal die Wohnung des Bildhauers, allerdings ohne jeden Erfolg, auf, bis Sie beim dritten Mal verschütt gingen. Die Dokumente befinden sich auch heute noch nicht in der Hand jener Frau Grace, sondern ich besitze sie. Was das für Sie bedeutet, wäre Ihnen vielleicht klar, wenn Sie den Inhalt der Dokumente kennen würden. – –

Ich weiß ferner, daß Sie auf Marvay einen Mordversuch verübten, aber eine gehörige Abfuhr verpaßt haben, und – ich weiß noch mehr. Ich glaubte zuerst, der eigentliche Mörder, der Marvay vom Fenster des Hotels Großherzog in Friedberg erschoß, sei seine eigene Ehefrau, ich muß mich aber jetzt vor den Beweisen beugen, die inzwischen gesammelt wurden, und heute weiß ich, daß Sie nicht nur der Beihilfe am Mord, sondern des Mordes selbst überführt sind. Ich hielt Sie zuerst für jenen Komplizen des eigentlichen Täters, der in der Uniform eines Depeschenboten Marvay an das Zugfenster lockte, seit vorgestern halte ich die unumstößlichsten Beweise in Händen, daß niemand anders als Sie, den tötlichen Schuß abgegeben hat. – Sie sehen, Verehrtester, ich tappe längst nicht mehr so sehr im Dunkel, wie Sie angenommen haben und – wie es für Sie gut wäre – –!«

Das freche, überlegene Grinsen verschwand aus dem Gesicht des Athletenschorschs, in dem Maße, wie Lutz mit seiner Erzählung fortfuhr. Als der Detektiv geendet hatte, war jede Farbe aus dem ungesunden, verlebten Gesicht des Verbrechers gewichen und keines Wortes mächtig, starrte er sein Gegenüber mit großen angstvollen Augen an. –

Lutz stand brüsk auf. »Spielen Sie hier doch keine Komödie«, sagte er kurz. »Stegemann vom Schauspielhaus könnte an Ihrer vorzüglichen Mimik noch Studien machen. Das Erschrecken markieren Sie großartig. Aber Ihr Leugnen nützt Ihnen nichts mehr. Gegen die schriftliche Denunziation von Marvays Frau, die Sie als Mörder angab, kommen Ihre Unschuldsbeteuerungen, und mögen sie noch so glaubhaft herausgebracht werden, nicht auf – –«

Der Athletenschorsch hatte die Hände zu Fäusten geballt, seine stieren Augen traten fast aus ihren Höhlen und der Atem entrang sich pfeifend seiner Brust.

Er erhob sich halb von seinem Stuhl und sagte gepreßt:

»Ich – ich – – soll der Mörder – – Marvays sein – –?!«

»Sie sollen nicht nur, sondern Sie sind es! Wir haben das schriftliche Geständnis der Frau Marvay, die im letzten Augenblick unfähig war, den tötlichen Schuß abzufeuern und Ihnen die Flinte in die Hand drückte. Gegen diesen Kardinalbeweis kommen – ich wiederhole es Ihnen nochmals – Ihre Unschuldsbeteuerungen nicht auf, und wenn Sie ein noch besserer Schauspieler wären – –!«

Kreß kniff die Augen zusammen und richtete einen lauernden Blick auf sein Gegenüber.

»Herr Doktor,« sagte er wieder ziemlich beruhigt. »Verkaafe Se mich doch net fer dumm! Ich waas genau, daß ich kaan Mörder bin, und niemand werd mer des Gegeteil beweise kenne –!«

»Es ist schon bewiesen!« erwiderte Lutz kalt. »Ich kann Ihnen das schriftliche Geständnis der Frau Marvay vorlegen –!«

»Das ist dann erstunke un erloge!« rief der Athletenschorsch wütend aus, »un ich dreh dem Weibsbild den Krage um, sobald ich wieder aus dem Kittche herauskomm. Dadruff kenne Se Gift nemme!« –

»Zu einer zweiten Bluttat haben Sie wohl kaum Gelegenheit; denn da auf einen Mord die Todesstrafe steht, werden Sie die Gefängnismauern nicht mehr lebend verlassen. Ganz abgesehen von dieser immerhin schwerwiegenden Tatsache, kämen Sie bei Frau Marguth zu spät, denn vorgestern, kurz bevor sie in Cassel verhaftet werden sollte, beging sie Selbstmord, hat aber vor ihrem Tode ein schriftliches Geständnis abgelegt und Sie, Kreß, als den Täter ausdrücklich bezeichnet – –!«

»Und dieses Geständnis besitzen – – Sie – –!?«

»Gewiß, ich habe es Ihnen sogar mitgebracht, und zwar im Original, damit Sie sich persönlich überzeugen können, wie es um Sie bestellt ist.« – –

Lutz entnahm seiner Mappe den Abschiedsbrief der Marva und reichte ihn dem Einbrecher über den Tisch, der mit zitternden Händen zugriff.

