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Lula Varena, die »Wiener« Soubrette (aus Leitomischl – Böhmen) des »Varieté Moderne« in Schaffhausen stürzte zehn Minuten vor Beginn der Vorstellung in den muffigen und dumpfen Bretterverschlag neben der Saalbühne, der auf die stolze Bezeichnung Damengarderobe Anspruch erhob.
Die anderen weiblichen Nummern waren bereits mit den Vorbereitungen für ihren Auftritt beschäftigt, bezw. saßen schon fix und fertig angekleidet um den Tisch herum, der Puderquasten von zweifelhafter Sauberkeit, Hasenpfoten, Schminkstifte und dergleichen Requisiten mehr enthielt.
»Kinder!« rief die Varena, indem sie hastig ihr Straßenkleid am Rücken aufriß und nach einem orangefarbenen Seidenfähnchen griff, das an einem Garderobehaken an der Wand hing. »Kinder, heut müßt's Schmalz in Eure Stimmen leg'n und die Baanerl schmier'n. Drunten im Saal sitzt nämlich a Direktor von aan großen Varieté mit saan Privatsekretär, a feiner Wurzen, sag ich Euch! Er soll die Absicht hab'n, noch a Paar Schaunummern z' engaschier'n. Alsdann – nehmt's Eich zusamm. Der Kellner, wo auf den Fotölschplätz'n serviert, hat mir's eben g'steckt. – –«
Vom Saal, der nur durch eine leichte Bretterverschalung und einen verschlissenen, grünblauen Vorhang von der Damengarderobe getrennt war, tönten die rhythmischen Weisen eines Wienerwalzerpotpourris, ausgeführt von der Hauskapelle, bestehend aus Klavier, Geige und Cello.
Herr Direktor Siegwart Mariano – eigentlich hieß er Sally Mayersohn – steckte seinen lockigen Kopf in die Damengarderobe.
»Dorrit!« rief er einer langaufgeschossenen, mageren Blondine zu. »Fertig machen! Deine Nummer beginnt. Und nehmt's Euch zusammen, Kinder! Ausverkauftes Haus!«
Dorrit Berger, »die bekannte und beliebte« Soubrette, eilte hinter die linke Seitenkulisse. Die Musik brach draußen ab. Ein heiseres Klingelzeichen ertönte, und der Kapellmeister begann auf dem Klavier das Vorspiel zur ersten Nummer zu intonieren. Der Vorhang flog auseinander, und mit ihrem lieblichsten Lächeln tänzelte Dorrit Berger auf die Bühne.
»Ich bringe Ihnen als erstes!« rief Sie mit einer schrillen, blechernen Stimme ins Publikum hinab:
›Männe, haste nich en bisken Geld bei dir –!«
Die Nummer begann. Der Gesang war ebenso wenig verführerisch wie das Aeußere der langen Dorrit, die ihre hagere, in einem gelben Paillettekostüm steckende Lausbubenfigur wie ein Pfau hin und her drehte und verliebt schmachtende Blicke ins Publikum schleuderte. Vor allem beehrte sie zwei Herren mit ihren Huldigungen, die an einem Tisch ganz vorne an der Bühne saßen, und einen halben Liter roten Veltliner tranken. –
Das inhaltlich recht geschmacklose, dabei wenig melodiöse Chanson der Berger zog nicht. Der Schweizer ist im allgemeinen für allzu dicke Obszönitäten nicht zu haben, besonders dann nicht, wenn sie in einem scharf preußisch akzentuierten Deutsch, das zu verstehen ihm Mühe macht, vorgetragen werden.
Auch die zweite Nummer der Berger:
»Die lieben, bösen Kavaliere stellen meiner Unschuld nach!« war eine Niete und der Beifall beim Abgang der Soubrette derart schwach, daß sich der Vorhang gar nicht mehr zu heben brauchte. Der Herr Kapellmeister begann daher sofort mit dem Vorspiel zur zweiten Programmnummer, die als internationale Verwandlungstänzerin
»Miß Marquisette Gray«
auf dem Zettel prangte. Diese Nummer begegnete schon einem höheren Interesse.
