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Fünfzehntes Kapitel

Am 15., vormittags 8 Uhr, hielt der Kraftwagen Dr. Lutz' vor dem Hotel Großherzog von Hessen in Friedberg. Lutz steuerte selbst. – Im Fond saßen der Kriminalwachtmeister Muschal und der Kriminalschutzmann Schneider von der Frankfurter Abteilung 7.

Die Unterbrechung der Fahrt in Friedberg hatte den Zweck, Elisabeth Merker, das Stubenmädel aus dem Friedberger Hotel mit nach Cassel zu nehmen. – Die Merker war die einzige Zeugin, die Marguths Mörderin in Friedberg zu Gesicht bekommen hatte, weshalb Lutz Wert darauf legte, sie mit nach Cassel zu nehmen, um die »schwarze Pantherin« des Zirkus Peltrini als Herrn Müller aus dem Hotel Großherzog und damit den Mörder des Artisten Marvay zu identifizieren. Ein Telegramm der Casseler Polizeidirektion vom vorigen Tage besagte, daß die Gesuchte noch nicht in Cassel angelangt sei. Lutz mutmaßte daher, daß sie, wie viele andere Artisten auch, erst im Laufe des Premièrentages in Cassel ankommen würde.

Er übereilte daher die Fahrt nicht, und nachdem Lisbeth Merker, der das Vergnügen an der Autotour auf dem frischen Gesicht geschrieben stand, neben Muschal Platz genommen hatte, kurbelte er den Motor an, und in mäßiger 50 Kilometer-Geschwindigkeit fuhr der schwere Tourenwagen nach Norden weiter. In einer Stunde war Gießen erreicht und die Stadt in nordwestlicher Richtung durchfahren. Zwanzig Minuten später kam Marburg in Sicht.

Kurz vor Treysa begann der Wagen unruhig zu stuckern, so daß Lutz den Motor abstellte und ärgerlich den Kühldeckel aufhob. Er untersuchte die Maschinerie aufmerksam, kurbelte dann schweigend von neuem an und fuhr in langsamem 10 Kilometer-Tempo nach Treysa hinein.

Vor dem Hotel Royal hielt er und bat die Insassen, auszusteigen. Auf Muschals erstauntes und enttäuschtes Gesicht erklärte er mit einem leichten ärgerlichen Unterton in der Stimme, daß der Motor unbegreiflicher Weise einen Defekt aufweise, einen Schaden, der auch in kurzer Zeit nicht leicht zu beheben sei. Er beabsichtige daher, den Wagen in der Hotelgarage unterzustellen, und der Sicherheit halber mit dem Zug nach Cassel weiter zu fahren.

Aergerlich stellte Lutz wenige Minuten später auf dem Wandfahrplan des Hotels fest, daß der Frankfurter Vormittagsschnellzug in Treysa nicht hielt; der nächste Casseler Personenzug traf aber nicht vor 2 Uhr in Treysa ein und war erst kurz vor halb sechs in Cassel.

»Peinlich, direkt ekelhaft, diese unvorhergesehene Panne, aber nicht zu ändern.« – –

Lutz fand sich daher auch mit gutem Mut in das Unabänderliche, lud seine Begleiter zu einem Frühstück im Hotel ein und bat den Hotelier, für Aufbewahrung des Autos besorgt zu sein, bis er auf der Rückreise den Wagen selbst wieder in Empfang nehmen würde. Um 2 Uhr fuhr die Gesellschaft, nachdem Lutz vorher eine Depesche an die Casseler Polizeidirektion gerichtet hatte, mit der Eisenbahn nach Cassel weiter, wo sie pünktlich ankam. Am Bahnhof bestiegen sie ein Auto und fuhren durch die Kölnische- und Kronprinzenstraße nach dem Königstor, wo das neue Polizeipräsidium lag.