Beim Lesen der Zeilen wurde der Athletenschorsch erschreckend bleich. Seine Brust hob und senkte sich unter den schweren Atemzügen und dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirne. Dann ging ein leises Zittern durch seinen von allerlei Ausschweifungen in baccho et venere entnervten Körper, und mit einem leisen, ächzenden Wehlaut sackte er in seinem Stuhl zusammen.

Der Gefängnisbeamte sprang sofort zu, aber Lutz winkte ihm mit den Augen ab. Der Einbrecher tat ihm selbst leid, aber im Interesse der Aufklärung des Falles Marvay durfte er keine Weichheit aufkommen lassen, deshalb sagte er nur mit höhnischer Kälte:

»Ja, Kreß, so geht es immer. Auf die größte Frechheit folgt stets Kleinmut und Verzagtheit. Aus Ihrem ganzen Benehmen spricht die Angst um das verpfuschte Leben, das Schuldbewußtsein prägt sich allzu deutlich in Ihren Zügen aus. Ich hätte, wie gesagt, dem Einbrecher Kreß, besonders dem geständigen Einbrecher, meine Hilfe nicht versagt, aber der Mörder gegen schnöde Bezahlung widert mich an, wie ein ekles Getier. Und einen Lumpen wie Sie, in Schutz nehmen, oder gar vor der wohlverdienten Strafe schützen, hieße Gott lästern. Ich habe mit Ihnen nichts mehr zu tun, das Weitere ist Sache des Schwurgerichts – –!«

Bei diesen Worten drehte er dem Athletenschorsch schroff den Rücken und sagte kurz zu dem Gefängnisaufseher: »Führen Sie den Untersuchungsgefangenen Kreß wieder in seine Zelle zurück.«

Aber wie von einer Viper gestochen, sprang der Einbrecher auf und rannte vor die verschlossene Türe, die er mit seiner breiten Figur versperrte.

» Nein!« – schrie er gequält. »Nein! So dürfe Sie net von mir gehe. Ich bin unschuldig – –! Ich hab's net getan. Sie müsse mich anhöre – – –!«

»Müssen?!« fragte Lutz verächtlich. »Nicht daß ich wüßte. – Vorhin noch verweigerten Sie stolz und frech jede Aussage. Jetzt soll ich gezwungen werden, Ihr Gefasel und Ihre Lügen anzuhören. Ich bedanke mich dafür. In wenigen Wochen wird die Anklage wegen Mordes gegen Sie erhoben werden, und den Richtern mögen Sie erzählen, was Sie an Entschuldigungsgründen vorzubringen für notwendig erachten. Es wird zwar nichts nützen, denn dieses Dokument hier ist zu echt, um Sie vor dem Schaffott bewahren zu können, aber die Geschworenen werden Ihre faulen Ausreden nolens volens anhören müssen, denn das gehört zu ihrem Geschäft. Ich bedaure die armen Leute heute schon. Ich bin hier fertig. – – Guten Morgen – – Geben Sie gefälligst die Türe frei – – –!«

Doch da geschah etwas Unerwartetes. Der große starke Mensch fiel laut aufheulend vor Lutz auf dem Boden nieder und umklammerte flehend seine Knie.

»Heilige Mutter, steh mir bei – –!« winselte er. »Lieber guter Herr Doktor! Sie müsse mich anhöre, Sie dürfe net fortgehe. – Ich war's net – – bei allem, was mer noch heilig is – – ich hab Marvay net erschosse – – ich – – ich versteh die Schurkerei von der Frau net, mich zu denunziere – – ich bin kaan Mörder, – – ich hab im ganze Lewe noch kei Gewehr in der Hand gehabt – – ich war nie beim Militär – – und – – ich war's net – Herr Doktor – ich war's net!« –

Georg Kreß ließ die Knie Lutz' frei und schlug schwer zu Boden. Den Kopf hatte er in die Hände vergraben und schluchzte jämmerlich wie ein kleines Kind.

Lutz wurde weich. Er hatte den Verbrecher so weit, wie er ihn brauchte, und durfte einer Mitleidsregung jetzt nachgeben. Aber es galt das Eisen schmieden, solange es warm war. Sentiments konnte er im Exekutivdienst der Kriminalpolizei nicht aufkommen lassen, sonst verlor er selbst den Boden unter den Füßen.

Er winkte den Aufseher heran, der Kreß mit sanfter Gewalt vom Boden hochzog und ihn in einen Stuhl neben Lutz drückte.

