Paul Schreckenbach
Michael Meyenburg
Paul Schreckenbach

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IX.

Am übernächsten Tage, als das Geläut von der Kirche St. Blasii die Stunde des Mittags verkündete, saß Michael Meyenburg in seinem Hause am Hagen in Nordhausen einsam beim Mahle. Er war gestern abend nach der Heimat zurückgekehrt, ohne in Mühlhausen Rast zu machen. Die Freude, die der Mühlhauser Bürgermeister Rodemann, sein Reisegenosse, über die Kunde von Luthers Gefangennahme an den Tag gelegt hatte, war die Ursache eines scharfen Wortwechsels zwischen den beiden Männern gewesen, und sie hatten sich, wenn auch nicht in Feindschaft, so doch im halben Unfrieden voneinander getrennt.

Heute in der Frühe hatte er auf dem Rathause Bericht abgestattet von seiner Reise und ihren Erfolgen und hatte reiches Lob geerntet. Denn was die Stadt beim Kaiser hatte erreichen wollen, war ihm zu erreichen geglückt, nicht am wenigsten durch den Beirat des kaiserlichen Geheimschreibers Obernburger, in dem er so unvermutet einen alten Kindheits- und Jugendfreund wiedergefunden hatte. Es war ihm klar geworden, daß er schon um seiner Stadt willen die Beziehungen zu diesem Manne mit großer Sorgfalt weiterpflegen müsse.

Jetzt saß er vor einem stattlichen Schweinebraten und ließ sich's wohl sein. Er hieb tüchtig ein, und von Zeit zu Zeit nahm er einen kräftigen Schluck aus dem Kruge, in dem eine nicht geringe Menge goldbraunen Nordhäuser Bieres wogte. Denn Michael Meyenburg war den Freuden dieses Erdenlebens keineswegs abhold, und ein guter Trunk deuchte ihm Goldes wert. Seine große Beliebtheit unter den Bürgern und Ratsherren der trinkfreudigen Stadt an der Zorge hatte er zweifellos seiner Fähigkeit und Willigkeit zu danken, womit er jedermann beim Becher fröhlich und ausgiebig Bescheid tat. Männer dieser Art schätzten die Nordhäuser sehr, Leute, die nicht lebten und leben ließen, waren ihnen zuwider. Als er mit seiner Mahlzeit fertig war, lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und überdachte, was er in den nächsten Tagen tun wollte. Am Abend wollte er in die Ratsapotheke am Salzmarkt gehen, wo er solange nicht gewesen war. Schon hatte er dem Ratsapotheker, Herrn Blasius Michel, gesagt, er solle alle Freunde Luthers in seiner Hinterstube versammeln, er werde ihnen erzählen, wie der gewaltige Mann sich in Worms gehalten. Herr Blasius war außer sich vor Freude gewesen, weil er ihn so ganz und gar verwandelt gefunden, und hatte mit Freuden zugesagt. Dann wollte er sich Urlaub vom Rate erbitten und zu dem Grafen Ernst von Hohnstein reiten. Denn auch dessen Angelegenheit hatte er trefflich besorgt und sich die hundert Gulden, die der Graf ihm versprochen, redlich verdient. Und kam er dann zurück, so sollten seine Freiwerber nach Erfurt ziehen und beim alten Lachensper um Ursulas Hand für ihn anhalten. Er zweifelte nicht daran, daß die angesehensten Männer der Stadt aus Freundschaft zu ihm dieses Amt übernehmen würden. Wieviel Ehen wurden so geschlossen, daß Freiwerber dem Vater einen Eidam antrugen, Männer, deren Ruf und Stellung dafür bürgten, daß sie keinen Unwürdigen empfahlen. Konnten nicht die Nordhäuser sehr Günstiges über ihn berichten? Die Stelle eines Syndikus war ihm sicher, denn Melchior von Aachen, der jetzt diese Würde bekleidete, hatte beständige Verdrießlichkeiten mit dem Rate und wollte aus dem Amte scheiden. Dann wurde sicherlich kein anderer erwählt als er, und als Notar und als Rechtskonsulent vieler benachbarter Grafen und Herren, die seinen ungewöhnlichen Scharfsinn und seine große Tatkraft zu schätzen wußten, erwarb er sich viel Geld. Er dachte an seine dürftige Jugend zurück und lächelte. Damals wäre ihm die Summe, die er jetzt verdiente, fast schwindelnd hoch erschienen. Ja, er hatte sich als Mann von kaum dreißig Jahren eine schöne Stellung in der Welt geschaffen, und er war entschlossen, dafür zu sorgen, daß er in zehn Jahren noch ganz anders dastand.