Zwar war Marquisette weder eine Beautée, noch besonders jung. Im Gegenteil, die Schminke konnte nur mit größter Mühe die zahlreichen Falten und Fältchen des müden, auf ein Bühnenlächeln dressierten Gesichtes verdecken, aber die Miß (aus Zwickau in Sachsen) hatte, was ihr der Neid lassen mußte, sehr gut gewachsene Beine, und auch die choreographischen Darbietungen konnten als durchaus akzeptabel angesehen werden.
Die nächste Nummer, »der Liebling des Schaffhauser Publikums,« der schweizer Humorist Gaston Erny-Brunner, brachte erst die nötige Stimmung. Er wurde sofort mit lautem Beifall begrüßt, ein Umstand, der als Beweis gelten konnte, daß er sich die Gunst des schweizer Publikums bereits errungen haben mußte.
Dies schien auch verständlich, denn er brachte seine drei Couplets mit einem gesunden, trockenen Humor heraus, blieb, bis auf ein paar reichlich saftige Anekdoten als Zugabe, ziemlich dezent und sang – ein Faktor von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit – in schweizer Dialekt, den zu verstehen den biederen »Schaffhausern« begreiflicherweise weniger Mühe machte, als das übliche Bühnendeutsch.
Auch die französische Chansonnière Mademoiselle Germaine Duvallet gefiel, wohl hauptsächlich deshalb, weil sie ein hübsches, rassiges, wenn auch außerordentlich freches Gesicht und einen sogenannten Pagenkopf hatte. Von ihrem Gesang, zwei gefährlich zweideutigen, und im Mund einer Frau geradezu ordinär wirkenden französischen Chansons, verstanden die Deutschschweizer glücklicherweise nur die Hälfte, was sie aber nicht hinderte, die Duvallet frenetisch zu applaudieren. Die Franzosen und ihre Sprache erfreuten sich in der Schweiz von jeher einer besonderen Beliebtheit, während die »chaibe Schwowe« und »Dreckprüß« nirgends auf allzu große Sympathien stießen. –
Das mußte wohl so sein, denn dafür nannten sich die Schweizer auch stolz eine neutrale Republik.
Die Varena als »Wienerin« konnte schon wieder mehr Sympathien für ihre Person verbuchen, sie sang außerdem zwei Liedchen aus dem »Walzertraum« und der »Geschiedenen Frau«, deren melodiöse Instrumentation selbst den wenig musikalischen Thurgauern in die breiten Ohren schmeichelte.
Auch die Tyrolienne Berta Saalborn durfte mit ihrem Herzog Johann Jodler und »Mei Bua is mei alles« einen Achtungserfolg verbuchen.
Interessant war die Tatsache, daß jeder auftretende Künstler, ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, zuerst seine Augen auf die beiden Herren an dem Tisch vor der Bühne richtete, die gelassen und mit gleichgiltigen Mienen diese Aufmerksamkeit völlig ignorierten und dem Inhalt ihrer Weingläser anscheinend ein weit größeres Interesse entgegenbrachten, als den ziemlich mittelmäßigen artistischen Darbietungen.
Herr Direktor François Eggli sollte, wie die Varena in Erfahrung gebracht hatte, je ein großes Varietétheater in Lausanne und St. Gallen besitzen. Das Engagement in Schaffhausen war nicht für die Dauer, und die Gage hundeschlecht. Es konnte daher nichts schaden, wenn man dem Varietégewaltigen, der sich zufällig in die Schmiere des Herrn Direktor Mariano verirrt hatte, mit besonderer Aufmerksamkeit entgegenkam.
Das Programm ging weiter.
Nach der Pause kamen die besseren Nummern.
Eine Spitzentänzerin, die ehemalige Diva Yvette Spiegel-Herckt vom Königlichen Hoftheater in Mannheim, der Kunstschützen- und Illusions-Akt Georg Hermann und der Clou des Abends – – die internationalen Damenringkämpfe.
