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Sechstes Kapitel

»Nehmen Sie meine Frage nicht übel, Herr Doktor,« sagte Rademacher, vielleicht aus dem unbestimmten Gefühl heraus, auch etwas tun zu müssen, zum mindesten eine Meinung zu äußern. »Ich halte es, wie die Dinge liegen, für einen Fehler, nicht sofort im Hotel Großherzog recherchiert zu haben. Der Täter ist, falls er sich überhaupt dort befunden haben sollte, was ich für meine Person auch annehmen möchte, selbstverständlich längst ausgeflogen –«

Lutz sah Rademacher belustigt von der Seite an. »Das stimmt,« meinte er gutgelaunt, »nur wäre es unbedingt notwendig gewesen, sofort nach Abfeuern des Schusses das Hotel durchsuchen zu lassen. Glauben Sie mir, lieber Rademacher, der Täter verschwand im gleichen Augenblick aus dem Hotel, als er sich von der Wirkung seines Schusses überzeugt hatte. Ich halte es für durchaus wahrscheinlich, daß wir im Hotel noch manches erfahren werden, was uns auf die Spur des Mörders bringt, denn kein Verbrechen wird verübt, ohne Spuren zu hinterlassen, aber den Täter selbst finden wir nicht mehr, der ist längst über alle Berge. Nichtsdestoweniger haben wir aus anderen Gründen keine Zeit mehr zu verlieren.« –

Der Besitzer des neuerbauten Hotels Großherzog von Hessen kam den Polizeibeamten bereits unter der Türe entgegen. Er begrüßte den ihm natürlich wohlbekannten Friedberger Kommissar und machte Lutz, der neben dem Kommissar stand, eine höfliche Verbeugung.

»Steinhäuser,« sagte er vorstellend.

Auch Lutz nannte seinen Namen. »Können wir Sie einen Augenblick allein sprechen, Herr Steinhäuser?« fragte er.

Der Hotelier öffnete die Türe zu seinem im Hotelvestibül liegenden Privatzimmer und bat die Herren einzutreten.

»Ich werde sofort für eine kleine Erfrischung Sorge tragen,« sagte er zuvorkommend.

Lutz wehrte dankend ab. »Ich habe erst einige wichtige Fragen an Sie zu richten. Von dem Verbrechen, dem ein Reisender des Frankfurt-Hamburger Schnellzuges zum Opfer fiel, haben Sie ja schon gehört. Ist Ihnen aber auch bekannt, daß die Spuren des Täters in Ihr Hotel weisen?!« – –

Der Hotelier verfärbte sich leicht. »Allmächtiger!« rief er aus. »Da werde ich schöne Unannehmlichkeiten haben!«

»Ich glaube nicht,« beruhigte ihn Dr. Lutz. »Wir kommen vorerst nur in der Absicht, einige Fragen an Sie zu stellen. Haben Sie zur Zeit, als der D-Zug einfuhr, also genau um 10 Uhr 5 Minuten, einen Schuß aus einem Ihrer Hotelzimmer fallen hören?« –

»Nein, Herr Doktor, bestimmt nicht,« antwortete Herr Steinhäuser aufatmend. »Das kann ich beschwören!« –

»Gut!« sagte Lutz. »Nun eine weitere Frage. Ist Ihr Hotel augenblicklich stark besetzt?«

»Nein, Herr Doktor. Leider nicht. Mein Hotel kommt nur für Passanten in Frage. Geschäftsreisende, also die ständigen Jahresgäste, gehen, trotzdem mein Haus neuer und die Verpflegung bestimmt besser ist, aus alter Gewohnheit ins Hotel Treppe in die Stadt.

»Wieviel Leute wohnen gegenwärtig in Ihrem Hotel, bezw. sind seit gestern oder vorgestern abend eingezogen?«

»Knapp ein halbes Dutzend. Die Namen kann ich Ihnen natürlich aus dem Gedächtnis hersagen. – Herr Schiemann, Referendar am Amtsgericht. Er wohnt schon seit zwei Monaten bei mir.

