Paul Schreckenbach
Michael Meyenburg
Paul Schreckenbach

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Drittes Buch.

I.

Warm und hell schien die Septembersonne in das Ziergärtlein, das der Syndikus Meyenburg hinter seinem Hause hatte anlegen lassen. Auf den Beeten leuchteten die letzten Herbstblumen, und ein pausbäckiger, etwa drei Jahre alter Knabe, der aus dem Hause gelaufen kam, griff begehrlich nach ihnen. Aber ein schlankes junges Mädchen, das mit einer Gießkanne hinter ihm drein kam, hielt seine Hand fest und rief strafend: »Pfui, Hans! Willst du wieder die schönen Blumen abreißen und dann den Ziegen füttern?«

»Nicht Ziege füttern, Mutter geben!« sagte das Kind und verzog den Mund, als wolle es in Tränen ausbrechen.

»So? Das ist etwas anderes,« erwiderte das Mädchen. »Dann sollst du sie haben.« Sie pflückte behutsam einen Strauß und legte ihn in die kleine Hand. »Nun gehe hin zur Mutter. Aber mach keinen Lärm, daß der kleine Bruder nicht aufwacht, und komm gleich wieder zu mir, denn der Herr Magister Melanchthon ist bei ihr.«

Der Knabe sprang, so schnell ihn seine Beinchen trugen, den Hauptweg des Gartens hinauf einer Laube zu, die sich an einen gewaltigen alten Turm anlehnte. Das Meyenburgische Grundstück wurde durch die Stadtmauer abgegrenzt, die hier ganz besonders hoch und dick war, weil von dieser Seite aus die Stadt am leichtesten berannt werden konnte,

In der Laube saß auf einer breiten, mit Polstern belegten Bank Frau Ursula Meyenburg. Sie war vor sieben Tagen erst eines Knäbleins genesen, und der Weg in den Garten war ihr erster Ausgang ins Freie gewesen. Mit hochgezogenen Fäustchen schlief das Kind in der Wiege, die ihr Fuß von Zeit zu Zeit in schaukelnde Bewegung brachte. Ihr gegenüber saß auf einem dreibeinigen Schemel der Freund ihres Mannes, Philipp Melanchthon. Er war am gestrigen Abend ganz unvermutet angekommen und hatte den Hausherrn nicht daheim getroffen. Denn der war eben abgeritten gewesen, hinüber nach Stolberg zum Grafen, der seines Rates in einem wichtigen Rechtshandel begehrt hatte. In der Frühe dieses Tages nun war ein Bote nach Stolberg abgegangen, der ihm Melanchthons Ankunft melden sollte, denn sonst war zu befürchten, daß ihn der Graf noch einen Abend dort behielt. Am liebsten hätte er ihn wohl ganz dort behalten, denn er hatte schon seit Jahren ein Vertrauen zu ihm gefaßt, das fast ohne Grenzen war. Meyenburg war manchmal tagelang Gast auf seinem Schlosse, und sein Rat galt dort mehr als der des gräflichen Kanzlers.

Wahrscheinlich hatte Graf Botho ihn auch heute halb mit Gewalt, wie so manches Mal schon, zu Tische behalten, denn es war Nachmittag geworden, und er war noch nicht zurückgekehrt. Frau Ursula empfand es etwas peinlich, daß ihres Hauses Gast so lange warten mußte und entschuldigte ihren Mann mit dem ungestümen Drängen des Grafen, worauf Melanchthon ohne jedes Zeichen von Ungeduld erwiderte, wer unangemeldet und unvermutet in das Haus eines im öffentlichen Leben stehenden Mannes käme, der dürfe sich nicht wundern, ihn nicht sogleich anzutreffen. Dabei betrachtete er sie mit immer sich steigernder Besorgnis und mit einem Mitgefühl, das ihm geradezu peinigend wurde. Wie sah die Frau aus, an deren Hochzeit er teilgenommen hatte, als er zufällig vor vier Jahren nach Nordhausen gekommen war! Sie erschien ihm heute fast noch reizender als damals unter dem Brautkranze, aber das Gesicht war von durchsichtiger Blässe, sogar die Lippen waren erblichen wie bei einer Gestorbenen, und die Augen hatten einen Blick, der in weite Fernen zu tauchen schien. Es schnitt ihm durchs Herz, als er das müde, freundliche Lächeln sah, mit dem sie ihrem herbeispringenden Knaben den blonden Krauskopf strich und ihm dann nachblickte, als er vor Freude krähend davonsprang. Auch ihre Stimme klang leise und müde, als sie nun zu reden anhub: »Ist es nicht verwunderlich, Herr Magister, daß Ihr gerade zur selben Zeit wieder in Nordhausen seid, wie vor vier Jahren? Morgen ist unser Hochzeitstag, und heute vor vier Jahren tratet Ihr mit Doktor Luthers Gruß zum ersten Male in das Haus meines Mannes, der sich so sehr freute, Euch zu sehen, und Euch sogleich zur Hochzeit einlud.«