Inspektor Hohenstatter, der Leiter der Casseler Kriminalabteilung, begrüßte Lutz, den er seit Jahren kannte, in herzlichster Weise und erzählte, daß seine Beamten die »schwarze Pantherin« seit ihrer Ankunft am Vormittag genau beobachteten. Sie habe ein möbliertes Zimmer in der Mönchebergstraße in unmittelbarer Nähe der Trainkaserne bezogen und sei vor einer halben Stunde ins Theater gegangen. Dort seien bereits zwei Polizeibeamte stationiert mit dem strengen Befehl, die Marguth oder Marva wie sie sich jetzt nannte, nicht aus den Augen zu lassen. Selbstverständlich habe die Direktion des Zirkus keine Ahnung von diesem Ueberwachungsdienst. Dann bat Inspektor Hohenstatter Lutz um weitere Dispositionen.

Lutz wollte wissen, wo der Zirkus Peltrini untergebracht sei.

»In der Stadthalle,« erklärte der Inspektor, »es ist dies ein großes, massives Gebäude, das vor dem Gastspiel des Zirkus auf Kosten des Unternehmers zu einem praktischen Zirkusgebäude umgebaut wurde.«

Lutz hielt es für das beste, keine Zeit zu verlieren und den Zirkus unverzüglich aufzusuchen. Vielleicht bestünde die Möglichkeit, Frau Marva noch vor Beginn der Vorstellung zu verhaften. Da diese um 7 Uhr beginnen sollte, bat Lutz, sofort aufzubrechen.

Der Inspektor, Lutz, Muschal, Schneider und Lisbeth Merker begaben sich zu Fuß nach dem knapp eine viertel Stunde entfernten Friedrichsplatz, wo die Stadthalle stand. In kleinen Gruppen von je zwei Mann folgten sechs Kriminalbeamte der Casseler Polizei.

Vor dem hellerleuchteten Eingang des Zirkus Peltrini staute sich die Menge. Schreiende Plakate machten besondere Reklame für die Hauptattraktion des Abends, Signora Ingeborg Marva, genannt »Die schwarze Pantherin«, und geradezu unübertreffliche Sensationen wurden durch das Gastspiel dieser Universalkünstlerin in Aussicht gestellt. Signora Marva schoß ein Ei von dem Kopfe eines Mannes, und Signora Marva kletterte in halsbrecherischer Weise am schwebenden Trapez, wie eben nur eine Pantherin klettern kann. Ein anderes Plakat zeigte das »gefährliche Raubtier« aber schon in einer dezenten, weiblichen Ballkleidung mit einer kleinen Peitsche in der Hand, und vor ihr saßen und standen in allen möglichen Stellungen, ein halbes Dutzend Hunde, meist Pudel und Foxterriers, die ihre Herrin erwartungsvoll ansahen.

Hohenstatter legitimierte sich an der Kasse und betrat den Zirkus, während Lutz und seine Begleiter, – Lisbeth Merker hatte für alle Fälle das Gesicht durch einen dichten Schleier verdeckt, – am Eingang zurückblieben.

Der Andrang zum Zirkus war ein großer. Die Attraktion der »Schwarzen Pantherin«, für die in der Tagespresse eine großzügige Reklame inszeniert wurde, übte eine außerordentliche Zugkraft aus, so daß das weitläufige Gebäude bereits eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung ausverkauft war.

Während der Abwesenheit des Inspektors musterte Lutz unauffällig die Besucher, plötzlich stand Hohenstatter neben ihm. »Kommen Sie, Doktor«, sagte er, »wir gehen sofort zur Direktion«. Dann schritt er mit den anderen durch einen Seitengang, der mit Latten, Reifen, Böcken und anderen Zirkusgeräten vollgestellt war, und hielt vor einer kleinen Tür mit einem weißen Pappschild »Direktion«.

Nach kurzem Anklopfen betraten Hohenstatter und Lutz das Zimmer, die anderen blieben draußen auf dem Gang zurück. Direktor Peltrini, ein Mann in mittleren Jahren, mit langausgezogenem, pechschwarzem Schnurrbart, rotem Frack und furchtbaren O-Beinen, die in glänzenden Reitstiefeln steckten, war über den unerwarteten Besuch des Polizeibeamten außerordentlich überrascht, seine Ueberraschung verwandelte sich in Schrecken und Entsetzen, als er in Erfahrung brachte, daß dem Besuch die Verhaftung seines Stars zu Grunde lag.