»Weiter!« –

»Herr Sally Jacob mit Frau!« – –

»Seit wann wohnt er bei Ihnen?«

»Seit sechs bis sieben Tagen. Er gebraucht die Kur drüben in Bad Nauheim, wohnt aber bei mir in Friedberg und geht morgens zu Fuß hinüber, weil die Logispreise in Friedberg bedeutend niedriger sind!« –

»Schön. Welche Gäste haben Sie noch?«

»Herrn Max Grünebaum, Geschäftsreisender aus Frankfurt a/Main. Er kommt schon seit sechs Jahren zu mir und war schon in Schotten, wo ich den Hessischen Hof besaß, mein Gast!« – –

»Weiter!« –

»Fräulein Kläre Hedemann aus Goslar, eine junge Dame, die seit zwei Tagen hier wohnt!« – –

»In welchem Stockwerk?«

»Im ersten Stock, Herr Doktor. Fräulein Hedemann ist die Verlobte des jungen Besitzers der Apotheke zu den drei Schwertern, und weilt hier zum Besuch ihrer Schwiegereltern, will aber aus Gründen des Takts nicht im Hause ihrer Schwiegereltern logieren.«

»Sehr lobenswert von der jungen Dame,« meinte Lutz. »Aber Fräulein Hedemann interessiert mich nicht. Wohnt noch jemand bei Ihnen?«

»Nein. Ein Gast, der gestern abend ankam, ist heute morgen mit dem Personenzug 10 Uhr 14 nach Gießen weitergereist.«

»Gerade dieser Gast interessiert uns, Herr Steinhäuser. Welches Zimmer bewohnte er?«

»Nr. 27 im dritten Stock.«

»Hatten Sie einen besonderen Grund, ihn im dritten Stockwerk unterzubringen, wo Sie doch beinahe das ganze Haus leerstehen haben?« –

»Es geschah auf besonderen Wunsch von Herrn Müller – so hieß der Gast. Er wünschte ruhig zu wohnen und glaubte auch, daß die Zimmer im dritten Stock billiger seien, als in der ersten oder zweiten Etage.«

»Haben Sie den Fremdenzettel noch hier?«

»Jawohl. Er sollte erst heute nachmittag zur Polizei gebracht werden.«

»Wie nannte sich der Herr?«

»Fritz Müller, Schauspieler aus Frankfurt a/Main.«

»Wie alt war er ungefähr?«

»Noch jung, Herr Doktor. 25-30 Jahre vielleicht, ein schlanker, hübscher, zierlicher Bursche. Er kam gestern abend mit dem Schnellzug 9 Uhr 20 aus Frankfurt a/Main, ließ sich das Abendessen auf dem Zimmer servieren und ging sofort zu Bett. Heute vormittag beglich er nach dem Kaffee seine Rechnung, weil er mit dem 10 Uhr-Zug weiter fahren wollte.«

»Er reiste auch mit dem Gießener Personenzug ab?«

»Ja, aber er mußte sich in der Zeit versehen haben. Denn obgleich er den ganzen vormittag wartend im Hotel blieb, verließ er es doch erst im letzten Augenblick, als der Zug bereits eingelaufen war.« – –

Lutz und Rademacher wechselten einen schnellen Blick.

»Erinnern Sie sich an die Kleidung des Herrn Müller?« fragte Dr. Lutz den Hotelier.

Dieser dachte einen Augenblick nach. »Ja,« sagte er. »Herr Müller trug einen eleganten, gutsitzenden grauen Sommeranzug aus sogenanntem Pepitastoff und einen weißen Panamahut, mit rotweiß gestreiftem Band. Mir fiel das Band besonders auf, weil es die hessischen Landesfarben hatte.«

»Besaß Herr Müller Gepäck?«

»Nur eine kleine, braune, rindlederne Handtasche, die er selbst zur Bahn hinübertrug.«

»Hatte er einen Stock, oder ein Futteral, das ein Gewehr enthalten haben könnte?«

»Nein, Herr Doktor. Ich weiß bestimmt, daß er außer der kleinen Tasche, die etwa 50-55 Zentimeter lang war, nichts, keinen Schirm, keinen Stock, und vor allem kein Gewehrfutteral bei sich trug. Ich lasse aus geschäftlichen Gründen keinen Gast aus meinem Hotel weggehen, ohne ihm freundlich Lebewohl gesagt zu haben, ich stand in der Türe und sah Herrn Müller nach, der schnell und leichtfüßig nach dem Bahnhof eilte, und im Stationsgebäude verschwand.« – –

