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Zehntes Kapitel

Selten hatte ein Verbrechen Presse und Publikum in einer derartigen Weise beschäftigt, wie der Mord an dem Artisten Lugos Marvay.

Die Zeitungen brachten spaltenlange Berichte über das »Verbrechen im D-Zug« und konnten immer nur von neuem versichern, daß die Polizei den Tätern auf der Spur sei, und eine geradezu fieberhafte Tätigkeit entwickele.

Beide Behauptungen waren keine Uebertreibungen, sondern entsprachen eigentlich den Tatsachen. Die Spur der Täter war durch Dr. Lutz' schnelles Eingreifen prompt und verläßlich gefunden worden, und Kommissar Rademacher entwickelte an der Spitze eines halben Dutzend Kriminalbeamter eine außerordentliche Regsamkeit. Mit dem von Lutz zusammengestellten Signalement der mutmaßlichen Mörderin versehen, suchte Kriminalwachtmeister Gerlach die Hotels der Halbmillionenstadt ab und ermittelte im Hotel Modern am Steinweg einen Reisenden, der sich am 27. Juni als Frau Marguth aus Ludwigsburg eingetragen hatte. Die Vermutung, daß Marvays Frau unter ihrem richtigen Namen dort gewohnt hatte, erwies sich als richtig, da der Oberkellner und der Portier des Hotels in der Lage waren, eine ziemlich genaue Beschreibung der Frau zu geben, die sowohl mit den Aussagen des Bildhauers Degischer, als auch mit denen des Stubenmädchens in Friedberg übereinstimmte.

Im Büro der Frankfurter Fremdenpolizei wurde der Meldezettel von Frau Marguth herausgesucht und zur freudigen Ueberraschung der Fahndungsbeamten festgestellt, daß die Schrift mit der des Herrn Müller auf dem Hotelzettel in Friedberg voll und ganz übereinstimmte. Ein Vergleich der beiden großen M in Marguth und Müller brachte den unumstößlichen Beweis.

Mit dieser Entdeckung war die Kriminalpolizei einen guten Schritt vorangekommen. Es konnte als bewiesen angesehen werden, daß Frau Marguth in Frankfurt a. M. und Herr Müller in Friedberg ein und dieselbe Person waren. Herr Müller war aber an Hand zahlreicher Indizien der Mordtat so ziemlich überführt, und da nach Aussage des Bildhauers Degischer Gründe genug vorlagen, um Marvays Frau außerordentlich schwer zu belasten, schien die Tat selbst ziemlich geklärt.

Auf besonderen Wunsch von Lutz hielt jedoch die Presseabteilung des Frankfurter Polizeipräsidiums mit ihren Mitteilungen an die Tageszeitungen noch zurück.

Lutz fuhr selbst nach Ludwigsburg in Württemberg, wo er feststellen konnte, daß eine Frau Marguth, deren Mann als Artist unter dem Pseudonamen Marvay auftrat, eine kleine Villa in der Eberhardstraße bewohnte.

Frau Inge Marguth wurde ihm als eine junge Frau geschildert, der selbst die Klatschbasen der Kleinstadt nichts Böses nachsagen konnten. Sie führte ein zurückgezogenes Leben und fuhr nur jede Woche auf ein bis zwei Tage nach dem nahen Stuttgart, um ihre Mutter zu besuchen, wie sie sagte.

Ein Besuch des Detektivs in der Villa endigte mit einem Mißerfolg. Frau Marguth war verreist und die Villa geschlossen. Das Dienstmädchen wohnte, wie Lutz von Nachbarsleuten erfuhr, in einem kleinen Dörfchen in der Nähe von Ludwigsburg.

Er kurbelte sofort den Motor seines Autos an und suchte das Mädchen, das Verwandten bei der Ernte half, auf den Feldern auf.

Eine Befragung zeitigte auch kein gerade überraschendes Resultat.

Das Dienstmädchen war auf vierzehn Tage beurlaubt und Frau Marguth verreist. Nach der Schweiz, glaubte das Mädchen. Es stellte seiner Herrschaft das beste Zeugnis aus, schilderte Frau Marguth als eine liebenswürdige, junge Dame von bestem Benehmen, die sich um keinen Menschen kümmerte und ihre Zeit mit Romanlesen und der Dressur einer Anzahl kleiner Hunde zubrachte. Den Gatten kannte das Mädchen nicht. Es wisse wohl, daß er Artist sei, von Angesicht zu Angesicht habe es ihn aber nie gesehen. Als er vor wenigen Wochen einmal auf einen Tag nach Ludwigsburg kam, sei es gerade zu Besuch ihrer Eltern zu Hause gewesen.

»Ob Frau Marguth nach der Abreise ihres Gatten ein auffallendes Benehmen an den Tag gelegt hatte?« wollte Lutz wissen.

»Nein!« Das Dienstmädchen hatte nichts derartiges wahrgenommen.

Nachmittags fuhr Lutz wieder nach Frankfurt zurück.

In Fischers Büro fand am gleichen Abend noch eine Sitzung der mit der Aufklärung des Falles Marguth betrauten Beamten statt, an der außer Fischer und Dr. Lutz die Kommissare Rademacher und Neumann, sowie die Wachtmeister Muschal, Gerlach und Lautensack teilnahmen.