Herr Direktor Eggli und sein Begleiter schienen wirklich nicht zu merken, daß ihre Anwesenheit die Künstler des Varietés Moderne zu ganz besonderen Anstrengungen veranlagte. Sie behielten ihre gelangweilte Miene bei. Erst als der Vorhang sich für die Nummer des Illusionisten Hermann öffnete, zeigten sie ein gewisses Interesse, das sich vor allem dahingehend äußerte, daß Herr Direktor Eggli während der Nummer Hermanns nicht nur sein Weinglas vollständig vergaß, sondern auch den Vorgängen auf der Bühne mit einer gewissen Spannung zu folgen schien.
Hermann war einer jener Manipulatoren, die ohne Begleitvortrag arbeiten. Er begann lautlos einige bekannte Kunststückchen, wie Verschwinden von Taschentüchern, Spielkarten, Eiern und farbigen Holzkugeln, vorzuführen und holte aus einem leeren Blechgefäß ein ganzes Warenlager von seidenen Tüchern hervor. Aus einem alten Zylinderhute zauberte er sämtliche Nationalflaggen Europas, zuletzt die rote Schweizerfahne mit weißem Kreuz, die er an einem Flaggenstock in die Höhe zog, eine Konzession an den Patriotismus der Schaffhauser, die diese Nummer denn auch gebührend und mit besonderer Lebhaftigkeit applaudierten.
Dann wurden die diversen Apparate von der Bühne getragen und Hermann trat mit einem kleinen Gewehr, das sich von der herkömmlichen Form eines Tesching oder Flobert nur durch einen auffallend dicken, plumpen Lauf unterschied, vor die Rampe.
Er wolle jetzt, erklärte er, das geehrte Publikum mit seiner neuesten Nummer bekannt machen, und zwar schösse er auf zwanzig bis dreißig Meter Entfernung Ziele von der Größe eines Zündhölzchens mit unübertrefflicher Sicherheit von der Bühne. Er bediene sich zu diesem Zwecke eines neuen, noch vollständig unbekannten amerikanischen Modells, das ohne Pulverladung, nur auf chemisch-physikalischem Wege, das Projektil lautlos aus dem Lauf triebe.
Er schritt nach einem im Hintergrunde des Saales angebrachten kleinen Podium, pfiff auf einer silbernen Pfeife, und der Vorhang flog erneut auseinander.
Auf der Bühne waren vier Ständer aufgebaut, von denen jeder eine Spielkarte, und zwar die vier Asse enthielt.
Hermann öffnete die Kammer seines Gewehrs, lud einen Streifen von 12 kleinen konischen Kupferstückchen in den Lauf und legte an. Aus dem Hintergrund des Saales vernahm man ein leichtes, viermaliges Zischen, dem unmittelbar darauf ein schwaches Aufklatschen wider die Kartonblättchen auf der Bühne folgte, dann sprangen zwei Theaterdiener aus der Seitenkulisse. Jeder nahm zwei Ständer in den Arm und trug sie in den Saal hinab. – Die Figuren der Spielkarten waren in der Mitte glatt durchschossen. – – –
Ein donnernder Beifall brach im Saale los, den Hermann mit einem stolzen Kopfnicken, ein wenig hochmütig quittierte. Er führte die Nummer mit der gleichen Sicherheit in verschiedenen Variationen noch mehrere Male aus und sprang unter dem Jubel des Publikums auf die Bühne, wo er sich verneigte. – Der Vorhang fiel – –!
Die Zuschauer wollten sich aber nicht beruhigen, besonders Direktor Eggli und sein Sekretär klatschten, daß ihnen der Schweiß von der Stirne troff. – Hermann mußte nochmals vor dem Vorhang erscheinen, dann begann die Musik die »Sambre et Meuse« zu intonieren, und unter den Klängen dieses rhythmischen französischen Militärmarsches stelzten sechs Damen, die »internationalen Ringkämpferinnen«, im Gleichschritt auf die Bühne.
