Paul Schreckenbach
Michael Meyenburg
Paul Schreckenbach

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V.

Drei Tage lang lag Michael Meyenburg in schwerem Fieber, und in der dritten Nacht schien es, als solle der Tod Herr über ihn werden. Er raste in wilden Phantasien, und seine Freunde Hauschild und Eienrot, die mit Anna an seinem Bette wachten, hatten alle Mühe, ihn festzuhalten, daß er sich den Verband seiner Wunde nicht abriß. Aber am anderen Morgen war er wie umgewandelt, das Fieber hatte ihn verlassen und kehrte auch nicht zurück, und nun erholte er sich mit einer Schnelligkeit, die alle überraschte. Am fünften Tage verließ er das Bett und stieg bereits wieder hinab in seinen Garten, am siebenten empfing er eine Abordnung des Rates, die ihm seine Wahl zum Bürgermeister an Stelle des plötzlich verstorbenen Herrn Johann Wenderodt mitteilte.

Im Prunkzimmer des Hauses, das zu ebener Erde nach dem Hofe hinaus gelegen war, verweilten die drei Herren mit ihm wohl eine halbe Stunde lang. Anna hatte ihnen zwei Flaschen Malvasier hineinbringen lassen, und da sie unter den dreien die zwei trinkfrohesten Herren der Stadt erkannt hatte, war sie ahnenden Geistes in den Keller hinabgestiegen und brachte die dritte herauf. Die wäre beinahe ihrer Hand entglitten, denn vor ihr stand, wie aus dem Boden gewachsen, Philipp Melanchthon in der Hausflur.

»Herr!« rief sie freudig und erstaunt. »Wie seid Ihr angekommen? Ich habe doch keinen Wagen gehört. Nun: Gott zum Gruße!«

»Ich bin gestern abend bei meinem Freunde Spangenberg abgestiegen. Er hat mir alles erzählt, was mit unserem Michael geschehen ist. Eine schändliche Tat, die, wie ich hoffe, eine blutige Sühne finden wird! Aber, daß sie ihn gestern zum Bürgermeister gewählt haben –«

Er wurde unterbrochen, denn die Tür zur linken Seite der Hausflur wurde geöffnet. Michael Meyenburg geleitete seine Gäste hinaus. Als er sich von ihnen abkehrte, wurde er seines Freundes gewahr und eilte mit weitausgestreckter Hand auf ihn zu. »Ei sieh da! Melanchthon!« rief er freudig. »Gott zum Gruße! Was führt Euch denn nach Nordhausen? Wollt Ihr mir Glück wünschen dazu, daß ich wieder zum Leben erwacht bin. oder zu meiner neuen Würde als Bürgermeister?«

»Zu beidem wünsche ich Euch zwar von ganzem Herzen Glück,« erwiderte Melanchthon, seine Hand ergreifend und schüttelnd, »aber beides habe ich erst gestern bei Spangenberg erfahren.« »Wie?« rief Meyenburg. »Ihr seid schon seit gestern abend in der Stadt und seid bei Spangenberg abgestiegen und nicht bei mir? Was soll das heißen? Wie kommt Ihr auf den Einfall?«

In Melanchthons schmale Wangen trat eine leichte Röte, und etwas verlegen suchte er nach Worten. »Offen gesagt,« erwiderte er, »ich wußte nicht, wie Ihr mich aufnehmen würdet.«

Höchst erstaunt blickte ihn Meyenburg an. »Bin ich ein launisches Mädchen? Oder haben wir etwas miteinander gehabt? Ich verstehe Euch nicht.«

»Nun,« entgegnete Melanchthon unsicher und befangen, »ich fürchtete, werter Freund, Ihr wäret voller Zorn auf alle Wittenberger, des Briefes halber, den Luther an Jonas über Euch geschrieben hat und den Jonas, wie er mir sagte. Euch ausgehändigt hat.«

»Ich weiß von keinem Briefe Luthers. In meine Hände ist keiner gekommen.«

Da trat Anna heran, die das Gespräch mit angehört hatte, und indem sie das Haupt senkte, als sei sie sich einer Schuld bewußt, bat sie mit leiser Stimme: »Zürne mir nicht, Michael. Ich habe den Brief, den mir Doktor Jonas gegeben, bisher heimlich behalten und noch nicht in deine Hand gelegt. Daß er von Doktor Luther ist, wußt' ich nicht. Herr Doktor Jonas sagte aber, was drin stünde, würde dir großen Ärger und Verdruß, ja sogar einen schweren Kummer bereiten. Da du nun so krank warst, verschob ich's von einem Tage zum anderen, ihn dir zu geben. Morgen früh aber wollt ich's tun. Heute nicht, damit deine Freude nicht gestört werde darüber, daß sie dich zum Bürgermeister erhöht haben.«