Lutz rief Muschal herbei und erteilte ihm leise einen Auftrag. Der Wachtmeister verließ sofort das Zimmer. Lutz sagte zu dem Hotelier:

»Der Raum, wo Herr Müller aus Frankfurt genächtigt hat, ist doch wohl noch frei?«

»Jawohl Herr Doktor. Ich werde Sie sofort selbst nach oben begleiten.«

»Später, Herr Steinhäuser. Vorher möchte ich noch gerne das Mädchen sprechen, dem die Bedienung im dritten Stock untersteht.«

Einige Sekunden später stand ein junges, frisches Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren vor den vier Männern. Es mochte in der Nähe gewartet haben. Ein wenig befangen, aber offen und voller Erwartung sah es Lutz, der das Gesicht der Kleinen wohlwollend, prüfend betrachtete, in die Augen.

»Fräulein,« sagte er, »wir sind von der Frankfurter Kriminalpolizei und haben einige Fragen an Sie zu richten. Wie heißen Sie?« –

»Lisbeth Merker!«

»Sind Sie aus der hiesigen Gegend?«

»Ja Herr, aus Wölfersheim im Kreis Friedberg.«

»Sie machen den Eindruck eines klugen Mädchens und wissen wohl, daß Sie der Polizei die reine Wahrheit sagen müssen. Sie dürfen nichts vergessen und nichts selbst hinzufügen, denn Sie werden Ihre Aussagen wahrscheinlich vor Gericht zu beschwören haben und die Heiligkeit des Eides ist Ihnen sicher bekannt. Es interessiert mich, von Ihnen etwas Näheres über den Schauspieler Müller, der gestern nacht im Zimmer Nr. 27 gewohnt hat, zu erfahren. Sahen Sie diesen Gast und sprachen Sie mit ihm?«

»Ja – ich hab' ihm abends das Esse gebracht, und da hat er e bißche mit mir poussiere wolle, so wie sie's schließlich alle mache. Aber zudringlich ist er net geworde.«

»Haben Sie irgend etwas Auffälliges an Herrn Müller wahrgenommen. Ist Ihnen vielleicht eine gewisse Erregtheit aufgefallen, gestern abend oder heute früh?«

Das Mädchen zögerte einen Augenblick mit der Antwort.

»Erregtheit?!« – – wiederholte es langsam. »Nei, davo hab' ich nix gemerkt, aber daß er uns alle geuzt hat, der Herr Müller, das muß ich nun doch sage!«

»Geuzt? Also betrogen?« fragte Lutz. »Wie soll ich das verstehen?«

Das Mädchen strich verlegen an seiner weißen Schürze auf und nieder. »Ich weiß net,« sagte es zögernd, mit einem Blick auf Herrn Steinhäuser, »ob ich alles sage derf!« –

»Aber selbstverständlich derfe Se!« rief Herr Steinhäuser, nun auch in den oberhessischen Dialekt verfallend, aus. »Sie müsse sogar alles sage. Die Herre hier hawwe das Recht, Sie sofort eizusperre, wenn Se net die reine Wahrheit sage. Also los! Was is mit Herr Müller?«

Das Mädchen sah Lutz mit einem halb ängstlichen, halb verlegenen Lächeln ins Gesicht, konnte aber in dessen freundlich lächelnden Mienen keine für sich gefährliche Absicht entdecken.

»Wir sind nicht so schlimm,« sagte Lutz auffordernd. »Junge Mädchen wie Sie, wenn sie brav die Wahrheit sagen, kommen nicht ins Gefängnis, also reden Sie ruhig. Was ist Ihnen an Herrn Müller als verdächtig aufgefallen?«

»Daß es kein Herr Müller, sondern eine Frau Müller war!« – –

»Was?!«

»Jawohl!« antwortete das Mädchen mit einem gewissen Triumph, »es war e Frau in Männerkleider

» Cherchez la femme!« – sagte Rademacher leise.

