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Der Frühschnellzug D 123, Frankfurt-Hannover-Hamburg, war in den Bahnhof Friedberg (Oberhessen) eingefahren. Pünktlich, und ohne eine Minute Verspätung.
Der Personenzug nach Gießen, den der Schnellzug fahrplanmäßig überholen mußte, stand seit 10 Minuten wartend auf dem Nebengleis. Ein Dutzend Reisende hatten in Friedberg den Schnellzug verlassen, ungefähr die gleiche Anzahl war zugestiegen. Der Zugführer und der Fahrdienstleiter standen hinter der schweren Schnellzugsmaschine, die fauchend und zischend auf das Zeichen zur Weiterfahrt, hinein in die fruchtbare Wetterau, gen Gießen und Marburg zu, wartete, als ein Mann in der Uniform der Telegraphenbeamten eiligst über die Gleise sprang. In seiner rechten Hand schwenkte er ein zusammengefaltetes Papier, anscheinend ein Telegrammformular, und während er über die Schienen auf den Schnellzug zueilte, rief er mehreremale einen Namen aus.
Der Name war nicht ganz verständlich, er schien viersilbig, enthielt dem Laut nach zwei oder drei Vokale und klang dadurch rein phonetisch ein wenig exotisch, italienisch, spanisch, portugiesisch.
Halb neugierig, halb ärgerlich, denn das Ueberschreiten der Gleise war bahnpolizeilicherseits streng untersagt, wandten sich die beiden Bahnbeamten dem Rufer zu, der ohne sich um sie zu kümmern, den Zug wie suchend entlanglief, immer den gleichen Namen ausrufend.
Plötzlich klirrte ein Fenster herab. Ein noch jüngerer, gut gekleideter Herr, mit einem hellen, weichen Filzhut meldete sich.
»Ich habe ein Bahntelegramm für Sie,« sagte der Depeschenbote verschnaufend. »Können Sie sich legitimieren?«
Der Angeredete nahm mit sichtbarem Erstaunen prüfend die Depesche zur Hand.
»Der Name stimmt schon,« sagte er ein wenig überrascht. »Das Telegramm ist wirklich für mich. Hier ist mein Paß!«
An den Fenstern der Nachbarabteile erschienen einige neugierige Gesichter, um jedoch, da die Neugierde nicht auf ihre Kosten kam, bald wieder zu verschwinden. –
Während der Depeschenbote, nach Erledigung seines Auftrages, langsam die Unterführung zum Ausgang hinabging, blieb der Empfänger, das Telegramm unschlüssig, beinahe ein wenig mißtrauisch in der Hand wiegend, im Fensterrahmen stehen, als er plötzlich einen leisen, fast gehauchten Wehruf ausstieß, mit der linken Hand in die Luft griff und schwer in das Innere des Wagens zurücksank. Im gleichen Augenblick klirrte es in dem Abteil, wie von splitterndem Glas.
Die beiden übrigen Insassen des Abteils, die bisher teilnahmslos auf ihren Plätzen saßen, es waren zwei einfach gekleidete Frauen, sprangen in die Höhe, die ältere der beiden, wahrscheinlich die Mutter der anderen, beugte sich erschrocken über den am Boden liegenden Mann und stieß einen lauten Schreckensruf aus, denn – – – – der Mann war tot. – – Oberhalb der Nase, mitten in der Stirn, war ein kleines, beinahe kreisrundes Loch, aus dem langsam das Blut in dicken Tropfen zu Boden sickerte und bereits eine kleine, braunrote Lache gebildet hatte.
Sowohl auf dem Gang des D-Zugwagens, als draußen auf dem Bahnsteig, wurde es nun lebendig. Ueberall erschrockene, neugierige, sensationshungrige und verstörte Gesichter.
Der Zugführer und zwei Bahnbedienstete stürzten ins Abteil.
Draußen auf dem Gang drängten sich ein Dutzend Neugierige zusammen.
»Was ist denn passiert?« fragte der Zugführer, gewichtig in seiner Autorität. »Donnerwetter«, rief er aus, seine Frage selbst beantwortend, »der Mann ist tot – erschossen! Niemand verläßt das Abteil!«, rief er schnell gefaßt und doch durch den Anblick des Toten ein wenig verwirrt. »Rufen Sie sofort den Bahnhofsvorstand, Häuser, und holen Sie auch die Polizei! – Der Zug wird nun Verspätung bekommen,« fügte er mehr zu sich, als zu den Umstehenden gerichtet hinzu, nachdem er einen kurzen Blick auf seine Uhr geworfen hatte. »Wie ist denn das passiert? Haben Sie einen Schuß gehört?« fragte er die beiden Frauen, von denen die Aeltere fassungslos in einer Ecke zusammengekauert war, während die andere, die Jüngere, den Toten wie geistesabwesend anstarrte.
