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Siebzehntes Kapitel

Lutz saß wieder Professor Degischer in dessen Atelier gegenüber. »Sie wollen von mir etwas Neues wissen?«, fragte der Bildhauer. »Es hat sich nichts ereignet. Es kamen keine Meulenkampbriefe mehr und die Einbrecher verschonen mich jetzt auch. Außerdem lasse ich meine Wohnung keinen Augenblick unbewacht. Mein Faktotum Paul ist vor drei Tagen zurückgekommen und einer von uns beiden bleibt immer in der Wohnung. Wie weit sind Sie mit Ihren Ermittlungen gekommen, Herr Doktor?«

Lutz tat einen kräftigen Zug aus der schweren Brasilzigarre, die ihm der Professor aufgewartet hatte.

»Die Untersuchungskette,« sagte er ruhig, »wächst gliedweise immer weiter. Zum endgültigen Zusammenschweißen fehlen nur noch einige wenige, wenn auch recht wichtige Schlußglieder. Wir tappten zuerst vollständig im Dunkeln und haben jetzt doch soviel Licht in die mysteriöse Geschichte bringen können, daß die Täter, wenigstens dem Namen nach bekannt sind und gesucht werden können. Muschal ist heute vormittag, mit den notwendigen Anweisungen versehen, nach Zürich gereist, um vorerst einmal festzustellen, wer sich hinter dem Empfänger der postlagernden Sendungen GH. 100 verbirgt.«

»Es ist schade, jammerschade, daß der ausländische Boden Zürichs Ihre Tätigkeit erschwert.«

»Ich wüßte nicht, inwiefern?«, meinte Lutz leichthin.

»Zürich gehört zur Schweiz, und als deutsche Polizei ist es Ihnen doch kaum möglich, dort einen Verbrecher zu verhaften; es sei denn, daß Sie sich der Vermittlung der schweizerischen Behörden bedienen.«

Dr. Lutz setzte ein feines diplomatisches Lächeln auf.

»Die schweizer Kollegenschaft in allen Ehren,« sagte er, »aber ich ziehe es vor, mir gar nicht erst von ihr in die gutgemischten Karten blicken zu lassen. Es ist nicht das erste Mal, daß ich einen schweren Bruder, auf völlig legale Art und Weise, aus der Schweiz heraushole. Diese Sache macht mir keine überflüssigen Sorgen, ich ärgere mich nur, daß es bis jetzt noch nicht gelungen ist, das Motiv zu finden, das dieser komplizierten Mordgeschichte zu Grunde liegt. Auch in betreffs des damit verbundenen Diebstahls bin ich nur auf allerlei Vermutungen angewiesen, die einer ernsten Nachprüfung kaum Stand halten. Ich will heute nachmittag den Athletenschorsch nochmals gehörig in die Presse nehmen, rechne auch auf einen gewissen Erfolg, aber vorher wollte ich mich mit Ihnen nochmals besprechen.

Es scheint erwiesen, daß die Baronin von Rottsieper, die damals mit Marguth in die Ingolstädter Affäre verwickelt wurde und seitdem verschwunden ist, hier gleichfalls ihre Hände im Spiel hat. Es scheint dies eine sehr vielseitige, vielversprechende Dame zu sein. Über ihren Aufenthalt ist Ihnen nichts bekannt?«

Degischer schüttelte ernst den Kopf. »Ich wäre überglücklich, wenn ich Ihnen eine irgendwie geartete Auskunft geben könnte, aber – non possumus! Ich versichere Sie, daß mir das Ende des armen Kerls außerordentlich nahegegangen ist, ich möchte beinahe behaupten, daß mich der Tod meiner Eltern, die ich früh verloren habe, nicht mehr ergriffen hat. – –

Die ersten Tage nach der Mordtat war ich überhaupt nicht fähig, irgend etwas Vernünftiges zu arbeiten, denn bei aller realistischen Veranlagung bin ich ein geradezu fatal sensibler Charakter. Meine Sensibilität, Herr Doktor, geht sogar soweit, daß ich sein Bild, das er mir vor Jahren gab, und die ›Venusstatuette‹, die er so sehr liebte, sofort wegschloß und seit seinem Tode noch nicht wieder herausgenommen habe. –«