»Das ist aber außerordentlich seltsam!« meinte Lutz mit stark unterstrichener Bedenklichkeit. »Wie kamen Sie auf diese sensationelle Entdeckung?«

»Mir fiel eigentlich schon die helle Stimm von dem Mann auf,« sagte das Mädchen, das jetzt alle Schüchternheit verloren hatte, »und dann merkt ich, als ich ihm das Esse gebracht hab, daß er e Perück trug. Dabei hab ich mer allerdings zuerst nix gedacht, denn Herr Müller war ja Schauspieler. Aber später!« – – –

»Nun?«

»Gegen neun Uhr wollt ich das Zimmer für die Nacht herrichte. Ich konnt aber ins Zimmer net rein, weil Herr Müller net rauskomme wollt, und der Chef hat uns streng verbote, die Gäst zu belästige, vor allem möglichst wenig in die Zimmer zu komme, solange se net leer sind. – Ich hab mich deshalb auf mein gewöhnliche Platz an der Trepp gesetzt und den Generalanzeigerroman gelese. Als Herr Müller auf die Toilette ging, hab ich im Zimmer das Bett abgedeckt. Und – – – –!« Das Mädchen zögerte und eine leichte Verlegenheitsröte färbte sein Gesicht.

»Gestehen Sie's nur ehrlich,« meinte Lutz und lachte, »Sie haben ein wenig spioniert. Sie können Ihre an und für sich verzeihliche Neugierde hier ohne Befürchtung eingestehen, umso mehr, als Sie der Untersuchung damit wahrscheinlich einen großen Dienst geleistet haben. Stimmt meine Vermutung? Haben Sie das Gepäck des Gastes ein wenig revidiert?« –

»Ja Herr – aber ich hab nix Unrechtes tun wolle. Ich hab mich nur gewundert, daß der Gast sein Toilettezeug wie Seif, Waschlappe und so weiter noch net ausgepackt hat, und da hab ich emal in sein Koffer reingeguckt.«

»Nun?« fragte Lutz belustigt aber gleichzeitig doch ein wenig gespannt. »Was fanden Sie?« –

»En Schlafanzug, en Manikürkaste, e Puderdos und e Puderquast un – – – –«

»Nun und – –?!«

»Noch en Büstehalter und – – – frei herausgesagt – – en angebrochenes Paket Damenbinden. Und da hab ich gedacht – – – –«

»Daß Herr Müller nicht gut männlichen Geschlechts sein konnte!« fiel Lutz lachend ein.

»Ja,« erwiderte das Mädchen lächelnd, »das hab ich auch gedacht. Daß ein Mann sich pudert, hat mich net gewundert, das kommt doch grad bei Schauspielern schon vor, aber – – – – wege dem andere – –«

»Ich weiß schon!« fiel Lutz lachend ein. »Daß ein Mann ausgerechnet einen Büstenhalter und Monatsbinden mit sich herumschleppt, mußte Ihnen logischer Weise recht seltsam vorkommen. – Was sagen Sie nun?« wandte sich Lutz wieder außerordentlich ernst an Rademacher. »Die Geschichte wächst sich zu einem Kapitalverbrechen heraus und wird immer komplizierter. – Wenn der Mann eine Frau war – – –!«

» Es war bestimmt eine Frau!« fiel das Mädchen ein.

»Haben Sie noch weitere dahingehende Beobachtungen machen können?«

»Ja. – Ich war natürlich neugierig geworde, und hab später, als Herr Müller sich ausgezoge hat, um schlafe zu gehe, dorchs Schlisselloch geguckt. Viel hab ich net sehe könne, weil er gleich schlafen gegange is un das Licht ausgedreht hat. Aber vom Schlisselloch aus konnt ich direkt auf den Waschtisch sehe, und da sah ich ihn stehe, wie er sich frisiert. Sei Perück hat er abgenomme un auf den Stuhl gelegt, und darunter war langes Frauenhaar in ein Knote aufgesteckt.«