»Entsetzlich!« stöhnte die Jüngere. – »Gehört? Nein – ich – ich weiß gar nichts. – Der Herr stieg mit uns zusammen in Frankfurt ein – ich kenne ihn nicht. – Draußen rief jemand – wer, weiß ich nicht. – – Er ging ans Fenster und fiel plötzlich in den Wagen zurück. – Anscheinend erschossen. – Da drüben muß der Schuß hinausgefahren sein, denn die Fensterscheibe ist zertrümmert. – – –«
Der Bahnbeamte schien den Schaden erst jetzt zu bemerken. Er brachte der zertrümmerten, anscheinend durchschossenen Fensterscheibe, die als fiskalisches Eigentum seiner Obhut unterstellt war, beinahe größeres Interesse entgegen, als dem Unglücklichen, der, die Beine an den Leib gezogen, leblos auf dem kalten Boden lag.
Plötzlich ertönte von draußen aus dem Durchgang des Schnellzugwagens ein unterdrückter Schrei. Eine junge Frauensperson brach sich, ohne Rücksicht auf die Neugierigen zu nehmen, rücksichtslos Bahn und warf sich, laut schreiend, über den Toten.
»Gott steh mir bei, Franz!« schluchzte sie auf. – »Allmächtiger! Was ist hier vorgefallen?« – Der Bahnhofsvorstand in roter Mütze trat mit einem Polizisten in das Abteil.
Er war sofort Herr der Situation.
Ohne sich um den Toten vorerst zu kümmern, wandte er sich an die Passagiere des Wagens, die den Durchgang versperrten.
»Meine Herrschaften!« sagte er höflich aber bestimmt, »es hat sich hier ein Unglücksfall oder vielleicht auch ein Verbrechen ereignet. Ich bitte Sie, den Wagen, der abgekoppelt wird, zu räumen und Ihre Sitze in einem anderen Wagen einzunehmen. Dieser muß zur Verfügung der Staatsanwaltschaft hier bleiben.
Diese beiden Damen und Sie, mein Fräulein,« er wandte sich mit etwas gedämpfter Stimme an die junge Frauensperson, die sich immer noch heftig schluchzend über den Toten gebeugt hatte, – »muß ich bitten, sich als Zeuginnen zur Verfügung der Polizei zu halten.«
Die ältere Frau, die sich bisher zitternd und beinahe teilnahmslos in die Wagenecke verkrochen hatte, wurde nun lebendig.
»Unter keinen Umständen bleibe ich hier mit dem Toten allein,« erklärte sie mit einer Energie, die zu ihrem bisherigen Benehmen in auffallendem Gegensätze stand. »Ich fürchte mich, und außerdem, ich muß heute mittag in Cassel sein, wir beide« – sie deutete bei diesen Worten auf ihre jüngere Begleiterin, die schaudernd neben ihr Platz genommen hatte – »werden dort erwartet.«
»Es tut mir leid,« erwiderte der Bahnbeamte mit bestimmter Höflichkeit, »Sie können nicht abfahren. Sie beide sind die einzigen Zeugen des mysteriösen Vorfalls und müssen ihre Aussagen zu Protokoll geben.«
»Aber ich kann gar nichts aussagen« – jammerte die Aeltere, »ich habe gar nichts gesehen, ich will mit der Polizei nichts zu tun haben!«
Die junge Dame legte der älteren die Hand auf den zitternden Arm.
»Beruhige dich, Tante,« sagte sie leise. »Wir werden der Polizei wiederholen, was wir wissen, und fahren mit dem 10 Uhr-Zuge weiter.«
»Dann darf ich Sie vielleicht bitten, mich in mein Zimmer zu begleiten, bis die Polizei zur Stelle ist. Ich habe bereits telephonieren lassen. Und Sie Fräulein – –!« Er unterbrach sich erschrocken, denn die junge Dame, die sich über die Leiche des Mannes gebeugt hatte, war aus dem Abteil verschwunden. Der Bahnhofsvorstand unterdrückte einen leisen Fluch.
»Wo ist die Dame hingekommen!« rief er auf den Gang hinaus. »Donnerwetter! Die Dame muß unbedingt hier bleiben. Erst jammert sie, daß es Gott erbarm, und nun, wo sie dringend gebraucht wird, ist sie verschwunden. Zugführer!«
»Herr Vorsteher!«
»Sie haben die junge Frau gesehen, die sich um den Toten bemüht hat. Sie muß sofort zur Stelle geschafft werden. Suchen Sie den Zug ab und fahren Sie dann in Gottes Namen los. Meldung hierher, – ich warte.«
Der Wagen hatte sich völlig geleert. Außer dem Polizisten, der sich vollständig passiv verhalten hatte, – so mochte ihn der »große Kriminalfall« überrascht haben – und den beiden Frauen, blieb nur der Bahnhofsvorstand bei dem Toten.
Nach knapp zwei Minuten kam der Zugführer zurück.
Er legte die Hand an die Mütze und meldete: »Die Frau ist seltsamerweise nirgends aufzufinden.«
»Sonderbar,« meinte der Vorgesetzte kopfschüttelnd. Dann sah er auf seine Uhr. »Donnerwetter! schon 20 Minuten Verspätung. Fahren Sie in Gottes Namen los. Das andere ist Sache der Polizei! –«
Im nächsten Augenblick zog mit einem schrillen Pfiff, einem letzten Gruß an den toten Mann, der auf dem nackten Holzboden des Abteils dritter Klasse den ewigen Schlaf schlief, die Maschine an, und der Zug rollte langsam aus dem Bahnhof.
Zwei Minuten später folgte ihm der Gießener Personenzug auf dem Nebengeleise.