Scheu hob sie den Blick, um zu prüfen, ob er recht zornig wäre über ihre Eigenmächtigkeit, aber gütig ruhte sein Auge auf ihr, und in seinem Blicke lag wieder der Ausdruck, der sie schon neulich in so große Verwirrung gebracht hatte. Sie senkte das Haupt noch tiefer, und Purpurglut überflutete ihr Antlitz.

»Ich danke dir, Anna,« sagte er, »daß du so freundlich bist um mich besorgt gewesen. Jetzt aber gehe und hole den Brief.«

»Nein!« fiel Melanchthon hastig ein. »Holt ihn nicht. Schickt ihn unerbrochen an Justus Jonas zurück. Das wird das beste sein. Denn ich sage Euch: er ist in der Hitze und Übereilung von Luther geschrieben, und es ist besser für ihn und für Euch, wenn Ihr ihn gar nicht lest. Es wird mir wohl gelingen, ihn zu besänftigen und zu beschwichtigen, wie ich das ja so oftmals habe tun müssen, wenn der zornige Mann über sein Ziel hinausgeschossen hatte im Streite mit seinen Widersachern.«

Meyenburg hob erstaunt das Haupt empor und blickte ihn betroffen an. »Was soll das? Bin ich Doktor Luthers Widersacher? Ich meine, er hat nicht viele Freunde, die ihm treuer sind als ich. Hole den Brief, Anna, ich will wissen, was darinnen steht.«

Eine Weile später saß Melanchthon in dem Gemache, das die Ratsherren eben verlassen hatten, und beobachtete ängstlich seinen Freund. Meyenburg hatte sich ans Fenster gestellt, um besser sehen zu können, denn es war ein trüber Tag, und es drang nur wenig Licht herein durch die kleinen runden Scheiben. Das Begleitschreiben des Justus Jonas hatte er einstweilen auf den Tisch gelegt und sich sogleich dem Briefe Luthers zugewandt. Es kostete ihn nicht geringe Mühe, ihn zu entziffern, denn Luthers Handschrift gehörte ohnehin nicht zu den leicht lesbaren, und dieses Schreiben, das war auf den ersten Blick erkennbar, war in fliegender Hast auf das Papier geworfen worden. Aber mit der Zeit gelang es dem Lesenden dennoch, die Schrift zu entziffern, und Melanchthon sah mit Besorgnis, wie sich seine Züge veränderten, wie er abwechselnd errötete und erbleichte, endlich jäh sich umwandte und den Brief heftig auf den Tisch hinschleuderte. »Aber das ist unsinnig!« rief er. »Nein, das ist Luthers ganz und gar unwürdig.«

»Ach, lieber Freund,« begann Melanchthon, das Haupt während des Sprechens zur Erde gerichtet, »bedenkt, der das geschrieben hat, wie ich schon sagte, in der Hitze und Übereilung, ist ein kranker Mann. Er ist wieder einmal seit Wochen mit Kopfschmerz und Steinleiden geplagt, kann nicht schlafen und arbeitet sich dabei halb zu Tode, weil alle Welt ihn anläuft mit ihren Anliegen. An der Galle leidet er wohl auch, denn er sieht alles schwarz und verschont mit seiner Bitterkeit keinen. Ich bitt' Euch, Ihr wollet seiner Krankheit solches zugute halten und ihm nicht deshalb gram werden und vor allem nicht Euch entfremden lassen. Denn wie er zuweilen auch sein mag, seine Sache ist doch die Sache Gottes. Wir wollen sehen, wie wir den Handel beilegen und ihn Euch wieder geneigt machen, obschon es ein schweres Werk sein wird. Es kommt ihm sauer an, es einzusehen, wenn er im Unrecht ist. Was meint Ihr dazu?« Er hob den Kopf empor und sah ihm fragend ins Antlitz. Die Blicke finster zur Erde gerichtet, stand Meyenburg ans Fenster gelehnt da und rührte sich nicht, gab auch keine Antwort.