»Welche Farbe hatte das wirkliche Haar?«

»Ganz dunkelbraun, beinah schwarz!« –

»Tscha!« machte Lutz, »das ist alles wirklich hochinteressant. Nun noch etwas, mein Kind. Haben Sie im Gepäck des Herrn Müller, der eine Frau war, vielleicht ein Gewehr entdecken können?«

»Gewehr?!« wiederholte das Mädchen erstaunt. »Nein, en Gewehr hat se kein gehabt, bestimmt net.«

»Außer dem vorhin bereits aufgezählten Inhalt haben Sie in der Handtasche nichts mehr gefunden?«

»Doch, noch e Paket in Packpapier, aber was drin war, weiß ich natürlich net.«

»Haben Sie Herrn Müller heute morgen noch gesprochen.«

»Ja, ich bracht ihm um 9 Uhr den Kaffee. Er war schon vollständig angezoge, hat sein Panamahut aufgehabt und saß am Tisch mit der Zeitung. Um 10 Uhr wollt er abreise, er gab mir drei Mark Trinkgeld für die Bedienung, dann hab ich ihn net mehr gesehe. –«

»Jetzt, Fräulein Lisbeth, habe ich noch eine letzte, aber vielleicht die wichtigste Frage an Sie zu stellen. Haben Sie gegen zehn Uhr im Hause einen Schuß fallen hören?«

»Nein, Herr. Bestimmt net.«

»Dann, liebes Kind,« sagte Lutz und reichte dem Mädchen freundlich die Hand, »danke ich Ihnen. Sie haben mir mit Ihrer Aufmerksamkeit und guten Beobachtung einen großen Dienst erwiesen. – – Darf ich Sie nun bitten, Herr Steinhäuser, das übrige Dienstpersonal hereinzurufen.«

Der Kellner namens Hermann und August, der Hausdiener, waren nicht in der Lage, etwas aussagen zu können. Der Kellner hatte den Pseudo-Müller überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Einen Schuß hatte keiner gehört.

Muschal betrat das Zimmer wieder.

»Der Bahnbeamte an der Sperre,« rapportierte er leise, »erinnert sich genau an einen Reisenden, der kurz vor Abgang des Gießener Personenzugs durch die Sperre eilte. Er hat die Person des Mannes aus zwei Gründen im Gedächtnis, erstens, weil er eine Karte zweiter Klasse besaß, die für die Personenzüge auf kurze Strecken hier selten ausgegeben werden, zweitens fiel ihm der Panamahut mit dem farbigen Band in die Augen.«

»Nach welcher Station war die Karte ausgestellt?«

»Dessen erinnert sich der Mann nicht mehr, Herr Doktor.«

»Schön. Das ist ja vorerst auch ziemlich gleichgiltig. Ich möchte jetzt gerne das Zimmer des mysteriösen Herrn Müller besichtigen.«

Die Stube Nr. 27 im dritten Stock wies die übliche schablonenmäßige Eleganz der Hotels zweiten Ranges auf. Da das Mobiliar jedoch fast neu war, wirkte das Zimmer in seiner Frische und Sauberkeit nicht unfreundlich. Den größten Raum beanspruchte das noch nicht wieder zurechtgemachte Bett, außerdem fanden sich an Möbeln vor: eine billige Chaiselongue, ein Kleiderschrank mit Spiegeleinlage, ein Tisch und zwei Stühle, sowie der Waschtisch und der obligate Bock zum Aufstellen des Gepäcks.

Lutz hatte, ohne lange zu zögern, zuerst das Bett einer näheren Besichtigung unterzogen, schien aber nichts gefunden zu haben, dann suchte er systematisch das Zimmer ab.

Er kroch unter das Bett, blickte unter den Schrank und Waschtisch und untersuchte die Wasserflasche und das Glas auf Fingerspuren, fand aber nichts. –

Die mit einer mehr oder weniger kühnen Phantasie begabten Kriminalschriftsteller aller Länder sind nun gezwungen, ein Indizium zu erfinden, das in einer derart heiklen Situation der armen Fahndungspolizei auf die Spur helfen kann.

Hoch lebe der Hosen- und Manschettenknopf, sowie die Haarspange der weiblichen Verbrecherin!