»Sie machten von der Statue der › Venus vulgivaga‹ zwei Abgüsse?!«

»Ja, aber wie ich Ihnen schon sagte, nicht zu gleicher Zeit. Ich bewunderte vor einigen Monaten das im hiesigen Städelchen Museum befindliche Original von Delacoste und kopierte es. Marguth interessierte sich aus künstlerischen und persönlichen Gründen für die Statue, weshalb ich ihm während seines Aufenthalts hier, eine zweite Kopie herstellte.«

»Könnte ich dieses Bildwerk, das zwei Künstler derart interessiert, einmal sehen?«

»Warum nicht?, meinte Degischer und schritt zu einer schweren Holztruhe im Hintergrund des Ateliers, die er mit einem komplizierten, altmodischen Schlüssel aus Bronze öffnete. Er entnahm ihr ein kleines Paket in einem grünen Samtlappen eingewickelt, schlug die Umhüllung auseinander und stellte eine kleine, vielleicht vierzig Zentimeter breite und zwölf Zentimeter hohe Gipsstatuette vor Lutz auf den Tisch.

Dieser betrachtete das kleine Gipsmodell, ohne es zu berühren. Es stellte eine nackte Frauengestalt dar, mit offenen Haaren, die das eine Bein leicht an den Leib gezogen und die Arme erwartungsvoll sehnsüchtig ausgebreitet, auf dem Rücken lag.

»Die ruhende › Venus vulgivaga‹,« erklärte Degischer, »wie sie ihren Geliebten erwartet. Betrachten Sie nur die schönen, klassischen Körperformen. Solche Menschen gibt es heute im Zeitalter des Korsetts und der Stöckelschuhe überhaupt nur noch auf dem platten Lande. – Die Zeichnung der Körperlinie hier ist geradezu entzückend schön.«

Plötzlich rückte Degischer seine Brille zurecht und nahm die Skulptur in die Hand.

»Donnerwetter – was ist denn das?!« rief er aus. »Ich stelle soeben fest, daß der linke Fuß abgeschlagen ist, erinnere mich aber, daß das Modell vollständig intakt war.«

Lutz, der mit liebenswürdiger Gleichgiltigkeit, den Ausführungen des Künstlers zugehört hatte, wurde aufmerksam.

»Die Entdeckung besagt schließlich nur,« meinte er leichthin, »daß Sie, oder Ihr Diener die Skulptur beschädigt haben, ohne es vielleicht zu wissen. –«

»Ausgeschlossen!« erwiderte Degischer im Brusttone der Ueberzeugung. »Nun, darüber werden wir uns ja gleich Klarheit schaffen können. Paul – –!«

Aus dem Garten ertönte Antwort.

»Komm mal sofort ins Atelier!« rief der Professor durch das offene Fenster.

Eine halbe Minute später erschien der Diener im Atelier, ein junger Mann von vielleicht 20 Jahren, mit offenen intelligenten Zügen.

»Hör mal mein Bursch!« sagte Degischer zu ihm, in seinen oberbayrischen Dialekt verfallend. »Was hast denn mit der Venus ang'stellt. Niemand anders als du kann das Fußerl zerbrochen hab'n?«

Der Diener wurde sichtlich verlegen. »Ich – – ich – –!« stotterte er.

»Ja du. Du hast die Statuette einpackt, kurz nach dem Morde Marguths, i selbst hab sie bis heut garnit mehr in die Finger kriegt!«

»Woll, woll – – das stimmt schon –« sagte der Diener verlegen. Dann gab er seiner Figur einen Ruck. »I will d' Wahrheit sag'n, Herr Professor. Den Kopf kann's nit kosten. Ja, i hab unachtsamerweis das Fußerl beim Reinigen abgeschlag'n und deshalb die zwaa Venusse vertauscht.«

» Waas?! Wie?!« rief Degischer. »Vertauscht. Söll versteh i nit. Is denn dös hier nit unsre Venus –?!«

»Na, Herr Professor, wann i ehrlich saan will, muß i's schon sag'n. – Die Venus hier ist eigentlich die Venus vom Herrn Marguth. I hab sei Venus oben beim Abstauben auf den Tepisch fall'n lossen, und da is das Fußerl abgesprungen. Weil aber nun der arme Herrn Poldi so sehr an dem Figürl g'hangen hat, wollt i mir kaa Vorwürfen net machen lossen, und hab die Venus aus unserem Atelier aufig'holt un mit der Venus vom Herrn Poldi vertauscht.«

