Paul Schreckenbach
Michael Meyenburg
Paul Schreckenbach

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IV.

»Vorigen Freitag war es also ein Jahr, daß die liebe Ursula starb!« sagte Frau Katharina Reinecke zu ihrer Tochter Anna. Sie saß diesmal nicht im Gastzimmer des Meyenburgischen Hauses, sondern in der großen Wohnstube, die neben der Diele gelegen war, und hatte ein Spinnrad vor sich stehen. Anna saß ihr gegenüber in der tiefen Fensternische und besserte ein Höslein des kleinen Hans aus, das der Knabe bei dem Versuche, einen Birnbaum zu erklettern, in eine beklagenswerte Verfassung gebracht hatte. »Du bist nun ein volles Jahr in diesem Hause,« fuhr Frau Katharina fort, »und nun sage mir einmal offen und ehrlich, mein Kind: bist du deinem Ziele näher gekommen?«

Anna senkte das Haupt und gab keine Antwort.

»Wir können uns ja ganz ungestört darüber besprechen,« ermutigte die Mutter, »denn Michael ist wieder einmal, wie so häufig, nicht zu Hause. Wohin ist er denn geritten?«

»Es sollt' eigentlich ein Geheimnis sein,« erwiderte Anna zögernd, »aber Euch kann ich's ja wohl sagen, Mutter. Er ist in des Rates Geschäften nach Erfurt, will aber nur wenige Tage bleiben.«

Frau Katharina blickte ihre Tochter überrascht und neugierig an. »So? Seine Geheimnisse sagt er dir? Das ist ja für dich ein günstiges Zeichen. Merkst du denn auch aus anderen Dingen, daß du ihm lieb geworden bist?«

Anna errötete stark, und eine Falte erschien zwischen ihren Brauen. »Er hat mir noch nichts gesagt,« erwiderte sie kurz.

»Ach, liebe Tochter, was ist das für eine Antwort! Wenn du doch mehr Vertrauen wolltest haben zu deiner Mutter!« klagte Frau Katharina. »Ich glaube gar wohl, daß er dir nichts gesagt hat, denn das Trauerjahr halten ja die meisten inne. Aber das merkt man doch, ob man einem Manne lieb wird! Auch die Dümmste merkt das, und du bist doch so klug. Die Männer sehen einen dann so wunderlich an. Hat er das noch nie getan?«

Anna beugte sich tief auf ihre Arbeit herab, denn eine verräterische Glut flammte in ihrem Antlitz auf. Wohl hatte Michael sie so wunderlich angesehen – einmal, und das war erst vor wenigen Tagen gewesen. Da war ein großes versiegeltes Schreiben an ihn angelangt, gerade als sie beim Mittagsmahle saßen. Das hatte er aufgebrochen und auf der Stelle gelesen, denn es kam von seinem Freunde Melanchthon aus Wittenberg. Ein Brieflein, das dem Schreiben beigelegen hatte und ihm entglitten und auf die Erde gefallen war, hatte sie ihm aufgehoben und dargereicht, ohne der Aufschrift zu achten. Da war er mit einem fast erschrockenen Blicke auf sie aufgestanden und war, ohne ein Wort zu sprechen, hinübergegangen in die Blasienkirche. Dort war er über eine Stunde lang geblieben. Tagsüber hatte sie ihn dann nicht mehr gesehen. Aber am Abend, als er ihr die Hand beim Gutenachtsagen bot, hatte er sie angesehen wie nie zuvor, erstaunt, fragend, als sähe er etwas an ihr zum ersten Male, und noch etwas anderes hatte in seinem Blicke gelegen, was sie in tiefste Verwirrung gebracht und erregt hatte, daß sie vor Herzklopfen kaum hatte einschlafen können. Des anderen Morgens in der Frühe war er nach Erfurt geritten. Immer, wenn sie dieses Blickes gedachte, kamen die Verwirrung und das Herzklopfen von neuem über sie, aber mit niemandem hatte sie davon sprechen können.

Darum war sie sehr froh, daß sie einer Antwort überhoben ward, weil ein Gast des Hauses das Zimmer betrat. Seit fast einer Woche weilte Justus Jonas in seiner Vaterstadt, wo er wegen seines Erbes Geschäfte abwickeln mußte. Er war im Meyenburgischen Hause eingekehrt, wie so manchmal schon, und hatte seine Wohnung auch beibehalten, als sein Freund Michael plötzlich verreisen mußte. Am kommenden Morgen wollte er Nordhausen wieder verlassen.