Dieser hieß den Athletenschorsch mit einer kurzen, unliebenswürdigen Bewegung Platz nehmen, einer Aufforderung, der Kreß wie ein geprügelter Hund willenlos nachkam, dann sagte Lutz in markiert gelangweiltem Ton:

»Sie appellieren an meine Gutmütigkeit! Einverstanden, ich will Sie anhören. Also erzählen Sie in Gottes Namen, welche Rolle Sie Ihrer Meinung nach in der Mordsache Marguth gespielt haben wollen. Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, daß Schwindelgeschichten nicht verfangen und Ihre Situation nur noch unnütz verschlechtern. Wir wissen selbst zu viel, um nicht in der Lage zu sein, die Spreu vom Weizen zu trennen. Bei der ersten Lüge oder Entstellung lasse ich Sie stehen und verlasse das Zimmer. – Sie geben also zu, an dem Verbrechen, begangen an dem Artisten Marvay, beteiligt gewesen zu sein?«

Der Athletenschorsch hatte sein rotweiß kariertes, schmieriges Taschentuch gezogen und wischte sich damit über Kopf und Stirne.

»Ja!« sagte er aufatmend, »das geb ich zu, aber ich hab Marvay net ermordet.«

»Wer denn?!«

»Soviel ich weiß, sei eigen Frau, die sich ein' Tag vorher im Hotel Großherzog einquartiert und jetzt im Brief geschriwwe hat, ich wär's gewese. Und das, Herr Doktor, ist net wahr. – Ich hab das Telegramm an den Zug gebracht – kann also net zu gleicher Zeit im Zimmer gewese sei. Un außerdem, ich kann net schieße. – Ich war nie bei die Preuße, (beim Militär) und hab im ganze Lewe kei Gewehr in der Hand gehabt. –«

»Erzählen Sie mir ganz genau und wahrheitsgetreu, wie Sie überhaupt in die Sache verwickelt wurden und was Sie bewog, an dem Verbrechen gegen Marvay, der Ihnen doch nie etwas zu Leid getan hat, tätig mitzuwirken –?!«

»Das kam so, Herr Doktor: Am 12. April wurd ich aus Preungesheim (Strafanstalt) entlassen. Neun Monat hat ich gesesse un war natierlich ohne Verdienst. Dazu hat ich Pech gehabt mit meiner Braut, der blonden Paula, die von der Sitte gekappt worde is. In meiner Penne hawwe se mer die Uhr geklaut, so daß ich net emol was zum verkloppe gehabt hab. Kurz und gut, ich war schwer im Druck. – – An ehrlich Arweit kommt unseraans net mehr so leicht, des wissen Se ja auch, un ich war widder emol in der recht Stimmung, e Klingelfahrt (Wohnungseinbruch) zu mache, denn,« fuhr er mit einer entschuldigenden Miene fort, »mer kann doch schließlich net verhungern, und den Louis markiere wollt ich aach net, darin hab ich früher schon e Haar gefunne. Da kommt eines Tages der Bulldoggfranz in die Wertschaft zum Glicksrädche in der Einhorn gaß, wo ich grad en Schoppe gedrunke hab, un nemmt mich beiseit. ›Ob ich e duftes Ding drehe wollt, wo viel Masumme zu verdiene wär‹ frägt er. Ich frag: ›Is die Sach aach Lampefrei (ungefährlich)?‹ ›Wie mers nimmt‹ gibt er zur Antwort, ›es kimmt uff dei Intelligenz aa, jedenfalls is dabei gehörig Kies zu verdiene.‹«

»Wann fand diese Unterredung statt?« fragte Lutz.

»Es war so korz nach dem 1. Juni. Ich habe natierlich den Bulldoggfranz gefragt, warum er den Massematten (Geschäft) net selbst macht, un da meint er, daß er mit seim Hundeverkauf genug verdient un froh wär, wenn er mit der Polente ebe nix zu tun bekommt. – –

In meiner Situation gab's net viel zu iwwerlege, un ich sag halb ja, wollt mer awwer den Massematten erst vorher belinse.

›Dann komm mit,‹ meint der Franz.

Mer ginge zusamme in e Wirtschaft in der Gelnhäusergaß, und da sitzt en fremder, sehr anständig angezogener, besserer Herr, glatt rasiert und von feine Maniere. Der erklärt mer den Massematten.