»Aber meine Herren«, rief er geradezu vernichtet aus (seine Aussprache des Deutschen verriet sofort, daß die Wiege des Direktors nicht in Italien – wohl aber irgendwo im Ungarischen gestanden haben mochte), »ich bitte, Sie ruinieren mir das ganze Geschäft. Sie werden doch, ich bitte – nicht die Absicht hob'n, mir den Panther vor seinem Auftreten arretieren zu woll'n. Bedenken's, welch ein Schaden fürs Geschäft!«

Hohenstatter sah Dr. Lutz fragend an, dieser nickte leicht.

»Herr Direktor«, sagte der Inspektor, »ich will auf Sie gerne Rücksicht nehmen, und mit der Verhaftung bis nach dem Auftreten Ihrer Pantherin warten, Sie garantieren mir aber dafür, daß Frau Marguth oder Marva wie sie sich nennt, in keiner Weise erfährt, daß die Polizei sich für sie interessiert und sogar bereits im Theater ist. Ich lasse Ihnen sofort die Bude schließen, wenn uns der Panther durch die Lappen geht.«

Direktor Peltrini atmete auf. »Aber ich bitte – Herr Polizeipräsident,« sagte er devot. »Wo werd ich in a Amtshandlung eingreifen. Machen's mit dem Panther, was Sie woll'n, aber ich bitte, erst wann die Vorstellung beendet ist. Morgen find i schon an Ersatz. – Sie, Scheibinger!« wandte er sich an einen jungen Mann, anscheinend seinen Sekretär, der am Schreibtisch saß, und ein stiller, aber nicht uninteressierter Zuhörer der Verhandlungen war, »Sie müssen sofort an Goldschmidt telegraphieren, ich brauch für Morgen schon an passenden Ersatz für die Marva, Gage Nebensache – nur 's muß etwas ganz was Hervorragendes von Nummer san. Und bitte sehr, meine Herren, wollen's hier warten, oder die Vorstellung besuchen?«

Lutz entschied sich für das Letztere. »Wir warten also mit der Festnahme der Marva bis nach Erledigung ihrer Nummer« sagte er, »aber – – – Herr Direktor! Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die Garderobe der »Pantherin« unter strenger Bewachung steht, und daß jeder Verkehr mit ihr, sei es seitens der Direktion oder der Artisten aufs strengste verboten ist. – Jeder, wer es auch sei, der es versucht, mit der Marva in Berührung zu kommen, wird festgenommen, ohne Rücksicht auf sein eventuelles Auftreten oder sonstige Differenzen und Schwierigkeiten, die gegebenenfalls für Sie entstehen können. Außerdem wird unser Versprechen, die Verhaftung bis nach dem Auftreten auszusetzen, sofort hinfällig. Ich hoffe – Sie haben mich verstanden!

»Aber bitte, Herr Polizeirat, ganz genau! – Euer Gnaden belieben ja außerordentlich klar und deutlich zu reden. –«

»Dann gut, Herr Direktor! Wir sehen uns inzwischen Ihr Programm an.«

»Ich halt' den Herrschaften Loge Nr. 6 reserviert, es ist dies die Presseloge, die immer frei ist, ich werd' sofort das Nötige veranlassen. Mich entschuldigen die Herrschaften wohl, ich habe noch Anordnungen zu treffen. Und wanns gestattet ist, zu fragen, was hat die Marva denn ausgefressen, daß sie arretiert werden soll? –«

»Eine ganze Menge,« erwiderte Lutz kurz, »sorgen Sie nur dafür, daß Sie nicht gewarnt wird. –«

»Ausgeschlossen, sie ist seit einer halben Stunde in ihrer Garderobe, Herr Inspektor kennen die Garderoben ja, und die Marva macht mit ihrem Kostüm derart Umständ, daß sie vorher kaum außikommt. Also Sie können ganz beruhigt saan, meine Herren!«

Als die beiden Beamten die Direktionskanzlei verlassen hatten, schlug Direktor Peltrini mit seiner Reitpeitsche wütend auf den Tisch, daß die Papiere im Zimmer herum sausten und der Sekretär sich erschrocken duckte.