Die Herrschaften vergessen aber, daß das meist zufällige Abreißen eines Knopfes, (den die Polizei selbstverständlich mitten auf dem Teppich liegend sofort findet) schon ein recht verbrauchtes Requisit bedeutet, ganz abgesehen davon, daß es wenig glaubhaft wirkt, wenn der Täter immer einen Knopf, sein Taschenmesser mit eingravierter Adresse, oder, falls es eine Frau ist, eine kostbare Schildpattspange ausgerechnet am Tatort verliert. Die Karre ist verfahren, die Untersuchung sitzt fest, aber der arme Roman- oder Filmdetektiv muß weiter kommen, und so wartet denn der Leser mit einer schmunzelnden ironischen Neugier auf den obligaten Hosen- oder Handschuhknopf. Der Kriminalfachmann, falls er derartige phantasievolle Elaborate liest, hat aber zu einem Erstaunen keine Veranlassung, weiß er doch, daß ein Roman- oder Filmdetektiv keine Mißerfolge erleiden darf, daß es seine Pflicht ist, nach mehr oder weniger kühnen Verwicklungen den Täter zur Strecke zu bringen. Diese Lösung ist der Autor dem Leser und der Filmregisseur dem Kinopublikum schließlich schuldig.

Aber leider pflegt es im nüchternen, praktischen Fahndungs- und Ermittlungsdienst nicht immer und überall nach roman- oder filmdramaturgischen Gesichtspunkten zuzugehen, und wenn der Romandetektiv oder Herr Stuart Webbs im Film stets einen Gegenstand auf dem Tatort findet, der ihn mit Sicherheit auf die Spur des Täters führt, so ist der praktische Kriminalist in den seltensten Fällen derart vom Meister Zufall oder der Göttin Fortuna begünstigt, aus welchem Grunde wir es hier auch leider ablehnen müssen, unserem Freund Dr. Lutz einen Hosenknopf mit der Firma des Schneiders oder gar die Visitkarte des Täters mit der exakt gedruckten Adresse »zufällig« in die Hände zu spielen.

Lutz fand an der Tatstelle im Zimmer Nr. 27 des Hotels Großherzog von Hessen in Friedberg nichts, aber auch gar nichts, was einen Rückschluß auf die Person des Täters zulassen konnte, wenn man von einem kleinen Büschel dunkler Frauenhaare absehen will, die er aus dem Toiletteneimer herausfischte.

Dr. Lutz trug auf allen seinen Dienstgängen eine kleine Ledertasche um den Leib, (unter der Kleidung) die außer anderen für eine Kriminaluntersuchung notwendigen Dingen auch stets ein kleines Taschenmikroskop enthielt, ein Umstand, der ihm eine sofortige Prüfung der gefundenen Haare ermöglichte. – Er stellte unschwer fest, daß sie einer 25-30 jährigen Frau angehört haben mußten, womit ihm aber nichts Neues gesagt wurde. Als Bestätigung der Aussagen des Stubenmädchens schien diese Entdeckung allerdings von einer gewissen – wenn auch verhältnismäßig geringen Bedeutung.

Eine besondere Aufmerksamkeit schenkte Lutz der Fensterpartie des Zimmers. Er untersuchte mit einer starken Lupe die verschiedenen Scheiben, wo ihn einige wenige wasserklare Spritzerchen derart interessierten, daß er eines dieser Tröpfchen vorsichtig mit einer Pinzette abhob und unter das Mikroskop brachte. Einen gleichen Tropfen fand er auf dem Boden vor der Fensterpartie.

Nach Beendigung der Untersuchung schob er ruhig das Mikroskop zusammen, schnallte die Kommissionstasche zu und schlüpfte in seinen Ueberrock, den er bei der Untersuchung als hinderlich empfunden und auf den Tisch gelegt hatte.

Ob die Untersuchung des Zimmers ein praktisches Ergebnis gezeitigt hatte, konnte man seinen gleichmäßig ruhigen und ernsten Mienen nicht ansehen. Er nahm gelassen seine Sportmütze, reichte dem Friedberger Kommissar die Hand und sagte zu Rademacher:

»Lassen Sie bitte ankurbeln, wir fahren nach Hause.« – –


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