Aber wenn nun trotzdem der wunderliche, eigenwillige Greis seine Werbung zurückwies? Wenn er an dem Gedanken festhielt, seine Tochter ins Kloster zu bringen? Ach, er wollte daran jetzt nicht denken! In seiner gegenwärtigen Stimmung deuchte ihm das ganz unwahrscheinlich, ganz unmöglich. Er malte sich vielmehr aus, wie es sein würde, wenn seine junge blonde Hausfrau ihm erst hier gegenübersitzen würde. Nicht lange hier, denn er wollte ein neues Haus bauen. Das Grundstück dazu hatte er schon erworben für billiges Geld. Noch in diesem Monat sollte der Bau beginnen. Es sollte ein stattliches Haus werden, und dort wollte er mit ihr wohnen, und sein Heim sollte ihm ein Hafen des Friedens sein in der Unrast und den Kämpfen, die das Leben eines tätigen und ehrgeizigen Mannes nun einmal mit sich bringen mußten.

Es war eigentlich das erstemal in seinem Leben, daß er sich nach einem stillen häuslichen Glücke sehnte, aber diese Sehnsucht ergriff ihn nun auch mit um so stärkerer Gewalt. Wie eingesponnen in seine Gedanken und Träume saß er lange Zeit da. Er sah Ursulas Gestalt durch die Räume schreiten, den Schlüsselbund am Gürtel, zwei flachshaarige Buben an der Hand, ein kleines Mädchen schmiegte sich an seine Knie. Merkwürdig – es sah ihn mit den kornblumenblauen Augen des Kindes an, das er in Erfurt aus dem Wasser gezogen hatte.

Stimmen auf der Straße und Pferdegetrappel vor seinem Hause weckten ihn aus seiner Versunkenheit auf. Er trat ans Fenster und öffnete es. Zwei Männer waren eben im Begriff, von den Rossen zu steigen, der eine gekleidet wie ein vornehmer Bürger, der andere ein Reitersknecht mit Sporen und Eisenhaube. Sie verhandelten noch kurz mit einer Frau, die ihnen offenbar den Weg gewiesen hatte, und der Knecht drückte ihr ein Geldstück in die Hand. Er blieb dann draußen bei den Pferden stehen, während der Herr das Haus betrat. Einige Augenblicke später stand er auf der Schwelle des Gemaches.

Meyenburg ging ihm ein paar Schritte entgegen. Er hatte den Fremden für einen Abgesandten des Grafen Albrecht von Mansfeld gehalten, der öfter zu ihm kam und dem er von fern an Wuchs und Haltung ähnlich war, aber er blickte in ein ihm unbekanntes Gesicht.

»Bin ich recht im Hause des Herrn Stadtschreibers Meyenburg?« begann der Fremde, indem er sich verneigte.

»Der bin ich. Und wer seid Ihr, und was führt Euch zu mir?«

»Ich heiße Dotheus Lachensper,« erwiderte der Gast. Meyenburg horchte verwundert auf. Er wußte nicht, ob er lachen oder sich erzürnen sollte. Der Mensch war wohl ohne Zweifel ein Narr oder ein Betrüger.