»Ja, ich dachte wohl daran, als ich gestern in Nordhausen einfuhr,« erwiderte Melanchthon. »Damals fing meine Freundschaft an mit Eurem Manne, daran ich mich herzlich freue. Nun bin ich schon das drittemal in Eurem Hause zu Gaste, und Euer Mann war noch nicht einmal in Wittenberg, und Ihr habt mein Haus noch nie beehrt, obwohl Ihr so herzlich eingeladen waret von meiner Hausfrau und mir. Darob müßt ich Euch billig zürnen.«

»Ihr wißt ja, warum ich nicht gekommen bin,« entgegnete Ursula, und ein schwaches Rot huschte über ihre Wangen. »Ich konnte nicht kommen, weil andere kamen. Zuerst kam der Hans, dann der kleine Heinrich, den wir wieder hergeben mußten, und nun ist in voriger Woche der kleine Christof eingekehrt, der hier schläft. So war ich immer an mein Haus gebunden und konnte nicht verreisen. Der Frauen Beruf ist nicht leicht, Herr Magister.«

»Nein, wahrlich nicht. Da habt Ihr recht!« rief Melanchthon, und in Gedanken setzte er hinzu: Armes Weib, dir ist er wohl allzu schwer gewesen. Er sah auf ihre dünnen, durchsichtigen Hände, die matt und kraftlos in ihrem Schoße lagen, und ein tiefes Mitleid überkam ihn. Diese Frau hatte er gern gehabt vom ersten Augenblick an, da er sie gesehen hatte. Sie gehörte zu der Art der Frauen, die ihm gefielen. Aber damals war sie ihm frisch und stattlich entgegengetreten, den grünen Brautkranz in ihren lichtblonden Haaren tragend und vor Glück und Seligkeit strahlend. Jetzt war sie blaß und krank und trug einen Zug im Antlitz, als habe der Tod sie gezeichnet. Er war wohl auch nahe genug an ihr vorübergegangen, als sie im letzten Kindbett gelegen hatte. Es wurde dem weichherzigen Manne, den leicht die Rührung übermannte, schwer, seine plötzliche Bewegung niederzukämpfen, damit sie nichts davon merke. Aber es gelang ihm, und nach einer Weile vermochte er, im scherzhaften Tone zu sagen: »Wir müssen nun beten, daß der Herr aufhört zu segnen, und der Höchste wird ja unser Gebet erhören. Dann könnt Ihr vielleicht einmal im nächsten Jahre mit Eurem Eheherrn gen Wittenberg fahren.«

Ursula wandte ihm ihr Antlitz voll zu und sah ihn an. In ihrem Blick lag etwas, worüber er erschrak, und noch mehr erschrak er, als sie mit leiser aber fester Stimme sagte: »Meint Ihr? Nun, ich sage Euch, ich werde nimmermehr nach Wittenberg oder sonst wohin fahren. Ich werde schwerlich auch nur die Stadt wieder betreten, und ich verlasse dieses Haus nur noch einmal, wenn man mich hinaustragen wird.«

»Aber liebste Frau Ursula!« rief Melanchthon. »Wie könnt Ihr so reden! Wie könnt Ihr Euch mit solchen Gedanken tragen? Ihr werdet bald wieder« – er brach plötzlich ab und verstummte. Mit einem Male wußte er, daß sie die Wahrheit sprach, und daß alles, was er etwa zu ihrer Beruhigung sagen könne, sie anmuten mußte wie leere Worte. Die wunderbare, überirdische Klarheit ihres Blickes brachte ihm die schreckhafte Gewißheit, daß Gott den Schleier vor ihr hinweggezogen hatte, der sonst die Augen der sterblichen Menschen bedeckt, und daß sie schaute, was zukünftig war.