»Ich begreife es wohl, daß Ihr sehr zornig seid, aber ich beschwöre Euch, sagt oder schreibt nichts wider ihn im Zorne. Und haltet fest an dem, was Ihr als evangelische göttliche Wahrheit erkannt habt.«

Da reckte sich Meyenburg hoch auf, und wie ein Blitz zuckte es über sein Gesicht hin. »Die Antwort will ich Euch in Gegenwart einer Zeugin geben,« sagte er und schritt nach der Tür. »Anna!« rief er. »Komm doch einmal zu uns herein. Setze dich hierher, ich möchte, daß du anhörst, was ich Magister Philippus auf einen Brief Doktor Luthers zu sagen habe. Ich würde dir den Brief zu lesen geben, aber er ist lateinisch abgefaßt, und so muß ich dir zuvörderst sagen, um was es sich handelt:

Es ist ein Mensch zu Luther gekommen, der heißt Johannes Krause. Ich habe vielleicht einmal seinen Namen gehört, sonst kenne ich ihn nicht, weiß auch nichts von ihm. Er ist ein Mönch aus Walkenried, hängt aber dem Evangelium an und ist deshalb aus dem Kloster geschieden und scheint krank, blind und in großer Not zu sein, denn Luther nennt ihn einen armen Lazarus in seinem Briefe. Er hat sich an den Abt gewendet, der solle ihm aus dem Klostergute eine Zahlung lassen zukommen, aber der Abt hat das nicht getan. Da hat der Krause Luthern geklagt, der Abt verzehre und verbankettiere mit mir die Klostergüter, und allsogleich setzt sich Doktor Luther hin, schreibt flugs in einem Zorne, wie er selbst sagt, an Doktor Jonas, ohne jemanden zu fragen, wie die Dinge stehen, einen Fluch nicht nur wider den Abt, sondern auch wider mich. Verflucht und vermaledeit seien unsere Güter, und das Feuer möge kommen und auch das verschlingen, was wir mit Ehren und gutem Gewissen besäßen. Was sagst du dazu? Wie deucht dir das?«

Er hielt einen Augenblick inne und blickte zu Anna hinüber, die schreckensbleich und keines Wortes mächtig dasaß. »Wie deucht dir das?« wiederholte er.

»Das ist doch nicht möglich!« sagte sie leise.

»Es ist nicht nur möglich, sondern es ist geschehen. Und nun höre mit an, was ich Magister Philippus sage zu meiner Rechtfertigung. Zum ersten: ja, ich habe öfters mit dem Abte einen scharfen Trunk getan. Dabei habe ich Vorteile erlangt für mich, für meine Stadt und für die Sache Luthers selbst, denn ich habe den Abt dem Evangelium geneigt gemacht. Es werden ja die meisten Geschäfte bei einem Kruge Bier oder Wein verhandelt. Das weiß Doktor Luther und hält es zuweilen selber so.

Zum anderen: Ich kenne den Krause und seinen Notstand nicht, weiß auch nicht, was für einen Handel er mit dem Abte gehabt hat. Ich kümmere mich nicht um des Abtes Händel. So kann denn niemand von mir verlangen, daß ich den Abt vermahne, dem Mönche zu geben, was recht ist.

Das sagt dem Doktor Luther. Und Euch, lieber Magister Philippus, sage ich nun auch zum dritten, damit Ihr Euch nicht beunruhigt: ob Doktor Luther freundlich zu mir redet, oder übel und ungerecht in seinem Zorn wider mich verfährt, das macht mich nicht irre an seiner Lehre. Das Feuer, das er als Gottes Werkzeug in die Welt gebracht hat, das hat mich ergriffen und mein Herz entzündet, und es brennte auch dann weiter in mir, wenn es gar keinen Luther mehr gäbe in der Welt. Widerriefe er jetzt seine Lehre, so würde ich doch nicht widerrufen, denn ich stehe auf der Schrift und nicht auf ihm. Es macht mich aber auch nicht irre an seiner Person. Wäre es billig, von einem Menschen zu fordern, er solle ohne Fehler sein? Hatten nicht auch die hohen Apostel ihre Fehler? Hat nicht Sankt Paulus die Gemeinde Christi verfolgt? Hat nicht Sankt Petrus seinen Herrn verleugnet? So hat auch Martinus Luther seinen Fehler, das ist der Zorn, der ihn bisweilen übermannt. Ich will ihm deshalb nicht gram sein, wenn auch sein Brief mich wurmt. Ist er doch sonst aller deutschen und christlichen Tugenden voll und uns allen ein Exempel.«