»Ich bin nicht der aus Erfurt, den Ihr kennt,« fuhr der andere fort. »Der ist mein Vetter. Ich wohne in Gotha.«

»Ah!« rief Meyenburg. Er besann sich plötzlich, von diesem Verwandten seiner Braut schon einmal gehört zu haben. »Setzt Euch hierher. Habt Ihr schon gegessen? Viel findet Ihr nicht bei einem Junggesellen, aber den Braten kann Euch meine Schaffnerin schnell wieder aufwärmen.«

»Ich danke Euch, Herr,« erwiderte Lachensper, indem er sich niederließ. »Ich bin bei Herrn Siewert Eisenrot eingekehrt, den ich von alter Zeit her kenne. Der hat mir ein stattlich Frühstück vorgesetzt, und ich bin satt. Nehmt's nicht für ungut, daß ich Euch zur Mittagszeit besuche, aber ich habe Wichtiges mit Euch zu bereden, und es leidet keinen Ausschub.«

»So redet, Herr. Ich hoffe, Ihr kündet mir nichts Übles?«

Der Gothaer antwortete nichts auf diese Frage. Er heftete seine klugen grauen Augen fest auf Meyenburgs Gesicht und fragte nach einer Weile: »Ihr seid mit meiner Base Ursula heimlich versprochen?«

»Ich ahnte, daß Ihr es wüßtet!« rief Meyenburg. »Es ist ihr doch nichts Böses geschehen?«

Lachensper blickte ihn wieder wie vorher an und erwiderte: »Ich muß Euch vieles erzählen, Herr, und viel Gutes ist es leider nicht.« Langsam, mit schleppender Sprechweise, indem er sich fortwährend dabei die dünnen Silberstoppeln seines Kinnes rieb, hub er an: »Es ist vor zwei Wochen ein Aufruhr gewesen in Erfurt. Als der Luther dort gewesen war, da haben ihn etliche Priester festlich empfangen. Die Stiftsherren aber haben Hand an diese Priester gelegt und wollten sie in Haft bringen, weil sie Gemeinschaft gehalten haben mit einem, der im Banne ist. Das hat das Volk nicht wollen leiden und ist ihnen zu Hilfe gekommen und ist ein großer Pfaffensturm geschehen. Sie haben die Häuser der Stiftsherren gestürmt, und die Pfaffen haben müssen flüchten. Wohl zwei Tage lang hat der Tumult gewährt, und der Rat hat ihn nicht stillen können.«

Meyenburg machte eine Gebärde des Erstaunens. »Wunderlich, daß ich davon nichts gehört habe in Worms und auf der Reise! Aber was hat das mit Ursula zu schaffen?«

»Sehr viel, Herr. Mein Vetter hat sich der Pfaffen angenommen und harte Reden wider das Volk geführt. Da sind die Aufrührer gereizt worden und haben ihre Wut auch gegen ihn gekehrt und haben ihn elend zerschlagen und einen Stich in die Seite mit einer Hellebarde oder einem Messer getan, so daß er fast auf der Stelle gestorben wäre. Sein Haus haben sie zerstört und schnöde verwüstet, den Hausrat verderbt, auch viel Geld und kostbare Dinge geraubt. Noch ist er nicht ganz arm geworden, aber ein reiches Mädchen ist mein Patenkind nicht mehr.«

Er hielt inne und blickte den Gegenübersitzenden erwartungsvoll an, ob er wohl auffahren oder sich verfärben möchte. Aber Meyenburg blieb ganz kaltblütig sitzen und sagte mit großem Gleichmut: »Das bedaure ich, Herr, denn Geld ist eine schöne Sache. Aber ich freie die liebe Magd nicht um ihres Geldes willen. Sie mag in mein Haus kommen arm wie eine Kirchenmaus, ich will sie freudig zu meinem Weibe nehmen. Vielleicht ist es sogar gut, daß sie nicht mehr so wohlhabend ist. Da gibt sie mir ihr Vater, um so leichter.«

»Ach, lieber Herr, ihr Vater! Da eben liegt der Hase im Pfeffer!« sagte der Gothaer, viel lebhafter, aber auch viel freundlicher und zutraulicher als bisher. »Hört, was er getan hat. Kaum war er halb genesen von seiner Wunde, da packt er, was ihm geblieben war an Hab und Gut, auf zwei Wagen und fährt von Erfurt nach Mühlhausen. Er wolle nicht mehr leben, sagt er, in der vermaledeiten Stadt, wolle auch dort nicht begraben sein. In Mühlhausen, wo er geboren sei, da wolle er sterben, und dort sollte sie ihm sein Grab schaufeln. Seine Mutter war eine Rodemann, und so ist er eingekehrt in das Haus des Bürgermeisters Rodemann, der sein leiblicher Vetter ist.«