Direktor Eggli schien an dieser Nummer kein Interesse mehr zu haben, er hörte kaum, daß der Manager verkündete, daß heute
Frl. Petersen (Schleswig) gegen Frl. Räubli (Schweiz),
Frl. Ivanovska (Rußland) gegen Hintermair (Bayern) und
Frl. Antognini (Italien) gegen die Mulattin Maud Florida
ringen würden. Er verließ mit seinem Sekretär den Theatersaal und begab sich in die nach der Straße zu liegende Bierrestauration, wo er den Kellner bat, Herrn Hermann zu einem kurzen Besuch zwecks Regelung einer geschäftlichen Angelegenheit herzubitten.
Wenige Minuten später erschien Hermann am Tisch.
»Sie haben mich zu sprechen gewünscht, Herr Direktor?«
Direktor Eggli sah den Artisten prüfend an. Hermann mochte vielleicht 45 Jahre zählen. Er hatte einen großen, breiten Kopf und blonde Haare, die an den Schläfen anfingen zu ergrauen. Sein energisches, scharf geschnittenes Gesicht war von vielen Falten und Runzeln durchzogen, was ihn vielleicht älter erscheinen lassen mochte, als er in Wirklichkeit war. Er trug einen modernen dunklen Straßenanzug und saubere, gute Wäsche.
»Wolle Sie bitte Platz nemme, Herr Hermann,« sagte der Direktor. Er sprach jenes harte Deutsch mit den scharf akzentuierten Gaumenlauten, das dem Schweizer eigen ist, wenn er sich bemüht, Hochdeutsch zu reden.
»Ich darf Sie vielleicht zu einem Fläschli einladen, ich hab etwas Geschäftliches mit Ihne zu bespreche. Chellner, bringet Se bitte e Flasch Muschkateller und try Gläser! – Ich bin Besitzer von zwei großen Varietétheatern. Zufällig kam ich heute abend ins Schützenhaus – ich wohne augenblicklich drübe – in Konstanz – und hab mir das Programm angelugt. – Mischt – chann ich Ihne segge –! Mischt, geradezu schuderhafte Mischt!« Herr Eggli fiel, ohne es vielleicht zu bemerken in seinen St. Galler Dialekt. »Die Wyber, villycht, als Usnahm die Französin – Dreck! Bie mir ganz ganz unmögglich. Die einzig Nummer, wo goht, sogar in ihrer Art vorzügglich ischt, isch die Ihre. – Sind Sie an Schaffhuse für längere Zyt gebunde?«
»Nein, Herr Direktor, ich bin nur bis zum ersten hier.«
»Guet! Un hänn Se nachher schon Engagement?!«
»Nein, Herr Direktor. Es ist schwer, weil ich aus familiären Gründen vorerst nur in der Schweiz arbeiten kann. In Deutschland und Oesterreich könnte ich Stellen en masse haben, aber in der kleinen Schweiz ist's schwer!«
Direktor Eggli neigte zustimmend das Haupt.
»Proscht! Herr Hermann!« sagte er, und auch der Artist tat Bescheid. »Dann sin wir ja soweit einig. Ich bin bereit, Sie für September für St. Galle, und für den Oktober für Lausanne zu engagiere. St. Galle 700 Franke Gage im Monat, und Lausanne 900. Einverstande?!«
»Jawohl, sehr gerne!«
»Na, dann Proscht, Herr Hermann. Sprechet Sie Französisch?!«
»Nur ganz wenig.«
»Schad nichts,« meinte Eggli gemütlich. »Dann muß unser Regisseur eine kleine Conference halte. Wir mün't Se sowieso als Amerikaner usgewe. Der Dütsche zieht nüt, besonders nüt in der Westschwyz. Trinket Se us, Herr Hermann. Wir wolle glych das Geschäftliche regeln un den Vertrag unterschrywe. – Wir fahre nach Konstanz!«
Hermann setzte das Weinglas, das er im Begriff war an den Mund zu führen, überrascht ab.
»Nach – – Konstanz – –!?« fragte er.