Er erzählt, daß er im Auftrag von einer feinen Dam handelt, die vor e paar Jahr emol en Fehltritt gemacht hat un von ihrem Liebhaber, der en großer Schuft wär, sitze gelasse worde is. Das schlimmste is awwer, daß der Kerl Papiere und andere Dokumente hat, die die hochstehende Frau jederzeit gesellschaftlich ruiniere könne. Ich soll fer ihn nun die Papiere klaue. Bring ich die Papiere, krieg ich 5000 Mark, bring ich aber die Papiere, un mach den Kerl dabei kalt, dann krieg ich noch 10 000 Mark extra. Sie können sich denke, Herr Doktor, daß bei meim Dalles 5000 Mark allerhand Geld war, des hab ich aach glatt gesagt, aber sofort erklärt: ›Blut gibt's net. Klaue einverstande, awwer steche oder schieße, nicht in die Lamäng.‹ Lieber soll en Anderer des ganze Geschäft mache. Der Mann war schließlich aach so zufridde un wir wurde einig. Ich frag, wo der wohnt, dem ich die Papiere klaue sollt, un ob ich Schränkzeug (Einbruchswerkzeug) brauch, da sagt der Herr: ›Der Stromer, wo die Frau vor Jahren verfiehrt hat, wohnt in einer Villa hinterm Palmegarte, er ging jeden abend spät iwwer die einsam Zeppelinallee nach seiner Wohnung, da sollt ich ihm achtpasse, eine auf's Toupet gewwe, und die Papiere, die er immer in der Brieftasch bei sich trägt, abnemme. Was in der Brieftasch sonst noch wär, an Geld, sollt mir gehöre, außer die 5000 Em, die sofort nach dem Geschäft ausgezahlt würden.‹«

Lutz unterbrach den ausschmückenden Bericht seines Nachbars nicht, er hörte äußerlich gelangweilt, aber in Wirklichkeit mit allergrößtem Interesse zu. Der Athletenschorsch fuhr fort:

»Der Fremde gab mir 200 Mark Vorschuß, dafür sollt ich mir neue Kluft, Hut un Stiwwel kaafe und punkt 6 Uhr nach Herrn Hermann im Hotel Wartburg auf der Kaiserstraß frage. Abens bin ich dann von Herrn Hermann, das war der Mann selbst, ins Schumanntheater mitgenomme worde. Die zweite oder dritte Nummer war ein Schnellmaler, der mit e paar Strich den Kaiser Wilhelm, Napoleon, Bismarck und andere patriotische Fürstlichkeite gemalt hat.

›Des is der Mann,‹ hat mir mein Nachbar zugewispert. Ich hab aufs Programm geguckt: Lugos Marvay hieß er. Nach seiner Nummer sind wir weggegange und hawwe vor der Tür zum Künstlereingang uffgepaßt. Nach knapp zehn Minute kam Marvay und ging die Hohenzollernstraß nach der Zeppelinallee hinauf. Wir zwei in einiger Entfernung hinterher.

Als Marvay schon e Stick in die einsam, leer Zeppelinallee eingeboge war, hat Hermann gesagt, er wart auf einer Bank, ich sollt mache, daß ich an die Arbeit käm. Ich mach hinter Marvay her, awwer ich hatt kei recht Gelegenheit ihn zu packe, denn die Zeppelinallee sah nur leer aus, in Werklichkeit saß uff jeder Bank en Dienstbolze von die benachbarte herrschaftliche Häuser, un hat sich von seim Schatz abknutsche lasse. Ich mußt also warte, bis wir die Allee hinner uns hatte, awwer scheinbar hat Marvay Verdacht geschöpft, denn er ging von selbst aus der Allee heraus, und wie ich schnell nach mach, steht er mitte auf der Straß un läßt mich an ihn komme.

›Was rennen Sie mir dauernd nach?!‹ brüllt er mich an.

Ich faß mein Stecke fester und sag frech, des ging ihn en Dreck an, und bevor ich noch gemerkt hab, was eigentlich los ist, haut er mir mit der geballt Faust eine uff den Unterkiefer. Ich sag Ihne, Herr Doktor, der Schlag war net von Pappe, un beinah hätt ich mer die Zung abgebisse. Ich flog, so lang ich war, mitte uff den Asphalt, un wie ich mich widder in die Höh mach, war Marvay verschwunde.

Hermann war wütend, als ich ihm mein Mißgeschick erzähl. Ich erinner mich gar net mehr, was er mir all für Grobheite an den Kopf geschmisse hat. En Olwel und e Rindvieh mit Eichelaub un Schwerter un e Mordskamel wäre noch die größte Höflichkeite, dann sagte er: ›Auf die Art geht's net.‹ Ob ich gut klettern könnt? Ich werf mich in die Brust. ›Kunststück!‹ sag ich. ›Umsonst nennt man mich net den Athletenschorsch.‹ ›Gut,‹ sagt er, dann komme Se morge widder, um sieben Uhr ins Hotel.‹ Am anderen Tag bekam ich dort gut zu picke, auch e Flasch feinen Wein hat er spendiert, dann gab er mir fer alle Fäll en Revolver und sagt: ›Der Marvay wohnt in der Georg Speyerstraße, bei einem Freund, wo Bildhauer is. Sein Zimmer liegt im erste Stock nach dem Garte zu und is für ein tüchtige Turner ohne Schwierigkeit zu erreiche, weil er am Rebegeländer in die Höhe steige kann.‹

Wir ware dann noch zusamme im Café Ruhland in der Grott, und sind gegen ½11 Uhr in die Georg Speyerstraß gemacht.