»A so a Schweinerei, a gottverfluchte, mir meinen Star zu verhaften!«

»Entsetzlich,« meinte der Sekretär, »ein so hübsches, verführerisches Weib, und man muß sie blind in ihr Verderben rennen lassen.« Direktor Peltrini kniff das linke Auge zu und sah seinen Sekretär lauernd an.

»Hörns, Scheibinger,« sagte er mit unheimlicher Ruhe, »ich will Ihnen mal was sagen. Ich weiß ganz genau, daß Sie in die Marva verschossen saan. Aber i weiß auch, daß i Ihnen sämtliche Knochen im Leib zu Mus zerschlag', falls Sie 's wagen sollt'n, der Marva auch nur die geringste Warnung zukommen zu lassen. Moanens vielleicht, i wollt mir die Konzession entziehen lassen, von wegen an damischen Frauenzimmer? So schauns aus! Mit der Faust hier, schlog i Ihnen eigenhändig den Schädel ein, falls Sie sich der Garderoben von der Marva nur nähern sollten. Jetzt wissens Bescheid! –«

Während dieser kurzen, aber inhaltreichen Unterhaltung im Büro der Direktion, verteilte der Inspektor seine Leute und gab ihnen die eingehendsten Instruktionen. Die Garderobe der Pantherin wurde durch zwei Beamte, die in Feuerwehruniform steckten, ständig unter scharfer Bewachung gehalten, zum Ueberfluß auch noch der Künstlerausgang nach der Straße besetzt, der Rest der Polizisten verteilte sich im Zirkus. Fräulein Merker, Muschal und Schneider setzten sich zu Lutz und Inspektor Hohenstatter in die Loge und betrachteten das Programm.

Dieses begann in der üblichen Weise mit den schon unzähligemale gezeigten Evolutionen einer Schulreiterin in einem oben und unten mehr als fußfreiem Kostüm, ihre Gelenkigkeit stand zu dem immerhin schon recht vorgeschrittenen Alter in einem gewissen Gegensatz. – Ein Paar maurische Springer, – ob ihre Wiege wirklich in Tunis oder Algier, oder nur in Rixdorf gestanden hatte, ließ sich auf die Entfernung nicht einwandfrei feststellen – konnten die wenig begeisterungsfähigen Kurhessen nicht sonderlich erwärmen, erst die faulen Späße zweier Clowns, die mit einem dressierten Esel Dummheiten machten, brachten ein wenig Stimmung unter das kühl zurückhaltende Publikum.

Ein Akrobat, der große Eisengewichte stemmte, und zwei Leute aus dem Publikum mit den Zähnen in der Schwebe hielt, fand nur auf den billigen Plätzen beifallfreudige Zuschauer. – Die letzte Nummer vor der Pause war »Miß« Peltrini. Sie ritt auf dem Tscherkessenhengst Ivan die hohe Schule. Direktor Peltrini hatte die Leitung in der Manege und führte im Anschluß an die Nummer seiner Tochter 12 dressierte Schulpferde vor.

Bevor er die Manege betrat, nahm er sich ein zweites Mal seinen Sekretär Scheibinger vor und drohte nochmals, ihn kurz und klein zu schlagen, falls er es versuchen sollte, sich mit der Marva in Verbindung zu setzen.

Während der Pause verließen Lutz und der Inspektor die Loge, um nach dem Rechten zu sehen, sie fanden die Polizeibeamten alle auf ihren Plätzen. Neues hatte sich nicht ereignet, die Marva hatte ihre Garderobe überhaupt nicht verlassen.