»Hört Ihr's läuten?« fragte er beim Eintreten. »Auf Sankt Nikolai hub's an, Sankt Petri fällt schon ein, bald wird auch Sankt Blasien erklingen. So ist denn wohl Herr Bürgermeister Wenderodt entschlafen, dessen Tod schon gestern abend verkündet wurde.«

Sein freundliches, rosiges Antlitz hatte, während er das sagte, einen so kummervollen, fast verstörten Ausdruck, daß Anna ihn verwundert ansah. »Ich wußte gar nicht, Herr Doktor,« sagte sie, »daß Euch der alte Herr nahe stand. Ihr seht aus, als sei Euch ein lieber Freund oder Verwandter gestorben.«

»Nein,« erwiderte Justus Jonas, »sein Tod betrübt mich wenig. Ich habe den würdigen Greis kaum gekannt. Aber etwas anderes bedrückt mir das Gemüt, ja es bekümmert mich über die Maßen. Ich gäbe den kleinen Finger meiner rechten Hand darum, wäre das nicht geschehen.«

»Was ist es?« riefen die Frauen erschrocken.

»Ich halte mich nicht für befugt, es Euch zu sagen. Ein Brief ist gekommen, der Michael schweren Verdruß bereiten wird. Es ist mir ein großer Schmerz, daß ich nicht selber mit ihm darüber reden kann. Aber ich muß morgen früh die Stadt verlassen und kann nicht auf seine Rückkehr warten. Ich habe ihm dazu einige Worte geschrieben als sein getreuer Freund, der ich immer bleiben werde, was auch geschehen möge. – Hier habt Ihr das Schreiben versiegelt« – wandte er sich an Anna. »Gebt es ihm. Aber gebt's ihm nicht, wenn er am Abend müde heimkehrt von seinem langen Ritte. Gebt's ihm erst am Morgen darauf. Verdrießliche und beschwerliche Dinge soll man nicht am Abend lesen. Sie sehen dann meist schrecklicher aus als sie sind, und quälen einen die Nacht über. Jetzt gehabt Euch wohl, werte Frau und liebe Jungfer. Ich gehe zu Johann Spangenberg, esse auch zur Nacht bei ihm. Es wird mir schwer werden, ihm ein heiteres Gesicht zu zeigen, aber ich hab's ihm versprochen zu kommen.«

»Und Ihr dürft mir nicht sagen, was das Schreiben enthält?« fragte Anna, mit ängstlicher Miene ihn anblickend. »Droht Michael eine Gefahr?«

»Eine Gefahr nicht, aber ein großer Ärger, und wie ich meine, ein Kummer. Sagen darf ich Euch deshalb nichts, weil ich nicht weiß, ob er zu anderen davon reden will.«

Er ging, und die beiden Frauen blieben in bedrücktem Schweigen zurück. Selbst Frau Katharinas redefroher Mund blieb eine Weile geschlossen. Dann aber begann sie: »Wenn Michael nur nicht viel Geld verloren hat! Er steckt mit unserem Grafen tief in Berggeschäften und hat auch den Vater beredet, sich darauf einzulassen. Darum ist er jetzt so oft in Mansfeld, und der Vater ist ganz für die Sache gewonnen und betreibt sie mit dem größten Eifer. Sie wollen den Handel mit Kupfer und Silber im großen betreiben. Ich habe dem Vater immer geraten, die Hände davon zu lassen, aber er hörte nicht auf mich. Nun werden sie wohl einen schlimmen Verlust haben –«

»Dann würden wir schwerlich durch Herrn Jonas davon hören,« unterbrach Anna den Redefluß ihrer Mutter. »Eher, denke ich, kommt eine böse Kunde in Sachen der Religion. Der Kaiser wird wohl etwas im Schilde führen wider das neue Evangelium. Michael sprach davon, man müsse sich jetzt bald des Ärgsten versehen. – Ich will den Brief in meine Lade legen, Mutter, und ihn da aufheben, bis Michael heimkommt.«

Sie eilte hinauf in ihr Stübchen und barg den Brief mit zitternden Händen in einer kleinen eisernen Truhe, in der sie ihren Schmuck bewahrte. Dann sank sie auf die Knie und sprach ein Gebet, daß Gott sein heiliges Evangelium gegen seine Feinde schützen und sie alle vor großer Trübsal bewahren möge.

Das Rollen eines Wagens, der vor dem Hause hielt, schreckte sie empor. »Schon wieder ein Gast!« flüsterte sie unwillig und stieg die Treppe wieder hinab, wenig erbaut von der Aussicht, irgend einen ihr Fremden an Stelle des abwesenden Hausherrn begrüßen zu müssen.

Aber als sie eben auf der letzten Stufe stand, stockte ihr Fuß, und ihr Blick heftete sich voll Entsetzen auf das Bild, das sich ihr darbot. Die Tür hatte sich halb geöffnet, und Michael Meyenburg trat schwer und langsam, gestützt von einem fremden Knechte, über die Schwelle seines Hauses. Den linken Arm trug er in einer Binde, die Stirn umhüllte ein breites weißes Tuch. Seine hohe Gestalt schwankte, und seine Augen glühten wie im Fieber.