»Natürli!« entgegnete Eggli harmlos. »Frylich, nach Konstanz. Meinet Se villycht, ich blieb in dem Nescht Schaffhuse sitze, wann i drübe – zäh Minute über d' Gränz – die beschte Hotels finde kann. – Mir mün't scho rüber fahre – ich hänns Auto druse, denn ich cha vergasse, Verträg ynzustäcke, und morge muß i scho nach Münche wyterfahre. – –«
»Ich möchte es aber tunlichst vermeiden,« wandte Hermann ein, »deutsches Gebiet zu betreten. Läßt sich die Sache nicht hier arrangieren.«
»Warum –?!« fragte Eggli, dann lachte er auf einmal unvermittelt auf. »Ach so!« sagte er. »Ich weiß, ich weiß scho, warum Se sich nüt in Dütschland welle blicke lo. Sie hänt was usg'frässe drübe?!«
Der Artist zuckte zusammen und schüttelte den Kopf.
»Wette, daß Sie was usg'frässe hänn?« beharrte Eggli, »wette, das i au weiß, was es ist?!«
Der Artist sah den Direktor mit einer gewissen ängstlichen Spannung an.
»Ich will's Ihne segge,« fuhr dieser harmlos fort. »Sie hännt bym letschte Engagement drübe Ihre Stüre (Steuern) nüt zahlt. Ich weiß doch Bescheid – –!«
Lachend sah er dem Artisten ins Gesicht, der nun selbst in ein anscheinend erleichterndes Lachen ausbrach.
»Ischt's nüt so, Herr Hermann – –?!«
»Es stimmt, Herr Direktor. Es ist so.« –
»Na, dann bruchet Se kei Angst zu hänn,« meinte Eggli amüsiert. »Wir losset üs uff der Stroß garnüt blicke. Sie ganget glych mit ins Hotel, wir trinke dort noch e Fläschli, mache die Verträg fertig, und dann reißet Sie mit mym Auto – myn Sekretär hier fährt – widder retour. Alors en avant! Trinket Se us, und dann – fürre (voran).«
Der Artist schien noch einen Augenblick zögern zu wollen, aber die beiden Herren kümmerten sich gar nicht mehr um ihn. Der Sekretär verließ sofort die Restauration und kurbelte den Motor des draußen harrenden Kraftwagens an. Eggli beglich die Zeche und folgte.
Da nahm denn auch Hermann seinen Hut vom Garderobehaken und eilte ohne langes Besinnen den beiden anderen nach.
Der Sekretär kletterte auf den Führersitz, Hermann und Eggli setzten sich in den Fond des Wagens, und dann ging die nächtliche Fahrt hinaus, durch die alten, engen Gassen der Hauptstadt des Kantons Thurgau, über die Rheinbrücke, längs der schweizer Seite des Flusses, auf Diessenhofen zu. Das Städtchen wurde in schnellem Tempo durchfahren, nach wenigen Minuten kamen die schweizer Dörfer Steckborn und Ermattingen in Sicht. Fünf Minuten später hielt der Kraftwagen an der deutsch-schweizerischen Grenze in Kreuzlingen.
Die Zollformalitäten auf schweizer Seite wurden rasch und in loyaler Weise geregelt, auch der Wiedereintritt auf deutsches Reichsgebiet ging außerordentlich glatt und reibungslos vonstatten. Der badische Zolloffizier trat selbst aus seinem Büro, – er schien Eggli gut zu kennen – und einige Sekunden später ratterte das Auto durch die nachtstillen Straßen des hübschen Bodenseestädtchens Konstanz.
Im Hotel Halm angekommen, beorderte Eggli drei Flaschen Johannisberger Auslese auf sein Zimmer und stieg mit Hermann und seinem Sekretär die teppichbelegten Stufen nach seiner Etage hinauf.
Hermann hatte sich inzwischen eine Zigarre angesteckt, die ihm der Direktor unterwegs im Wagen angeboten hatte, und deren Dampf eine wonnige Beruhigung auf seine ein wenig erregten Nerven ausübte. Die Furcht vor den deutschen Behörden schien einer geradezu freudigen Stimmung bei ihm gewichen zu sein, und in bester Laune hob er sein Glas, um dem Direktor, der inzwischen einen Anstellungsvertrag in zweifacher Ausführung niederschrieb, zuzutrinken.