Die Pause ging vorüber. – Erst die zweite Nummer, nach einem komisch-musikalischen Duett zweier Clowns, brachte das erste Debüt in Cassel der »berühmten« Signora Marva, genannt »Die schwarze Pantherin«.

Die Musik fiel in einen hellen, schmetternden Tusch, auf welches Zeichen zwei Dutzend Stallangestellte des Zirkus Peltrini eiligst in die Manege sprangen und rechts und links von dem durch einen Vorhang verdeckten Künstlereingang Spalier bildeten.

Einen Augenblick erwartungsvolle Stille – – dann trat unter lautem Beifallsklatschen der Zuschauer, das auf den billigen Plätzen begann und sich auf die besseren Sitze schnell ausdehnte, – die Marva gravitätisch und doch leichtfüßig in die Manege.

Fünf Augenpaare in der Loge 6 richteten sich mit ganz besonderem Interesse auf die Künstlerin, die sich lächelnd nach allen Seiten verneigte.

Die Marva war wirklich eine hübsche Frau mit tiefdunklen Augen und brünetten Haaren, die ein rassiges, wenn auch im Augenblick etwas allzustark geschminktes, noch jugendliches Gesicht umrahmten. Aus dem Kopfe trug sie einen schwarzen, phantastischen Aufputz in Form eines echten schwarzen Pantherkopfes und hatte um die Schultern ein langes Tigerfell drapiert, das wie eine Schleppe hinter ihr auf dem Boden nachschleifte.

In der Mitte der Manege angelangt, ließ sie mit einer graziösen Handbewegung die Toga zu Boden fallen und verneigte sich, die Arme über der Brust verschränkt, indem sie lächelnd die lauten Beifallskundgebungen quittierte. Ihr schlanker, ebenmäßiger und doch muskulöser Körper steckte in einem enganliegenden, schwarzen Seidentrikot, die kleinen, hochspannigen Füße in hohen, bis unter das Knie reichenden schwarzen Stiefelchen aus mattem Wildleder.

Lutz warf einen schnellen, scharfen Blick auf Elisabeth Merker, die interessiert mit glühenden Wangen in die Manege sah.

»Ist sie's?« fragte er leise. »Erkennen Sie die Frau wieder?«

Das Mädchen nickte aufgeregt. »Bestimmt, Herr Doktor,« flüsterte es mit unterdrückter Stimme. »Sie ist's, und keine andere.«

»Still jetzt!« gebot Lutz und vertiefte sich anscheinend mit großem Interesse in den Programmzettel.

Der Name »Die schwarze Pantherin« war in großen, auffallenden Lettern gedruckt und nahm eine ganze Seite des Heftes ein. Zuerst produzierte sich die Künstlerin als Schütze, dann wollte sie »staunenerregende« und noch »nie gezeigte« Trapez- und Kletterkunststücke bringen, der Schluß des Programmes versprach die »wunderbaren« Dressuren ihres Hundequartetts. –

In der Manege hatten die Vorbereitungen zur Nummer der Marva inzwischen begonnen. Drei Stallmeister stellten sich, jeder eine brennende Kerze in der rechten Hand vor den Samtvorhang, während ein vierter der Marva eine kleine, zierlich gearbeitete Flinte reichte.

Die Marva öffnete die Kammer, schob einige Patronen in den Lauf und sprang dann leichtfüßig bis an die Manegenrampe zurück. – – Auf ein Zeichen hoben die drei Stallmeister ihre Kerzen in die Höhe, die Marva brachte schnell das Gewehr in Anschlag – – – drei leichte Knalle – – und die Kerzen waren ausgeschossen. – –

Auch das zweite Kunststück, nämlich das Herausschießen eines Aß aus einer Spielkarte, die einer der Männer in der freien Hand hielt, klappte famos. Dann nahm ein kleiner Junge auf einem Stuhle mitten in der Sandmanege Platz. Ein Stallmeister legte ihm einen Apfel auf den Kopf und trat zur Seite.