Erst nach ein paar Augenblicken wich die Erstarrung von ihr. Dann schrie sie laut auf und stürzte auf ihn zu. »Um Gottes willen, Michael! Was ist geschehen? Bist du vom Pferde gestürzt?«

»Ich erzähle dir's gleich, Anna. Aber gib mir einen Trunk! Wasser, nicht Wein! Mir klebt die Zunge am Gaumen.«

Sie flog mehr, als sie ging, in die Küche, um ein Gefäß zu holen, und dann an den Brunnen im Hofe. Als sie zurückkam, saß er in seinem Lehnstuhle, während ihre Mutter, vor Schrecken wie versteinert, auf ihrem Sitze am Fenster zurückgesunken lehnte und ihn entsetzt anstarrte.

Sie bot ihm den Krug, und er sog ihn mit gierigen Lippen leer bis auf den letzten Tropfen.

»Danke,« sagte er. »Füll' ihn dann noch einmal. Ich bin so durstig, wie noch nie in meinem Leben.«

»Aber was ist denn geschehen, Michael? Bist du gestürzt? Bist du schwer verletzt?«

»Verletzt bin ich und wohl nicht leicht. Aber gestürzt mit dem Gaule bin ich nicht. Ruchlose Leute haben mich überfallen.«

»Wer?« schrie sie.

»Der Heinrich Busch und der verdorbene Hund, der junge Kehner. Zwischen Gebesee und Andisleben treffe ich einen fremden Reiter auf der Landstraße. Er redet mit mir freundlich und bittet mich, daß er sich zu mir und meinem Knechte dürfe gesellen, er reite auch auf Erfurt zu. Ich erlaube es ihm ohne Arg. Aber als wir an ein Gehölz kommen, greift er plötzlich meinen Knecht mit mörderischen Hieben an, und auf mich sprengen zwei andere aus dem Holze los, und einer legt auf mich ein Feuerrohr an und schießt und trifft mich hier am Kopfe. Ich reiße noch meine Zündbüchse hervor und schieße ihn vom Gaule. Dabei sah ich, daß es der junge Kehner war, der schon mehrmals auf mich gelauert hat. Aber nun strömte mir das Blut in die Augen, daß ich nicht sehen konnte, und die beiden anderen kamen über mich und stachen mich in den Arm und rissen mich vom Rosse. Da verlor ich die Besinnung. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf der Erde, und der Busch stand vor mir und sagte, meinen Tod wolle er nicht, aber ich sollt' ihm einen Eid schwören, daß ich die Räte von Nordhausen wolle bewegen, seiner Mutter das Geld zu geben, das sie von der Stadt fordert ohne alles Recht, denn die Schuld ist längst beglichen. Ich sagte ihm, die Räte hätten seines Vaters Quittungen, er solle sie auf dem Rathause einsehen, aber er schrie: »Du verdammter, verzweifelter Bube! Das ist alles erstunken und erlogen! Du schwörst mir, daß mir der Rat das Geld gibt, oder daß du aus deinem eigenen Vermögen uns wirst zufriedenstellen. Tust du das nicht, so ist deine letzte Stunde gekommen.« Da schwor ich ihm den Eid, denn ich war in seiner Hand, und er ritt davon und ließ mich liegen. Ich schleppte mich zu dem von Seebach auf Fahner, das in der Nähe liegt, und der ließ mich heimfahren auf seinem Wagen.«

Die letzten Worte hatte er mit schwacher Stimme gesprochen, als sei er zu Tode erschöpft, und halb lallend setzte er hinzu: »Fülle mir den Krug noch einmal! Ich bin so durstig!«

Sie eilte nach der Tür, aber da traf ein leiser Schrei ihr Ohr, und sie fuhr herum. Michael Meyenburg war von seinem Stuhle vornüber zur Erde geglitten und lag am Boden wie ein toter Mann.

Frau Katharina kreischte mehrmals hintereinander laut auf: »Er stirbt! Er stirbt!« und streckte beide Arme weit vor, als drohe auch ihr der Tod, und sie wolle ihn von sich abwehren. Anna aber, wiewohl bis in die Lippen erblaßt, verlor die Fassung nicht. »Er ist nicht tot, Mutter,« sagte sie. »Er hat nur eine Ohnmacht.« Dann wandte sie sich an den Seebachschen Knecht, der an der Tür stehen geblieben war. »Faß an!« rief sie ihm zu. »Wir müssen ihn auf sein Lager tragen.«


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