»Herrgott!« entfuhr es Meyenburgs Lippen. »Da bin ich gestern an ihm vorbeigeritten!«

»Und an Ursula auch,« warf Lachensper ein. »Und sie hat Euch vorüberreiten sehen und konnte sich doch nicht bemerkbar machen. Darüber weinte sie sehr, und ich kam gerade dazu, denn ich war in Geschäften in der Stadt und suchte sie auf. Sie ist mein Patenkind und hat mich allezeit sehr lieb gehabt und wertgehalten, und ich habe oft gewünscht, sie wäre meine Tochter. Und nun hat sie mir alles erzählt, was zwischen Euch und ihr geschehen ist, und hat mich himmelhoch gebeten, ich sollt' zu Euch reiten. Sie ist in großer Angst, denn ihr Vater ist sehr krank geworden und liegt wohl auf den Tod. Und nun dringt er ständig in sie, daß sie ins Brückenkloster in Mühlhausen solle eintreten, wo ihre Muhme Priorin ist; spricht, er könne nicht selig werden, wenn seine Tochter nicht als Nonne für ihn bete. Und die Rodemannin setzt ihr hart zu, und nun ist der Bürgermeister heimgekehrt, und da ist erst der Rechte gekommen. Sie sagt, sie sei Euch von Herzen gut und wolle Euer Weib werden, aber sie könne dem Drängen ihres Vaters kaum noch widerstehen.«

Meyenburg war in höchster Erregung aufgesprungen. Seine Augen flammten. »Was soll ich tun?« rief er. »Was kann ich tun? Kann ich sie ihrem Vater entreißen?«

»Sie meint. Ihr müßtet es können, bittet Euch inständig. Ihr möchtet zu ihr kommen. Denn sie fühlt sich schwach und fast krank. Die Bitten des Vaters hätten ihr das Herz zerschnitten.

»Ich reite mit Euch!« rief Meyenburg. »Sie soll nicht sagen, ich hätte sie allein gelassen in ihrer Not, weiß ich schon nicht, was ich tun und helfen kann.«

»Mit mir, Herr Meyenburg, rat' ich Euch nicht zu reiten, denn da müßtet Ihr bis morgen warten. Ich bin ein alter Mann, kann nicht zweimal hin- und hertraben zwischen Nordhausen und Mühlhausen. Ich nächtige hier bei Herrn Eisenrot und mache mich erst morgen auf den Rückweg. Ihr aber reitet wohl am besten sogleich, dann könnt Ihr, ehe die Nacht kommt, in Mühlhausen sein.« Er stand auf und bot Meyenburg die Hand. »Lebt wohl, Herr, ich reite jetzt nach Limbach, den Pfarrer zu besuchen. Gott gebe Euch Glück zu Eurer Reise!«

»Ich danke Euch für den Wunsch und noch viel mehr dafür, daß Ihr den beschwerlichen Ritt hierher gemacht habt. Wenn Ihr wieder nach Nordhausen kommt, seid Ihr mein Gast!« erwiderte Meyenburg und geleitete ihn zur Tür. Mit fest zusammengepreßten Lippen und düster gefurchter Stirne stieg er sodann hinauf in seine Kammer und legte das Reisegewand, den Brustharnisch und die Sturmhaube wieder an, die er auf der Wormser Reise getragen. Gestiefelt und gespornt eilte er eine Viertelstunde später zum Bürgermeister, der ihm Urlaub geben, auch ein Roß und einen Knecht stellen sollte, und nach einer weiteren halben Stunde ritt er zum Tore hinaus.