»Wann war das?!«

»So beiläufig drei bis vier Tag, nachdem Sie ihm das Modell gegeb'n hab'n. – Er hat auch den Tausch gar net merkt, da die zwaa Venusse ausgeschaut hab'n wie eine. Am Tag nach der Mordtat hab i auf Ihr G'heiß unsere – das heißt, eigentlich dem Herrn Poldi seine Venus, drüben in d' Truhen eini g'schlossen.«

Lutz war bei der Erklärung des Dieners langsam aufgestanden und anscheinend teilnahmslos an das Fenster getreten, das nach dem Garten führte.

»Erlauben Sie mir eine Zwischenfrage!« sagte er ruhig und höflich. »Wissen Sie, wo Herr Marguth während seines Aufenthaltes hier die Venusstatue verwahrte?«

»Freili. A paar Tag stand sie auf dem Schrank, dann hat er sie in seinem Koffer eini g'sperrt. –«

»Und welche Statue hat er mitgenommen? Strengen Sie Ihr Gedächtnis an! Die Antwort ist mir aus bestimmten Gründen außerordentlich wichtig. Seine, die er bereits einige Tage im Besitz hatte, oder die aus dem Atelier?!«

»Die aus dem Atelier.«

»Bestimmt?!«

»Aber ja, ganz bestimmt. Schaun's, das ist doch die defekte Venus, wo ich eigenhändig vertauscht hab – –!«

Lutz trat an den Tisch und nahm die » Venus vulgivaga« wie spielend zur Hand. »Diese Statuette hier auf dem Tisch hat demnach eigentlich Marguth gehört, und diese gleiche Statuette verschlossen Sie, Herr Professor, am Tage nach der Mordtat an Ihrem Freund dort in der Truhe?«

»Ja –!« antwortete Degischer. »Daran ist kein Zweifel, ich verstehe nur nicht recht, warum Sie dieser an und für sich recht nebensächlichen Sache eine derartige Bedeutung zumessen?«

»So!« sagte Lutz nur. Dann legte er, behutsam, als hielte er die größte Kostbarkeit in Händen, die Statuette wieder vor sich auf den Tisch.

» Herr Professor! Ich glaube, das Verbrechen an Marguth ist in diesem Augenblick geklärt worden – – –

Degischer starrte Lutz wie einen Verrückten an und schüttelte mit einem Blick auf seinen Diener den Kopf.

»Ich – – verstehe Sie – – wirklich nicht – –!« sagte er.

»Sie werden mich sofort verstanden haben. Ist Ihnen diese Statuette eine solch heilige Erinnerung, daß Sie sich nicht von ihr trennen wollen, auch dann nicht, wenn mich dieses unscheinbare Gebilde aus Gips auf die Spur der Mörder führt?

»Aber nein – –! Nein – –!« rief Degischer aus. »Machen Sie mit dem Ding, was Sie wollen, wenn es Ihren Zwecken dient.«

»Ich muß aber die Statuette ruinieren,« meinte Lutz.

»Macht nichts! Ruinieren Sie die Statuette einmal – zweimal – dreimal – an einer › Venus vulgivaga‹ ist im allgemeinen nicht viel zu zerstören!« fügte er gezwungen lachend hinzu.

Auch Lutz lachte. »Dann kommen Sie bitte mit in den Garten.« Er nahm die Gipsstatue unter den Arm und schritt durch die Ateliertür in den Garten hinaus. Der Professor und sein Diener folgten, mit sichtlich ausgeprägter Spannung in ihren Mienen.

Ohne sich um seine Begleiter zu kümmern, hob Lutz mit beiden Händen die Gipsfigur über den Kopf und – – schmetterte sie krachend wider die Hauswand, wo sie in kleine Stücke zerschellte.

Zum Erstaunen der beiden Zuschauer stürzte sich Lutz – wie ein Sperber auf seine Beute – auf die am Boden liegenden Gipsfragmente der » Venus vulgivaga« und hob ein kleines, dünnes, in Pergament eingeschlagenes Päckchen vom Boden auf.

»Hier Herr Professor!« sagte er, tief aufatmend. »In diesem Päckchen steckt die Aufklärung des Mordes an Leopold von Marguth.«


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