Die Marva hob langsam die Flinte, zielte kurz, wenn auch vielleicht ein wenig sorgfältiger als vorher, – – der Schuß krachte – – und der Apfel zerplatzte in kleine Fetzen, die auf den Sandboden der Manege wirbelten.

Donnernder Applaus lohnte die Kunstfertigkeit der »schwarzen Pantherin«, die sich, ein liebenswürdiges, aber stereotyp gezwungenes Bühnenlächeln auf den Lippen, dankend nach allen Seiten verneigte.

Für den zweiten Teil der Nummer wurden die Vorbereitungen getroffen und die in der Glaskuppel des Zirkus befestigten Seile und Trapeze losgebunden und herabgelassen. Die Marva stand neben Direktor Peltrini in der Manege und überwachte ruhig die Arbeiten.

Diesen Augenblick schien Scheibinger, der Zirkussekretär, abgewartet zu haben. Trotz der Drohungen seines Chefs, schien es bei ihm eine Selbstverständlichkeit, daß er die hübsche, verführerische Frau, die, obgleich er sie nur eine halbe Stunde im Zimmer der Direktion gesehen, sein ganzes Innerste aufgewühlt hatte, warnen und beschützen mußte vor der dräuenden Gefahr, die sich über ihrem ahnungslosen Haupte zusammenzog. – Mochte er seine Stelle verlieren, mochten sie ihn ins Gefängnis werfen, er konnte und durfte dieses anbetungswürdige Weib mit den verführerischen Lippen und funkelnden Augen nicht im Stiche lassen.

Aber wie ihr helfen?! – – –

Die Garderobe der Künstlerin wurde, wie er sich selbst überzeugt hatte, scharf bewacht. Außerdem mißtraute ihm der Direktor und ließ ihn kaum eine Minute aus seinen Augen.

Der junge Enthusiast zermarterte sein Hirn! – Kein Ausweg! Nichts, gar nichts wollte ihm einfallen. – –

Plötzlich sprang er von seinem Stuhle auf. Halt! So ging's! Donnerwetter! Daß er auf diesen naheliegenden Gedanken nicht sofort gekommen war.

Von draußen tönte gedämpft der Geisha-Walzer, der, wie Scheibinger wußte, die zweite Nummer der Marva einleitete.

Er nahm vom Schreibtisch einen kleinen weißen Bogen und schrieb mit vor Aufregung zitternden Händen:

 

»Fliehen Sie so schnell wie möglich! Die Polizei sucht Sie und hat den Zirkus besetzt. Kehren Sie um Gottes Willen nicht in Ihre Garderobe zurück. Dort werden Sie verhaftet.«

 

Diese Botschaft steckte er in einen Umschlag, griff nach einem Rosenbukett, das in einer Vase im Fenster stand und verließ das Zimmer. – – –

Hinter der Manege, durch den Vorhang vom Publikum getrennt, räkelten sich faul die beiden Clowns Harry und Maxe, die die Pause zwischen dem zweiten und dritten Auftreten der Marva auszufüllen hatten. – Auch die »nächste Nummer«, der orientalische Zauberer Monsieur Achmed Bey, saß dort bereits wartend auf einer kleinen Stehleiter, vor ihm, Schokolade knabbernd. Miß Diana Gibson, die Schulreiterin. In einer Ecke wartete ein Stallmeister. Er hielt an einer langen Longe vier kleine Hunde, die die Marva als dritte Attraktion vorzuführen gedachte. –

Scheibinger trat auf einen der Hunde, einen kleinen braunen Affenpintscher, mit klugen Augen zu und hielt ihm den Blumenstrauß vor das schnuppernde rosige Näschen.

»Pussy!« sagte er liebkosend. »Hier – das – Frauchen bringen – – Schnell!« Dann imitierte er mit den Händen die Bewegung des in die Höhekletterns.

Der Stallmeister grinste beifällig. Er glaubte, daß mit dem Blumenstrauß, der, wie er bemerkte, einen Brief enthielt, irgend ein Verehrer der Marva eine besondere Aufmerksamkeit während des Auftritts erweisen wolle, und koppelte den Hund los.