»Brauchet Se Vorschuß, Herr Hermann?«
»Nein, danke, Herr Direktor. Sie wissen doch, daß ich die Preußen um die Steuer geneppt habe, und dadurch ein reicher Mann geworden bin.«
Eggli ging lachend auf den Scherz ein. Er füllte von neuem das Glas seines Gastes, der mit der Durchsicht des Vertrages beschäftigt war und nicht merkte, daß der Sekretär auf einen leisen, beinahe unmerklichen Wink seines Chefs, den Inhalt einer kleinen Ampulle, die er in der linken Hand geschickt verborgen hielt, in Hermanns Glas schüttete.
Er bemerkte auch nicht die versteckt lauernden Blicke der beiden Männer, als er den einen Vertrag unterschrieben zurückreichte, sein Glas erhob, und es bis zur Nagelprobe leerte.
Eggli schenkte ihm sofort wieder ein, aber der Artist war plötzlich nicht mehr in der Lage, das Glas zu heben. Die Arme wurden ihm schwer und ein leichter Nebel umfing seine Sinne.
Teufel. Sollte er wieder einmal zuviel getrunken haben?!
Direktor Eggli stand vor ihm und hielt die Flasche in der Hand, um sich selbst einzuschenken. Blutigrot schien der vorher blaßgelbe Rheinwein in einem dickflüssigen Strahl aus dem Flaschenhals herauszuquellen. Flammen wuchsen aus der Flasche, züngelten wie giftige Reptilien nach seinem Gesicht – zwei feurige Krallenhände suchten seinen Hals. – –
Hermann wollte sich wehren, – aber die Glieder versagten den Dienst. Auch die Zunge lag ihm bleischwer im trockenen Mund, so daß er nur unartikulierte, stammelnde Laute über die Lippen brachte. –
Da schloß er, halb wider seinen Willen, die Augen und sank vom Stuhl, sank, sank tief und tiefer bis in die Unendlichkeit. – – –
Er erwachte durch einen hellen, grellen Lichtstrahl, der hoch oben von der Decke in die, in grünes Dämmerlicht getauchte Hotelstube fiel. Sein Kopf schmerzte und machte ihm ein logisches Denken zur Unmöglichkeit. Wo war er denn eigentlich?
Richtig, in einem Konstanzer Hotel. Zwei Herren hatten ihn im Auto aus Schaffhausen mitgenommen. Ja, und in seiner Tasche steckte ein günstiger Engagements-Vertrag. Für die nächsten zwei Monate war er geborgen.
Aber – er hatte getrunken – viel getrunken – zuviel. – Zum Teufel, dieser tückische, süffische Wein wirkte jetzt noch – – und – – Donnerwetter –! Er befand sich ja in Konstanz, im Hotel Halm, auf gefahrdrohendem badischem Staatsgebiet, im Machtbereich der deutschen Behörden – –!
Verteufelt. Er mußte schleunigst nach der Schweiz zurückkehren. Und mit übermenschlicher Energie bezwang er die ermüdende Beklemmung, die seine Glieder gefesselt hielt, und richtete sich schwerfällig von seinem, wie er jetzt erst fühlte, hartem Lager auf.
Blinzelnd sah er sich im Raume um, der grelle Sonnenschein blendete ihn.
Aber – wo war er denn? Mit dem gut möblierten Hotelzimmer hatte der kahle, nackte Raum, der aus dem kleinen, vergitterten Fenster sein Licht empfing nicht die geringste Ähnlichkeit.
Wankend, immer noch in einer halben Bewußtlosigkeit, erhob er sich von der Pritsche. Er betastete den irdenen Steinkrug, der vor ihm auf einem kleinen Klapptischchen stand. Er enthielt Wasser, frisches, klares, kaltes Wasser. Auf einem Zug trank er den Krug leer. Ah, das tat wohl –!
Die Tür öffnete sich. Zwei Männer erschienen. Einer hielt einen großen Schlüsselbund. Der andere steckte in einer grünen Uniform, trug einen Helm und hatte einen Karabiner am Riemen über der Schulter hängen.