Erschüttert ließ er das Haupt auf die Brust niedersinken, und Tränen traten ihm in die Augen. Dann faßte er ihre Hand und drückte sie leise.

»Seht Ihr, Herr,« sagte sie mit derselben stillen Gelassenheit wie vorher, »auch Ihr wißt es gar wohl. Ich wußt' es schon, als ich mich niederlegte, daß ich diesmal nicht wieder aufkommen würde, und ich habe mich drein ergeben. Nun preise ich es als eine Fügung Gottes, daß Ihr gerade jetzt zu uns gekommen seid, denn ich habe noch einen großen Wunsch auf Erden, und Ihr könnt mir helfen, daß er erfüllt werde.«

»Was soll ich tun?« rief Melanchthon emporfahrend.

»Seht einmal zu – ist Anna mit den Kindern ins Haus gegangen? Ja? Nun, dann setzt Euch mir nahe. Ich will Euch etwas beichten, denn ich weiß, daß Ihr mir freundlich gesinnt seid, und ich habe großes Vertrauen zu Euch.« Sie hielt einen Augenblick inne, als ob sie nach Worten suche, dann fuhr sie fort: »Vier Jahre sind es her, daß wir verheiratet sind. Es waren Jahre voller Glück. Mein Mann hat mich glücklich gemacht und ich ihn wohl auch. Meint Ihr nicht?«

»Das weiß ich! Er hat mir selbst mehrmals gesagt, wie sehr er Euch liebe und wert halte.«

»Und doch ist es besser für ihn, daß ich von ihm fortgehe, denn ich könnt' ihm auf die Dauer nicht genügen. Ich bin zu still und scheu für ihn, am liebsten möcht' ich mich immer vor den Menschen verstecken, und wenn ich muß mit ihnen zusammen sein, kann ich den Mund nicht auftun und sitze da, als wäre ich ein dummes Kind. Jüngst hat eine gesagt: wie kommt nur der Mann zu dieser Frau! Sie passen zusammen wie der Habicht und die Gans.«

Melanchthon machte eine unwillige Bewegung. »Aber Frau Ursula, wer wird auf der Leute Geschwätz hören!«

»Er hat es auch gehört, ich weiß es, und ich weiß auch, daß es ihn wurmte, wenn er auch nichts sagte. Und ich kann mich nicht ändern, ich kann es nun einmal nicht. Ich bin wohl auch zu engen Geistes für ihn, denn ich kann ihm oftmals nicht folgen, wenn er von großen Dingen redet, und er sieht mich dann ganz verwundert an und fast betrübt. Ich hindere und hemme ihn überall, und er fängt schon an, das zu fühlen. Ich zittre vor Angst um ihn, wenn er über Land reitet, denn ich weiß, daß er böse Feinde hat. Er ist deshalben manches Mal zu Hause geblieben, aber ich merkte wohl, daß er es mit heimlicher Unlust tat. Er hat mir noch niemals ein rauhes Wort gesagt, solange ich sein Weib bin, aber ich fühle zuweilen, daß ihm meine Liebe und Sorge eine Last sind.«

»Ach, liebe Frau Ursula,« fiel ihr Melanchthon ins Wort, »Ihr solltet Euch da nicht mit unnützen Gedanken quälen! In keiner Ehe findet der Mann alles schön und gut an seinem Weibe, wenn der Honigmond vorbei ist, und es gibt auch kein Weib, das nicht manches anders haben möchte an seinem Manne. Der Ehestand ist eine Schule, worin die Menschen lernen sollen, sich ineinander zu fügen und zu schicken. Das hat Gott also haben wollen. Einer soll da des anderen Last tragen.«

Ursula antwortete nicht sogleich. Dann sagte sie ruhig: »Das mag ja wohl sein, aber für mich gilt das nun alles nicht mehr, denn ich muß fort. Bald zieht meine Seele von dannen, und meinen Leib werden sie begraben. Dann wird mein Mann sehr traurig sein und heftig um mich weinen, aber nach einiger Zeit wird er eine andere heimführen.«

»Ach, Frau Ursula! Frau Ursula! Warum denkt Ihr so Arges von ihm?« rief Melanchthon.