Stumm und finster ritt er die Straße dahin. Der Stadtknecht hinter ihm wunderte sich über die starre Miene und die Schweigsamkeit des sonst meist heiteren und leutseligen Mannes und war verletzt, als er die Unmöglichkeit erkannte, ein Gespräch mit ihm in Gang zu bringen. Ach, der wackere Reiter ahnte nicht, daß Meyenburg einen schweren Kampf in seinem Herzen durchkämpfte! Der Ritt nach Mühlhausen deuchte ihm töricht, ja fast unsinnig. Was sollte er dort? Hatte er überhaupt eine Aussicht, den alten Lachensper durch die Werbung um seine Tochter von dem Gedanken abzubringen, sie ins Kloster zu schicken? Nur dann vielleicht, wenn er heuchelte. Denn der Greis wohnte in Rodemanns Hause, und der Bürgermeister würde ihm gewiß erzählt haben oder noch erzählen, als wessen Geistes Kind er ihn unterwegs erkannt hatte. So würde er denn sicherlich Aufklärung von ihm verlangen. Er mußte bekennen oder verleugnen. Bekannte er, so war Ursula ihm verloren, und verleugnen, Luther und seine Lehre verleugnen, – nein, das konnte er nun nicht mehr. Nicht um den Preis hätte er es vermocht, daß sie sofort die Seine ward und ihm heim folgte als sein angetrautes Weib. Und würde sie ihm überhaupt nachfolgen wollen, wenn sie erst wußte, wie es mit ihm stand? Sie wehrte sich ja gegen das Kloster, aber eine gläubige Tochter der alten Kirche war sie immer gewesen. Vielleicht wandte sie ihr Herz ab von einem, der sich dem Ketzer von Wittenberg zugeneigt hatte und sogar damit umging, eine ganze Stadt für seine Lehre zu gewinnen. Er wußte es nicht, wie stark die Bande waren, die ihre Seele an die Lehren und Bräuche der Kirche fesselten, aber er hatte leider keinen Grund, daran zu zweifeln, daß sie stark und fest waren. So holte er sich vielleicht von Vater und Tochter eine Absage, und das Glück, von dem er geträumt hatte, stürzte in Trümmer. Mehrmals war er im Begriff, sein Roß umzulenken und nach Nordhausen zurückzukehren. Aber dann war es ihm, als höre er ein Rufen ihrer Stimme in der Ferne, und als sähe er ihre Augen flehend auf sich gerichtet.

So ritt er denn weiter, und als die Abendglocken von Mühlhausens zahlreichen Türmen herniederklangen, erreichte er die Stadt. Es dunkelte schon fast, als er in den Flur des Rodemannschen Hauses eintrat. Der Bürgermeister kam ihm die Treppe herab entgegen. Er trug ein feiertägiges Gewand und eine goldene Kette um den Hals, denn er wollte eben in den Rat gehen.

Die beiden Männer grüßten einander sehr kühl und gemessen. »Ihr werdet Euch meines Besuches in Eurem Hause wundern, Herr Bürgermeister,« begann Meyenburg.

Rodemann unterbrach ihn. »Ich weiß die Ehre zu schätzen, Herr Stadtschreiber von Nordhausen,« sagte er kalt. »Aber wollt Ihr mich sprechen, so müßt Ihr morgen wiederkommen. Ich habe jetzt auf dem Rathause zu tun. Oder sendet Euch Eure Stadt, so folgt mir.«

»Mich sendet nicht meine Stadt, und ich komme nicht zu Euch,« entgegnete Meyenburg schroff, denn die Art des Mannes reizte ihn. »In Eurem Hause wohnt Herr Dotheus Lachensper aus Erfurt. Zu dem will ich.«

Rodemann neigte ein wenig das hochgetragene Haupt. »Da kommt Ihr zu spät. Er ist vor ein paar Stunden gestorben.«

Meyenburg stieß einen Ruf der Überraschung aus. Ein Ruf der Trauer oder des Schreckens war es nicht, das prägte sich deutlich auf seinem Antlitze aus. War ihm doch, als fiele eine schwere Last von seiner Seele. Rodemann betrachtete ihn verwundert. »Es scheint Euch nicht allzusehr leid zu tun,« sagte er trocken und fügte dann ebenso kalt wie vorher hinzu: »Habt Ihr ihm etwas zu zahlen oder etwas von ihm zu fordern, so kommt morgen früh zu mir. Ich habe es übernommen, für seine Tochter mich um seinen Nachlaß zu kümmern.«

»Wo ist sie?« rief Meyenburg.