»Freund!« rief Melanchthon aufspringend und beide Hände Meyenburgs ergreifend, »das hat Euch Gott selbst reden heißen. Ich trug große Sorge, Ihr würdet Euch vom Zorn gegen ihn lassen hinreißen, darum kam ich zu Euch. Aber Ihr sprecht wahrlich wie ein weiser Mann und wie ein Christ. Ihr könnt Euch selbst überwinden, was so wenige können.«

»Man lernt manches im Leben,« erwiderte Meyenburg ruhig. »Jetzt aber bitt' ich Euch, lieber Magister Philippus, gehet hinüber und laßt mich eine Weile allein mit dieser. Ich habe sie etwas zu fragen.«

Mit großer Behendigkeit schlüpfte Melanchthon zur Tür hinaus, indem er vergnügt vor sich hinlächelte. Die beiden waren allein, und Annas Herz begann mit einem Male heftig zu klopfen.

»Billigst du alles, was ich sagte?« fragte Meyenburg.

»Alles ganz und gar.«

»Und es liegt in deinen Augen kein Schatten auf mir, weil Doktor Luther mir in seinem Zorn geflucht hat?«

»Aber Michael! Du sagst es ja selbst, und Herr Melanchthon sagt es auch: es ist im Zorn und in der Übereilung geschehen. Ich meine, es wird ihn wohl selber bald gereuen.«

»Und wenn das nun nicht geschähe? Und wenn er nun beharrte in seiner unfreundlichen Gesinnung? Würde das dein Gemüt gegen mich erkälten?«

»Dann wäre mir gar nichts an seinem Spruche gelegen, denn du hast recht.«

Da ging ein helles Leuchten über sein Gesicht, wie sie es noch nie gesehen hatte, und freudigen Tones sagte er: »So bitte ich dich, das hier zu lesen.« Er zog aus seinem Wamse eine lederne Tasche und entnahm ihr ein Brieflein, das er ihr darbot. Als Anna die Aufschrift las, durchfuhr sie ein Schrecken, denn sie erkannte die Hand ihrer verstorbenen Base Ursula. »Da nimm,« sagte er, »es ist an dich und mich gerichtet. Sie hat es geschrieben am Tage vor der Nacht, in der sie starb, und es Philipp Melanchthon gegeben, daß er mir's einhändige ein Jahr nach ihrem Tode. Er hat mir's geschickt an dem Tage vor meinem Ritt nach Erfurt.«

Er trat in das Halbdunkel des Zimmers zurück, beobachtete sie aber scharf, während sie las, und sah, daß sie bis an die Haarwurzeln errötete. Als sie zu Ende gekommen war und das Blatt sinken ließ, trat er rasch auf sie zu und fragte: »Ist es wahr, Anna, was in dem Briefe steht, daß du mich lieb gehabt und im Herzen getragen hast so viele Jahre lang?«

Einen kurzen Augenblick zögerte sie mit der Antwort, dann aber hob sie frei den Blick zu ihm empor und sagte klar und ehrlich: »Ja, Michael. Schon als ich ein kleines Mädchen war und dann all die Jahre, in denen du nichts nach mir fragtest.«

»Wie könnt' ich nach dir fragen?« rief er. »Ich war an eine andere gebunden und habe sie von Herzen lieb gehabt und bin glücklich mit ihr gewesen, und sie hat mir alle Süßigkeit gegeben, die ein liebendes Weib dem Manne gibt. Ich werde und kann sie auch nimmer vergessen, das gute, liebe Herz. Aber nun gehört sie zu denen, die in einer anderen Welt leben, und sie selber hat es gewollt, daß ich nicht allein bleiben soll. Ist es dir genug, Anna, daß du neben ihr einen Platz habest in meinem Herzen, so bitte ich dich, werde mein Weib. Ich will dir alle Liebe und Treue erzeigen, und ich denke, ich werde dich mit jedem Tage lieber haben.«

»Ich neide der Toten deine Liebe nicht,« gab Anna zur Antwort. »Wenn du mich nur auch lieb hast, Michael, so will ich von Herzen gern dein Weib werden.« Dabei sah sie ihn mit strahlenden Augen an, und er las in ihren Blicken, welch ein Schatz von Liebe und Hingabe ihm hier dargeboten wurde.

Da beugte er sich zu ihr hernieder und umfing sie und küßte sie fest auf den Mund.

Dann gingen die beiden hinüber, um dem Magister Philipp Melanchthon ihr junges Glück zu künden.


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