Von hinte hat er mir das Fenster gezeigt, wo Marvay wohnt und mer anbefohle, wenn alles dunkel is, dort einzudringen, alles was von Papiere vorhände sei, einzupacke und mitzubringe, und er hat mer auch e Pechpflaster gegewe, für alle Fäll, un e Fläschche mit einem Stuck Tuch. E paar Tropfe von der Flüssigkeit sollt ich auf den Lappe schütte und Marvay auf Nas' und Mund lege, falls er im Bett is und schläft. Er wär dann auf drei Stunde betäubt.

Ich bin übern Zaun geklettert, langsam aufs Haus zugeschliche und am Rebegeländer, was direkt nebe dem Fenster war, hochgeklomme.

Das Zimmer war verdunkelt, aber am Schreibtisch brannt e kleines Nachtlämpche, und vor dem Schreibtisch saß Marvay. – Er hatt nebe sich am Tisch e Dippche mit einem weißen Brei, wahrscheinlich Gips, und in der Hand e Gipsfigur, und war grad im Begriff, in den Boden ein Loch zu bohren. Ich war neugierig, was er macht und guckte zu, denn einsteige konnt ich, solange er wach war, doch net. Als das Loch groß genug war, holt er aus seiner Tischschublade e kleines, flaches Paketche, steckt's in die Gipsfigur und schmiert' das Loch widder mit dem Gipsbrei zu. Dann hatt er die Figur auf den Schrank gestellt.

Wie ich mich vorlehn, kracht plötzlich unner mer am Geländer e Steig, un in der Angst, daß ich erwischt werd, bin ich schnell herabgesprunge und hab mich hinter einem Baum versteckt. – –

Es kam zwar niemand, aber ich hat zum Einbruch kein rechte Fiduz mehr, bin zu Hermann, der in der Zeppelinallee auf mich gewart' hat, zurück, un hab ihm alles haargenau erzählt.

Erst wollt er widder schimpfe und hat gesagt, ich wär ebe so feig, wie ich lang wär, aber er war von der Beobachtung, die ich gemacht hab, doch anscheinend hochzufridde, denn er hat gesagt: ›Es is gut‹ und hat mer 100 Meter gegewwe. Dann meint er, die Gipsfigur wär das, was er sucht, und ich sollt jetzt heim gehe: wenn er mich widder braucht, würd er mich hole – – –!«

»Können Sie diesen Hermann näher beschreiben?« unterbrach Lutz den Bericht.

»Ja, er war groß, so groß wie Sie, aber breiter, e Gesicht hat er gehabt, wie en Schauspieler, mit viel Falte un dunkelblondes Haar. Beim Lese trägt er en Zwicker, also so gar jung war er auch net mehr, vielleicht 45 bis 47 Jahr.«

»Sprach er hiesigen Dialekt?«

»Nei, der Sprach nach war er en Preuß.«

»Also, ein Norddeutscher, wollen Sie wohl sagen?«

»Ja, Herr Doktor.«

»Nun, und was geschah weiter?«

»Ich hab vierzehn Tag nix mehr gehört und war offegestande gar net bös driwwer, denn die Sach kam mer net koscher vor. Gegen Ende Juni krieg ich aber uff emol en Brief von Hermann, ich sollt am 29. um 8 Uhr widder ins Wartburghotel komme. Außer Hermann war auch e Frau da, ein hübsches, strammes, rassiges Weib. Wie ich aus der Unterhaltung gemerkt hab, war es Marvay sei frühere Frau, die er scheinbar auch schlecht behandelt hat, denn sie war auf ihn schwer gelade. Mit Hermann war sie sehr intim, die zwei hawwe sich geduzt.

Hermann erzählt mir nun, daß seine Auftraggeberin allerdings nach wie vor den größte Wert auf den Besitz der Papiere legt, awwer, da sich die Verhältnisse geändert hätte, noch mehr drauf sieht, daß Marvay mit weggeputzt wird. Ich bekäm 15 000 Mark, wenn ich die Sache über nehme würd. – –

Ich hab mich awwer entschieden gewehrt. Ich geb Ihne mei Ehrenwort, Herr Doktor, es ist wirklich wahr, was ich Ihne verzähl, Gannefe hab ich gesagt – gemacht, aber ohne Messer. –

›Sie krieje 15 Mille!‹ hat Hermann gesagt. ›Und wenn Se mer hunnert gewwe,‹ sag ich – ›ich mach's net.‹

›Wenn Sie uns verpfeife, Sie Hund!‹, knirschte Hermann tückisch, ›dann sind Sie morgen ein toter Mann!‹

›Oho!!‹, meinte ich, mit so'n Ton dürfte er mir net komme, oder ich geh sofort zum erste beste Schmier (Polizist) un laß ihn hochgehe. –

Da lenkt er ein. Er sagt, daß er mir schon traut und wenn ich mich eben weigere, dann muß ein anderer die Sache tum.