»Arges?« fragte sie erstaunt. »Wie meint Ihr das? Er braucht ein Weib, das weiß ich besser als jeder andere. Wie lieb er mich muß gehabt haben, das sehe ich daraus, daß er, der eines Weibes so bedürftig war, so viele Jahre lang auf mich gewartet und keine andere genommen hat. Aber wenn ich nicht mehr auf Erden bin, soll er nicht unglücklich sein, sondern glücklich. Er soll eine andere nehmen, und er muß es ja auch um der kleinen Kinder willen. Die müssen eine Mutter haben. Und ich weiß eine feine Magd, die paßt zu ihm, denn sie ist schnellen und beweglichen Geistes, und schön von Gestalt ist sie auch. Sie ist auch von liebevollem Gemüt, nur etwas heftig. Die wird eine gute Frau für ihn und eine gute Mutter meiner Kinder sein. Sie hat mich auch lieb, und sie wird meinen Kindern erzählen von ihrer Mutter, die Gott so früh hat sterben lassen, und ich werde so nicht ganz vergessen sein. Und wißt Ihr, wer das Mädchen ist? Es ist die Anna Reinecke, meine Base, die eben hier im Garten war. Ihr kennt sie ja. Ich habe sie bitten lassen, zu mir zu kommen, als ich fühlte, daß meine schwere Stunde nahe sei. Sie ist gekommen, und sie soll im Hause bleiben, wenn ich werde gestorben sein, und das wird nicht mehr lange währen.«

Fassungslos, fast entsetzt blickte Melanchthon sie an. So etwas von Entsagungskraft hatte er an einem Weibe noch nicht wahrgenommen. »Und was soll ich tun? Ihr spracht von einer Bitte an mich,« sagte er endlich.

»Ich will Euch – doch halt, sie kommt,« erwiderte Ursula.

Leichte Tritte auf dem Sandwege des Gartens wurden hörbar, und im Rahmen der Tür erschien eine hohe, schlanke Mädchengestalt. »Es sind drei Herren gekommen und fragen nach Michael,« sagte die Eintretende. »Wer sie sind, weiß ich nicht. Sie kommen weither – aus Frankfurt.«

»Laß sie in der großen Stube warten und sage ihnen, wir erwarteten Michael jeden Augenblick aus Stolberg zurück.«

Das Mädchen nickte und enteilte. »Wie gefällt sie Euch?« fragte Ursula. »Sie ist sehr liebreizend anzusehen,« begann Melanchthon. »Aber –«

»Kornblume nennt sie mein Mann, weil ihre Augen so blau sind wie die Kornblumen,« sagte Ursula.

Melanchthon hob schnell, wie erschrocken, das Haupt empor. »Wie steht er zu ihr?«

»Er sieht sie gern. Mehr nicht. Vor der Hand nicht. Niemals würde Michael ein Weib darauf ansehen, ihrer zu begehren, solange ich lebe. Aber nachher wird er sie gewißlich lieben lernen.«

»Ist sie nicht viel zu jung für ihn? Er ist Ende der Dreißig und sie wohl kaum zwanzig.«

Ursula schüttelte leise den Kopf. »Michael ist ein Mann in seiner besten Kraft und wird es noch lange sein. Und ich will Euch ein Geheimnis sagen: sie liebt ihn, sie hat ihn schon geliebt, als sie ein Kind war. Vor Jahren hat er sie aus dem Wasser gezogen und ihr das Leben gerettet. Seitdem ist sie ihm mit schwärmerischer Liebe zugetan. Am Tage unserer Hochzeit, so sagte mir ihre Mutter, hat sie geweint von früh bis zum Abend. Wie guten Gemütes sie ist, das könnt Ihr daraus erkennen, daß sie trotzdem auf mich keinen Zorn und keine Eifersucht geworfen hat.«