Pussy warf das kleine Stummelschwänzchen hin und her, nahm dann gehorsam das Bukett zwischen die Zähne und rannte an den lachenden Artisten vorbei, durch den Vorhang in die Manege.

Dort hatte die Marva mit ihrer Trapezattraktion bereits begonnen.

Sie zeigte unter der Zirkuskuppel, an einem schwebenden Trapez hängend, einige wagehalsige Turnkunststücke und ruhte nun einen Augenblick, auf der Querstange des Schweberecks sitzend, indem sie mit einem feinen seidenen Tuch sich leicht den Schweiß von der Stirne tupfte.

Eine gewisse Unruhe im Zuschauerraum, die sich aber bald in ein befreiendes, herzliches Lachen auflöste, ließ sie in die Tiefe blicken.

Pussy, der Affenpintscher, war, mit seinem Rosenbukett im Mäulchen, in die Manege gesprungen, und hatte sich dort nach seiner Herrin umgesehen. Als er sie in der Zirkuskuppel auf dem Schwebereck entdeckte, sprang er nach der Strickleiter, die das Reck mit dem Erdboden verband, und begann geschickt, mit einer Sicherheit, die bei einem Hund staunenerregend schien, langsam und vorsichtig – ein Beinchen nach dem anderen vorsetzend – die vertikale Strickleiter empor zu klimmen.

Gespannt folgten die Zuschauer dem Treiben des Hundes, alles schien instinktiv zu ahnen, daß dessen Erscheinen ein ganz improvisiertes war.

Das Tierchen war bis an das Schwebereck emporgeklommen, wo es von seiner Herrin in Empfang genommen wurde, die lächelnd, aber anscheinend doch ein wenig erstaunt, das Bukett aus dem Mäulchen des Hundes nahm und den Brief öffnete.

Unten prasselte eine donnernde Beifallssalve los, die sich an den Glasscheiben der Kuppel brach.

Der Hund befreite sich zappelnd vom Schoße der Frau und sprang mit einem weiten Satz in das Sicherheitsnetz, das in eine Höhe von drei Meter über dem Erdboden vorschriftsmäßig unter dem Trapez angebracht war. Dort wurde er unter lachenden Zurufen und Beifallsklatschen der Zuschauer durch zwei Stallmeister herausgehoben und verließ schweifwedelnd die Manege.

Die Aufmerksamkeit des Publikums hatte sich in den letzten Sekunden ausschließlich auf den Hund konzentriert. Um die Marva kümmerte sich im Augenblick kaum jemand, – als aus der Loge Nummer sechs, wo vier Herren und eine Dame saßen, ein lauter Ausruf ertönte. – Im gleichen Augenblick sprangen die Insassen eiligst auf und verließen hastig die Loge.

Schreckens- und Angstrufe gellten durch den weiten Zuschauerraum.

Die schwarze Pantherin war an den Seilen des Schweberecks in die Höhe geklommen und hatte sich mit einem kühnen Ruck auf die Brüstung geschwungen, die unterhalb der Zirkuskuppel um die ganze Kuppel herumlief.

An den stabilen Eisentrossen der Verschalung zog sie sich mühelos empor und schwang sich durch ein offenstehendes Fenster hinaus ins Freie.

Ein ohrenbetäubendes Geschrei brach unten im Zuschauerraum los.

Jeder fühlte, daß die Flucht der Artistin mit dem Ruf aus der Loge sechs in Zusammenhang stehen mußte. Die Zuschauer erhoben sich gestikulierend von ihren Sitzen, sprangen teilweise in die Manege hinab, und die schimpfenden Zirkusangestellten, die die Ordnung wieder herstellen wollten, vergrößerten nur den Tumult.