Die Frau war bisher schweigend nebe uns gesesse, jetzt springt se auf und sagt: ›Dringe in den Mann nicht weiter. Ich mach's!‹ Ich war platt. Als Mörderin konnt ich mer die Frau net vorstelle, auch Hermann hat die Sache anscheinend net ernst genomme. ›Geh weg, du!‹ sagt er höhnisch. ›Bis es drauf und dran kommt, dann geht dein Mut wieder in die Unterbuxen!‹

Nein!‹ zischt die Frau wie e Kreuzotter, un ihre schwarze Auge funkeln wie zwei Kohle. ›Ich tu's bestimmt. Der Lump hat mir zuviel angetan. Nach allem, was mir Grace gestern wieder erzählt hat, bin ich zum explodieren geladen. Ich mach's – – –!‹ Damit war die Unterredung beendet.

Am nächsten Tag hat mich Hermann wieder bestellt, und wir hawwe die Sach besproche. ›Unser Plan is fertig‹ sagt er, ›und Sie krieje Ihr 5000 Emcher, auch ohne Diebstahl und Mord.‹

›Das läßt sich höre‹ sag ich, ›Was hab ich dabei zu tun?‹

Hermann erklärte nun folgendes: Marvay ist ab 1. August in Hamburg engagiert und fährt mit dem Schnellzug um 9 Uhr morgens hier ab. Seine frühere Frau reist schon am Abend vorher, mit Hermann zusamme nach Friedberg, ins Hotel Großherzog, wo Hermann e Stell als Kellner angenomme hat, die er am 1., das heißt am 31. abends, antritt. Meine Arbeit bestehe nun darin, daß ich am 1. morgens, wenn der Zug einläuft, in Postkluft als Depescheträger e Telegramm für Marvay ausrufe soll, er kommt dann ans Fenster und sei Frau schießt ihm, hinter dem Vorhang des Hotelzimmers versteckt, e Kugel in den Kopp. –

Ich hat so allerlei Bedenke. Erstens, ob die Frau auf die Entfernung auch sicher trifft, und dann könnte der Knall doch alles verrate.

Da fängt Hermann an zu lache. ›Wenn Se sonst keine Sorgen haben‹ sagt er, ›bin ich schon zufrieden. Die Dame, Marvays frühere Frau, ist eine berühmte Kunstschützin, die auf dreihundert Meter Entfernung eine Glaskugel vom Springbrunne runter schießt, und wege dem Knall bräucht ich mer aach kei Gedanke zu mache, denn sie schießt mit einem ganz neu erfundene chemische Gewehr, das lautlos ist. Hauptsache für mich wär, daß ich den Namen Marvay so laut ausruf, damit er ans Fenster kommt, und vor allem dürft ich ihn, wege dem sichere Schuß, nie mit meiner Figur verdecke.‹ – –

Ich war einverstande, fuhr am 1. August mit dem Frühzug nach Friedberg und ging als Gast ins Hotel Großherzog von Hesse.

Hermann war dort in Kellnerkluft, und ich hätt beinah laut aufgelacht, wie ich ihn als Trinkgeldritter hab herumstiwwele sehe. Awwer er hat sei Roll prima gespielt. Wir zwei wäre zeitweis ganz allei im Frühstückszimmer, und da gab er mir e Depesch mit der Adreß Lugos Marvay, im D-Zug 123, Station Friedberg. Alle Achtung, vor dem Gauner! – Die Depesch war großartig gefälscht. – –

Ich hab wieder Bedenke gehabt. Wenn mer die Depesch bei dem Tote findet, merkt die Polente sofort den ganze Krampf.

Da sagt Hermann grinsend: ›Beruhigen Sie sich. So klug wie Sie sin wir auch. Man wird keine Depesche, kein Gepäck, keinen Gepäckschein, überhaupt nichts, gar nichts bei ihm finde, was ihn legitimieren könnte. Hier im Paket is eine Postuniform mit Kapp, die ziehn Se im Bahnhofsklosset an und warte dort, bis der Zug einläuft, dann springen Se, sofort wie der Zug hält, auf die Wage dritter Klasse zu un halte sich immer außerhalb der Schußlinie. Wenn Se Ihr Depesch los geworde sin, halte Se sich kein Moment überflüssig auf, geh'n ins Bahnhofsklosset zurück, ziehn sich um und reise, ohne sich um was anderes zu kümmern, mit dem nächste Zug zurück. Alles andere geht Sie nichts an. Hier sind Mark 1000, den Rest von Ihrem Geld kriegen Se morgen in Frankfurt‹ – –