»Was wollt Ihr von ihr? Kennt Ihr sie?«

»Ich kenne sie und muß mit ihr reden!«

»Das kann ich Euch nicht weigern,« sagte Rodemann nach einigem Besinnen. »Sie steht nicht unter meiner Mundschaft. Geht dort hinein!« Er nickte ihm hochmütig zu, wie ein reicher Mann einen Bettler verabschiedet, und verließ das Haus.

In der Mitte des Gemaches, das Meyenburg betrat, war der alte Dotheus Lachensper aufgebahrt. Zu seinem Haupte brannten zwei Kerzen, zu seinen Füßen kniete Ursula, einen Rosenkranz in der Hand haltend, mit tiefgesenkter Stirn. Leise murmelte sie Gebete vor sich hin.

»Ursula!« rief er und trat auf sie zu.

Sie sprang empor und hing an seinem Halse und brach in ein Weinen aus, so bitterlich, so herzzerreißend, wie er es kaum jemals von einem Menschen gehört hatte. Die junge Maid fiel ihm ein, der er gestern abend noch die Kunde von ihres Verlobten Tod hatte bringen müssen, aber selbst die hatte nicht so wild und leidenschaftlich ihren Schmerz geäußert. Betreten schaute er auf sie hernieder. Was hatte das zu bedeuten? Nach der Erzählung der Muhme Barbara mußte Ursula ihren Vater mehr fürchten als lieben. Und nun? Wie kam sie zu einem solchen Ausbruch?

»Trauerst du so um deinen Vater?« fragte er endlich leise. »Ich wußte nicht, daß du ihn so sehr geliebt hast.«

Ursula antwortete nicht sogleich. Erst nach einer Weile gelang es ihr, sich so weit zu fassen, daß sie reden konnte. Dann sagte sie mit halberstickter Stimme: »Ja, ich traure um ihn. Aber viel mehr traure ich um uns beide, um dich und mich.«

Meyenburg fuhr erschrocken zusammen. Eine böse Ahnung befiel sein Herz. »Was soll das heißen?« stammelte er.

Ursula löste langsam ihre Arme von seinem Halse und trat von ihm zurück. Mit müden, schleppenden Schritten, das Haupt tief auf die Brust gesenkt haltend, ging sie hinüber auf die andere Seite des Totenlagers. Ihre Tränen waren versiegt, aber ihr Mund blieb stumm, als könne sie nicht reden.

»Was heißt das, Ursula?« rief er noch einmal und machte Miene, ihr zu folgen. Aber er hemmte den Schritt, denn sie erhob beide Hände wie zur Abwehr, und ein Blick traf ihn aus ihren Augen so voller Schmerz und Jammer, daß er sich entsetzte.

»Laß mich!« sagte sie leise. »Es muß vorüber sein! Zwischen uns muß es aus und vorüber sein.«

Er stand zuerst wie erstarrt, dann schrie er auf: »Warum? Was trennt uns?«

»Der hier!« erwiderte Ursula und wies auf die Leiche ihres Vaters. Wieder traf ihn ein jammervoller Blick, und dann hub sie an zu sprechen. Stockend und fast unhörbar kamen die Worte über ihre Lippen. »Mein Vater hat mir gebeichtet, ehe er starb. Er hatte vor Jahren eine große Sünde getan, weil er meine Mutter und mich und meine Schwester reich machen wollte, denn er liebte uns sehr. Da starb erst meine Mutter und dann meine Schwester, und seitdem packte ihn die Reue und die Angst. Er hatte keinen Frieden, ich wußte es lange schon, nur wußt' ich nicht, warum er so elend war. Nun aber hat er's mir gesagt in seiner Todesangst und hat mich damit bezwungen. Ich mußte ihm schwören, eine Nonne zu werden.«