Auf seiten der Polizeibeamten herrschte eitel Freude und Triumph. –

Es mußte doch tatsächlich als eine Meisterleistung des modernen Fahndungsdienstes angesehen werden, wenn eine zuerst so verwickelte Angelegenheit, wie der Fall Marvay, bereits nach zwei Tagen derart geklärt war, daß über die Person des Täters keine Zweifel mehr herrschten. Als Schütze konnte die eigene Ehefrau des Toten einwandfrei festgestellt werden. Die Polizei besaß ihr genaues Signalement, und bei den zahlreichen wissenschaftlichen und technischen Hilfsmitteln, über die eine moderne, gutgeleitete Kriminalpolizei heute verfügt, konnte es nur eine Frage der Zeit, und zwar sehr kurzer Zeit sein, bis die Gattenmörderin sicher hinter Schloß und Riegel saß.

Lutz hingegen teilte die uneingeschränkte Freude der Polizeibeamten nicht ganz, und hielt auch mit seiner Meinung keineswegs zurück.

»Sie mögen im großen ganzen Recht haben,« wandte er sich an die übrigen Anwesenden. »Alles klappte bisher, klappte hervorragend. Es kommt sogar noch ein dritter günstiger Umstand hinzu, den Sie noch gar nicht wissen können, der aber auch auf die Habenseite verbucht werden kann. Mein Sekretär hat heute mittag auf dem Büro des Artistenverbandes ermittelt, daß die ehemalige Frau Marguth unter dem Namen »La belle Venus« eine an besseren Varietés wohlbekannte Persönlichkeit oder »Nummer«, wie es in Fachkreisen heißt, war. Daß sie seit ihrer Verheiratung nicht mehr auftrat, wußten wir bereits vorher. – Das ist alles ganz schön. Aber mir gefällt an unserem Gebäude, das wir aus Tatsachen, Indizien und Hypothesen prächtig aufgebaut haben, in erster Linie nicht, daß es – um bei dem Gleichnis mit dem Bau zu bleiben – architektonisch zu schön, zu glatt, zu sauber ist.

Unser Fall entwickelt sich wie ein gutgeschriebener, flotter Kriminalroman. Glied schließt sich an Glied, Indizium kommt zu Indizium, und die Handlung entwickelt sich genau nach romandramaturgischen Grundsätzen, folgerichtig und logisch. – –«

»Ist das vielleicht ein Fehler?« warf Rademacher ein.

»An und für sich nicht. Aber hier kommt ein Moment hinzu, was meine reine Freude an dem prompten Ermittlungserfolg bedenklich trübt.

Nämlich der große komplizierte Apparat, der eingestellt wurde, um den armen Marvay niederzuschießen.

Nehmen wir einmal als erwiesen an, seine Frau sei die Täterin. Sie habe aus familiären Gründen, aus Haß, aus Eifersucht, ihren Gatten um die Ecke bringen wollen, wäre es dann nötig gewesen, eine solch komplizierte Szene mit einem falschen Depeschenboten, einer trauernden Angehörigen, die den Gepäckschein stiehlt, zu arrangieren? Konnte sie nicht weit schneller und weniger kompliziert ihren Gatten einfach beim Verlassen seiner Wohnung, in der Georg Speyerstraße, vom Auto aus niederknallen. Ich frage mich mit Recht ein wenig erstaunt: Warum das alles? Warum die Beraubung durch eine andere Frau, warum das Risiko des Friedberger Abenteuers, das leicht hätte schief ausgehen können?

Es sind dies alles Fragen, auf die uns vorerst noch die Antwort fehlt.

Gewiß, ich stimme bei, daß Frau Marguth außerordentlich schwer belastet ist, und mag sich der Vorfall erklären wie er will, auch belastet bleibt. Ich habe auch natürlich nichts dagegen einzuwenden, wenn nach Marguths Gattin nachdrücklich gefahndet wird, aber ich fürchte, – ich fürchte, daß wir eine restlose Klärung auch durch die Festnahme der »belle Venus« nicht erlangen werden.«

Rademacher wollte etwas erwidern, aber Fischer schnitt ihm die Antwort ab.

»Dr. Lutz hat nicht Unrecht. Auch mir kamen allerlei Bedenken, die sich größtenteils mit seinen Ausführungen decken. Ein Punkt, der auch mich nachdenklich stimmt, ist vor allem auch die rätselhafte Mordangelegenheit an dem Rittmeister von Wrede in Ingolstadt. – –«

»Bravo!« rief Lutz.

»Danke,« meinte Fischer trocken. »Ich bin seit Anhören Ihres Berichtes überzeugt gewesen, daß sich bei einem einigermaßen klugen Nachforschen Zusammenhänge mit dem heutigen Verbrechen herbeiführen lassen. – Ich halte es unbedingt für notwendig, daß jemand von uns nach Ingolstadt fährt, die Gerichtsakten durchstudiert, und sich gegebenenfalls mit dem Regimentskommandeur direkt in Verbindung setzt.«

Lutz erhob sich und zog seine Uhr. »Halb neun,« sagte er. »Noch eineinhalb Stunden Zeit.«

Fischer hatte sofort verstanden.

»Ich freue mich, daß Sie selbst nach Ingolstadt reisen wollen, Herr Doktor. Sie haben morgen den ganzen Vormittag zur Verfügung. Ich avisiere Sie dem dortigen Kommandeur durch ein Telegramm. Einverstanden?!«

Lutz nickte nur, dann verabschiedete er sich kurz von den Polizeibeamten.

Eine Stunde später fuhr er mit dem Münchener Nachtschnellzug ab.


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