Alles klappte großartig, genau wie es besproche war, Herr Doktor – –. Ich zog mich so schnell wie möglich wieder um, ging dann vorsichtshalber zu Fuß nach Nauheim, un bin mit dem nächste Personezug zurückgefahre.«

»Haben Sie gesehen, wie Marvay erschossen wurde?«

»Nei, Herr Doktor, so wahr ich hier vor Ihne sitz, ich war's net, un hab auch nix gesehe. Ich bin, sobald ich mei Depesch losgeworde bin, schleunigst verschwunne, denn ich hat en große Bammel gehabt, es könnt am Schluß doch noch schief abgehe. – –

Am nächste Morge las ich dann die Zeitunge, und da stand drin, daß ein Mann, dessen Name man net kennt, und bei dem die Behörde iwwerhaupt nix zur Feststellung der Indendividät gefunne hält, erschosse morde wär. Da wußt ich erst, die Sach is geklappt. Dann hab ich später gelese, daß Sie die Unnersuchung führe. Oh weh! hab ich gesagt: Schon reingetrete ...!«

Lutz unterdrückte nur mit Mühe ein lautes Auflachen.

»Was wollen Sie mit dieser Bemerkung zum Ausdruck bringen?«

»Na – – ich wollt sage – schon reingetrete, – schon faul. Ich hab mich daher, wie ich Ihr'n Name gelese hab, mäuschestill verhalte, un da niemand kam und mer mein Kies gebracht hat, haw ich mich zwar geärgert über den Nepp, war aber annerseits doch froh, daß ich von der Sach nix mehr gehört hab.

So gege den dritte oder den vierte August bekomm ich auf einmal ein Brief von Hermann, der mich wieder ins Hotel Wartburg bestellt. Ich ging hin.

›Servus, Kreß‹ sagt Hermann. Mer brauche Se noch emal. Vor allem nehme Se mal hier Ihr Honorar.‹ – Honorar hat er gesagt, Herr Doktor. – ›Marvay is im Zug erschosse worden, alles hat geklappt, eine Dame, es ist die Frau, wo unsere Auftraggeberin war, fuhr im gleiche Zug mit, hat sich durch ein sehr gerissene Trick des Gepäckscheins bemächtigt, und in Hamburg Marvays Klamotte abgeholt. Im Koffer Marvays hat se zwar die Gipsfigur gefunne, – – awwer die wichtige Papiere wäre net drinn. Auch war nix davon zu bemerke, daß die Gipsfigur angebohrt war.‹

›Herr Hermann‹ sag ich, ›Ich bin kaan Olwel, was ich mit eigene Auge gesehe hab, weiß ich. Ich war kaum zwei Meter von Marvay entfernt, als er vor meine Auge das Päckche in die Gipsfigur gesteckt, und sie widder mit Gips zugeschmiert hat.‹

›Man hat aber in der vollständig unbeschädigten Gipsfigur nix gefunne.‹

Ich hab nachgedacht und sag: ›Dann müsse ebe zwei Gipsfigure existiere, und die falsch lag im Koffer, während die richtig noch hier, wahrscheinlich in der Wohnung von dem Bildhauer, irgendwo versteckt ist.‹

›Sie sind ein fabelhaft intelligenter Bursche,‹ sagt Hermann. Mit Ihne macht das Arbeite direkt Spaß. Sie müssen sehen, daß Se die richtig Gipsfigur beibringe, und zwar so schnell wie möglich. – Sie krieje noch emal 5000 Mark. Wollen Sie?‹

›Ja,‹ sag ich, ›jetzt, wo ich mit dem Kaut (Messer) net mehr zu arweite brauch, jederzeit. Makkener (Dieb) ja –! Aber Kantmalochener (Mörder) ne –! Da spiel ich net mit.‹

›Sie könne dariwwer ganz beruhigt sei,‹ erklärt Hermann. ›Der Diener vom Bildhauer is, wie wir bereits ausbaldowert hawwe, in Urlaub, und den Bildhauer locke mer durch en Brief aus seim Haus. Sie könne ganz ungeniert arweite.‹ –

Ich war bereit, kletterte zweimal, an zwei verschiedene Abende, in Marvays Zimmer und durchsucht die ganz Wohnung – fand aber nix. – – Beim dritte Mal ging ich hoch. – –! Das is alles, was ich weiß! Ich geb Ihne mei Ehrewort, Herr Doktor, – ob Se's glauwe oder net. – Ich bin unschuldig, un diesmal – wirklich nur der Verführte. – Hermann hat mer noch gesagt, wenn es schepp gehe sollt, un einer von uns geht verschütt, Stiekum sein (dicht halten), unner keine Umständ pfeife. – Mir zu Beispiel könnt mer net viel onhawwe, weil nix zu beweise is, un fer jede Monat Knast, den ich evendewell schiebe müßt, bekäm ich später 1000 Em. – Deshalb, Herr Doktor, hab ich mein Schnabel gehalte, und nix verrate – – –!«

Lutz hatte aufmerksam, ohne den Erzähler zu unterbrechen, zugehört. Jetzt zog er seine Zigarrentasche, reichte dem Athletenschorsch eine Zigarre und schob ihm die Streichholzschachtel zu.