»Ursula!« stöhnte Meyenburg, »wie konntest du das tun?«

»Ich konnte meinen Vater nicht mehr schreien hören in der Todesqual,« erwiderte sie, und dann fuhr sie, auf einmal hastig und überstürzt redend, fort: »Ach, Michael, vergib mir! Ich konnte nicht anders. Wärst du bei mir gewesen, so hätte ich vielleicht widerstanden. Aber ich war ganz allein, und sein Weinen und Schreien klang so schrecklich. Und die Sünde war auch um meinetwillen begangen. So tat ich ihm den Willen. Und nun geh, Michael. Gern wäre ich dein Weib geworden, aber wir dürfen nicht zusammenkommen. Fasse mich nicht noch einmal an! Küsse mich nicht mehr. Ich bin ja so schwach und muß doch stark sein, meinen Eid zu halten. Das ist meine heilige Pflicht.«

»Nein!« rief Meyenburg. »Solche Eide sind wider die Natur und wider Gott. Seine Barmherzigkeit und Jesu Blut erlösen die Toten von der ewigen Pein, nicht unsere eiteln Worte. Was hilft es deinem Vater, wenn du dich in eine Zelle schließen läßt? Willst du ihm damit den Himmel verdienen? Meinst du das? So wisse, daß es Torheit und Narrheit ist. Denn es ist wider den Glauben. Oh, daß du die Schrift lesen könntest! Aber sie ist dir verschlossen.«

»Michael!« rief Ursula und starrte ihm entsetzt ins Gesicht. »Du sprichst wie ein Ketzer.« Aber gleich darauf sagte sie sanft, indem ein trauriges Lächeln über ihr Gesicht glitt: »Du redest so, Lieber, weil du in tiefen Schmerzen bist. Du weißt wohl gar nicht, was du redest. – Und nun geh! Gehe von mir und sieh mich nicht so an! Ich bin ja so schwach!« Sie sank auf die Knie nieder, und als ob sie sich schützen wolle vor seinen Blicken, legte sie die Stirne vornüber auf das Bett des Toten. Ein Schluchzen, fast so heiß und schmerzlich wie vorher, drang an sein Ohr und machte, daß alle Bitterkeit aus seiner Seele verschwand und nur ein tiefes Erbarmen mit ihr noch Platz behielt in seinem Herzen.

Sie war ihm verloren. Tage, Wochen, vielleicht Monate hätten dazu gehört, sie frei zu machen und herauszuführen aus den Gedanken und Meinungen, in die sie fest verstrickt war. Was er ihr jetzt noch sagen konnte, mußte vergeblich sein, ja, es konnte nur dazu dienen, sie in Angst zu versetzen um das Heil seiner Seele. Für seine neuen evangelischen Erkenntnisse war die arme gebundene Seele dieses jungen Weibes nicht reif. Ihr, die wähnte, ein heiliges Werk zu vollbringen, mußte alles, was er dagegen sagen konnte, wie Sünde und Lästerung klingen, und wenn er jetzt redete wie der Apostel einer – alles umsonst! Zwischen ihm und ihr stand der Eid, den der Tote da in grausamer Eigensucht gefordert hatte, und es war keine Möglichkeit, ihr klarzumachen, daß dieser Eid eine sündhafte Torheit war.

So mußte er denn gehen, und der Traum von Liebe und häuslichem Glück, den er seit Monaten mit heißem Herzen geträumt hatte, mußte zu Ende sein. Einen Augenblick war es ihm, als sollte ihn der Schmerz übermannen, er hätte beinahe laut aufgeschluchzt. Aber es gelang ihm doch noch, sich zu fassen. Mit schnellem Schritte trat er auf die Kniende zu, beugte sich zu ihr hernieder und drückte einen Kuß auf ihr Haar. »Lebe wohl, Ursula!« sagte er mit heiserer Stimme. »Gott geleite dich! Vielleicht kommt doch noch ein Tag, der deinen Irrwahn zerbricht!« Dann stürzte er aus dem Gemache und verließ das Haus.


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