Wie von einer Natter gebissen fuhr Hermann beim Anblick der beiden Männer zurück. Ein Blick auf die eisenbeschlagene Tür, die ein kleines, rundes, von außen zu öffnendes Guckfensterchen enthielt, enthüllte ihm die Wahrheit. Er wußte plötzlich, wo er sich befand! – – –
Da sagte der Gendarm in ruhigem aber bestimmten Ton: »Folgen Sie mir. Ich habe Sie dem Untersuchungsrichter vorzuführen.«
Einer Ohnmacht nahe, lehnte sich Hermann wider die kalte Steinwand. Er war plötzlich nüchtern und überdachte blitzschnell seine Situation. –
Hereingefallen! Uebertölpeln hatte er sich lassen, wie ein Schuljunge!
Die beiden Theaterleute gestern waren verkappte Polizeispione, die ihn aus der sicheren Schweiz heraus auf den gefährlichen reichsdeutschen Boden gelockt hatten. Nun saß er fest in der Tinte. – –
Der Schließer hatte ihn mit sanfter Gewalt aus der Zelle gezogen, und halb willenlos folgte er dem Gendarmen durch einen langen, öden Gang, der sein Licht durch einige kleine Deckenfenster erhielt.
Während des Gehens arbeitete sein Geist fieberhaft.
Fatal! Aber noch war nichts verloren!
Wer konnte ihm etwas beweisen, und doch – – Teufel; wenn man Grace vielleicht erwischt hatte, oder Inge konnte gepfiffen haben, die Weiber hielten ja alle nicht dicht, wenn es ihnen an den Kragen ging. –
Vor einer Tür, die ein weißes Zettelchen mit dem Vermerk Untersuchungsrichter trug, blieb der Gendarm stehen und klopfte an. – – – –
Als Hermann eine halbe Stunde später in seine Zelle zurückgeführt wurde, wußte er, daß er das Spiel verloren hatte.
Inge tot, ein Brief, der ihn des Mordes denunzierte, in den Händen der Polizei, außerdem hatte der Lump, der gottverdammte, dieser Schweinkerl von Kreß, in Frankfurt alles verraten, und Dr. Lutz, jener gerissene Spürhund, bearbeitete die Sache. Er selbst war es, der ihn gestern abend als Varietédirektor Eggli in Schaffhausen übertölpelte und nach Deutschland entführte.
Das heißt, entführte traf eigentlich nicht zu, völlig freiwillig war er mitgekommen. Welch eine Dummheit – – –!
Was konnte ihm blühen?! Zuerst eine langwierige Untersuchungshaft, dann der Prozeß vor dem Schwurgericht. Mord! Todesstrafe oder lebenslängliches Zuchthaus!
Hermann durchmaß mit langen Schritten und in großer Erregung die enge Zelle.
Dort oben hinter den Eisenstäben winkte die Freiheit!
Freiheit. Ein imaginärer Begriff für ihn. Und doch – –!
Vielleicht! Noch Rettung! Noch schien die Polizei die Figueirao nicht ermittelt zu haben! – Aber der Brief – und dann die Aussagen des Hoteliers in Friedberg und des Personals.
Und außerdem – Dr. Lutz hatte die Sache in der Hand.
Aussichtslos! – Er würde auch Grace bald an der Kette haben. Ihre Adresse ausfindig zu machen, konnte ihm nicht schwer fallen, Briefe, schwer belastende Briefe befanden sich in seinem Koffer in Schaffhausen. –
Idiot, der er war! Gestern wollte er sie verbrennen, dummerweise unterließ er diese eigentlich selbstverständliche Präventivmaßregel. Lutz würde unter allen Umständen sofort eine Durchsuchung seiner Gepäckstücke vornehmen, ob direkt oder durch Vermittlung der Schaffhauser Polizei, das blieb sich gleich. Man fand die Briefe – – und dann – – Prost Mahlzeit!
Le jeu est fait. Sein Spiel war verloren!
Er suchte in den Taschen. Natürlich hatten sie ihm alles abgenommen. Seine Brieftasche, sein Geld, auch das Taschenmesser. –
Da fiel sein Blick auf den irdenen Wasserkrug.
Er nahm den Krug langsam, fast zärtlich in seine schlanken, gutgepflegten Artistenhände.
Hier hielt er die Rettung! – – –