Gierig griff der Dieb nach dem begehrten Kraut.

»Bedanken Sie sich bei mir,« sagte Lutz, »daß ich Ihnen Gelegenheit gab, Ihr Herz auszuschütten. Ihr Geständnis hat manches geklärt, und ich will Ihnen zu Ihrer Beruhigung jetzt auch die Versicherung geben, daß Sie als Mörder Marvays nicht mehr in Frage kommen.«

»Gott sei Dank – –! Herr Doktor!«

»Lassen Sie sich den Vorfall eine Lehre sein und halten Sie es stets mit der Wahrheit; denn ohne Ihr Geständnis wären Sie der Dumme gewesen. Erst jetzt ist manche Lücke ausgefüllt, die in der Kette der Ermittlung noch klaffte –«

Der Athletenschorsch atmete tief auf.

»Mir is jetzt um hunnert Prozent wohler wie vorhin,« versicherte er eifrig. »Aber, Herr Doktor, wie kommt das Weibsstück – Gott hab se seelich – dazu, zu schreibe, ich wäre der Mörder. So eine Schurkerei war doch noch net da – –!«

»Das hat sie doch gar nicht getan – –!« erwiderte Lutz mit feinem Lächeln.

Der Athletenschorsch glotzte Lutz dumm an.

»Ja – awwer – – ich hab doch selbst gelese, daß se schreibt: Georg war's – –!«

»Stimmt – – aber mit diesem Georg hat sie nicht Sie, Georg Kreß, gemeint, sondern Hermann, dessen Vorname ebenso lautet. –«

Der Dieb schwieg und bearbeitete seine Unterlippe mit den Schneidezähnen. Dann trat er dicht vor Dr. Lutz hin und sagte:

»Herr Doktor, ich muß Sie jetzt noch was frage? Wolle Se mer awwer bestimmt die Wahrheit sage –?!«

»Ja!« erwiderte Lutz kurz, und ein ganz flüchtiges Lächeln huschte über seine Mundwinkel.

»Herr Doktor! Wußte Se schon, bevor Se hierher zu mir gekomme sin, daß Hermann – der Gauner – mit dem Vorname aach Georg heißt – –?!«

Lutz lachte leicht auf.

»Natürlich, wußte ich das –!«

Wütend paffte der Athletenschorsch an seiner Zigarre.

»Da bin ich widder emal richtiggehend geleimt worde,« brummte er schließlich, halb ärgerlich, halb lachend. Dann aber behielt der Humor die Oberhand, und der Einbrecher sagte grinsend:

»Da seh'n Se selbst, Herr Doktor, daß ich Recht gehabt hab. Wenn Sie ein Fall in die Händ nemme, dann – – schon reingetrete – –! – –

Na, mir kann's ja jetzt schnuppe sei. – Soviel kann ich Ihne nur sage: Ich geb, sobald ich aus dein Kittche komm, den ewige Kampf mit der Polente uff. Die Brieder sin mer doch zu kochem (klug), und der dauernde Knast zehrt an die Niere ... Wenn ich mein Knast abgeschowe hab, viel uffbrumme kenne se mer diesmal net, dann seh ich zu, widder ein halbwegs anständiger Mensch zu werden. –«

»Bravo, Kreß!« sagte Lutz und reichte dem Dieb über den Tisch weg die Hand, die dieser zögernd ergriff, nachdem er seine beiden Tatzen an den Hosenbeinen abgewischt hatte.

»Wenn Sie entlassen sind, Kreß,« fuhr Lutz fort, »dann melden Sie sich sofort bei mir, auf dem Büro. Manus manum lavat, sagt der Lateiner.«

»Das versteh ich nit, ich hab bloß Deutsch und die Kundesprach gelernt.«

»Das Sprichwort heißt übersetzt: Eine Hand wäscht die andere. Sie haben heute – wenn auch nicht gerade aus freien Stücken – mir geholfen, später helf ich Ihnen. Und jetzt Schluß. – Auf Wiedersehen!«

Er gab dem Schließer einen Wink, den sehr vergnügt dreinschauenden Athletenschorsch wieder in seine Zelle zurückzuführen, und verließ das Untersuchungsgefängnis.

Als er langsam die breite Haupttreppe hinabschritt, pfiff er leise den neuesten Schlager aus der Bertuchschen Operette »Bachstelzchen«: Riskier'n wir mal 'ne Extratour; – ein Beweis, daß er mit dem Verlauf der Vernehmung vollauf zufrieden war.


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