Die Polizeibeamten, Lutz an der Spitze, waren inzwischen ins Freie geeilt, um der Marva die Flucht abzuschneiden. Bis sie sich jedoch durch die Menge gewunden hatten, war die Artistin, bei ihrer Gewandtheit, mühelos an den Notleitern, die für Unglücksfälle, Brände usw. zur Rettung des gefährdeten Publikums angebracht waren, hinabgeklettert und verschwunden.

Trotz des Mißgeschicks schien Lutz die personifizierte Ruhe. Seine Anordnungen kamen knapp und präzise heraus. Zwei Kriminalbeamte fuhren sofort nach dem Hauptbahnhof, um ein Entweichen der Marva mit der Eisenbahn zu verhindern, zwei andere holten ein Auto herbei, um die sofortige Verfolgung aufzunehmen, deren mutmaßliches Ziel nicht schwer zu erraten schien, da die Marva voraussichtlich in einem Auto oder einer Droschke ihre Wohnung aufgesucht haben mochte, um sich umzukleiden, denn eine Flucht in dem auffallenden Artistenkostüm schien natürlich unmöglich.

Der Inspektor war wütend. Er ließ sofort den Direktor Peltrini und seinen Sekretär verhaften. Der Direktor beteuerte in temperamentvoller Weise seine Unschuld, der letztere ergab sich schweigend in sein Schicksal, und wer ihn genau beobachtete, konnte ein leises, triumphierendes Lächeln erkennen, das sich ab und zu in seine Mundwinkel stahl, denn sein Vorhaben war geglückt.

Die Garderobe der Marva wurde amtlich verschlossen, nachdem der Inhalt, soweit er als Eigentum der Artistin in Frage kam, beschlagnahmt worden war.

Inzwischen war der Kraftwagen vor dem Zirkusportal vorgefahren. Hohenstatter, Lutz, Muschal und Schneider sprangen hinein, nachdem der Inspektor dem Chauffeur die Adresse Mönchebergstraße 217 zugerufen hatte. In flottem Tempo ratterte der Kraftwagen über den breiten Friedrichsplatz, durch die obere Königstraße, an der Lokomotivfabrik von Henschel vorbei und fuhr in die Mönchebergstraße ein. Nach einer halben Minute hielt er fauchend vor seinem Ziel.

Der Inspektor rief einige halbwüchsige Burschen heran, die sich auf der breiten Vorstadtstraße mit einem improvisierten Fußballmatsch die Zeit vertrieben und fragte, ob vor kurzer Zeit hier ein Wagen vorgefahren wäre.

»Ja,« hieß die Antwort. »Ein Auto, vor ungefähr 15 Minuten.« Wer drinnen saß, wußten die Burschen nicht anzugeben, sie hatten während ihres Spieles nicht darauf geachtet, außerdem war es auch zu dunkel.

Hohenstatter lohnte den Chauffeur ab und eilte mit Lutz und seinen Begleitern ins Haus und die dürftig beleuchteten Treppen hinan.

An der rechten Türe der Doppelwohnung im zweiten Stock hing ein Emailschild mit dem Namen E. Kramer, darunter klebte eine Visitenkarte »Ingeborg Marva, Artistin«.

Hohenstatter zog die Klingel.

»Halten Sie auf alle Fälle die Waffen bereit!« empfahl er.

Als nach einer halben Minute nicht geöffnet wurde, läutete der Inspektor ein zweites Mal heftiger. Im Innern der Wohnung ging eine Türe, eine Sekunde später wurde die Vorplatztüre geöffnet und eine ältere, einfach gekleidete Frau erschien im Rahmen.

Hohenstatter drängte sich sofort auf den Vorplatz und hielt der Frau seine Marke vor die Augen.

»Wir sind von der Kriminalpolizei!« sagte er. »Bei Ihnen wohnt eine Artistin namens Ingeborg Marva? Das stimmt doch?«

»Ja!«

»Dann führen Sie uns bitte zu der Frau. Ich muß sie sprechen.«

»Das wird leider nicht gehen,« erwiderte die alte Frau leise und ein wenig gepreßt. »Frau Marva ist nämlich vor wenigen Minuten – – – gestorben –!«


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