Sie hielt eine Weile inne, dann fuhr sie fort: »Ihr, Herr Magister, reiset, wie ich hörte, von hier nach Mansfeld. Da sollt Ihr mir denn die Liebe tun, meinen alten Vetter Reinecke und seine Frau zu bereden, daß sie Anna hier lassen das nächste Jahr. Wollt Ihr das?«

»Ich tue nach Eurem Willen,« murmelte Melanchthon, der vor Ergriffenheit kaum reden konnte. »Noch um eins bitt' ich Euch: dieses Brieflein, das ich vorhin geschrieben habe, gebt meinem Mann oder schickt es ihm, wenn ein Jahr verflossen ist nach meinem Tode. Dazu schreibt oder sagt ihm alles, was Ihr jetzt von mir gehört habt, und laßt es Anna auch wissen. Sie sollen gewiß sein, daß ich mich da droben, wohin mich Gott in seiner Barmherzigkeit wohl aufnehmen wird, ihres Glückes nur freue. Wollt Ihr auch das tun?«

»Ich will es,« gab Melanchthon mit schwankender Stimme zur Antwort und faßte wieder ihre Hand. Das Haupt hielt er tief gesenkt, um seine hervorquellenden Tränen zu verbergen.

»Ich gehe dahin! Ich lösche aus wie ein Licht,« flüsterte Ursula kaum hörbar.

Er hob das Haupt und sah sie an, und mit tiefem Erschrecken bemerkte er, wie spitz und verfallen mit einem Male ihre Züge waren, und wie sie die Augen geschlossen hielt, als ob sie schlummere. »Wollen wir nicht hineingehen? Wollet Ihr Euch nicht niederlegen, liebe Frau Ursula?« fragte er beklommen.

»Ja. Rufet die Anna. Sie soll mich führen,« erwiderte Ursula mit schwacher Stimme.

Melanchthon wandte sich, zu gehen, aber die Jungfrau stand schon in der Tür. »Du solltest doch nur ein ganz klein wenig im Garten sein, liebste Ursula,« sagte sie. freundlich. »Nun muß ich dich« – sie brach ab und blickte die Dasitzende erschrocken an. »Mein Gott, was ist dir?«

»Ich bin so matt. Mir ist so wunderlich. Ja, führe mich ins Haus!« erwiderte Ursula mühsam. Ein Frösteln ging durch ihre Gestalt, und ihr Haupt sank vornüber. Anna Reineckes große Augen füllten sich mit Tränen. »Wir müssen sie tragen, Herr. Kommt, faßt meine Hände. Wir bilden eine Trage.«

Da nahte sich ein rascher, kraftvoller Schritt vom Hause her, und Michael Meyenburg kam eilend heran. Er winkte dem Freunde fröhlich mit der Hand zu, aber als er sein Weib sah, fuhr er entsetzt zurück, und sein Antlitz wurde so fahl wie das der Ohnmächtigen. Dann umfaßte er sie mit starkem Arme und trug sie hinauf in ihr Schlafgemach.

Dort wurde sie von Anna und der Magd entkleidet und in ihr Bett gelegt, und eilende Boten gingen aus, den Arzt und die Wehemutter herbeizurufen. Aber der Stadtphysikus war über Land gefahren und nicht zu erreichen, und die weise Frau stammelte nur etwas von großem Blutverlust und einer Schwäche des Herzens. Dann entfernte sie sich wieder, denn sie wußte nicht zu raten und zu helfen und merkte, daß ihre Weisheit und Kunst hier am Ende war.

Zum Bewußtsein gelangte Ursula nur noch auf einige kurze Augenblicke. Ihr Mann war vor ihrem Lager auf die Knie gesunken und hatte die Stirn auf den Bettrand gelegt, und ein Schluchzen durchschütterte seine gewaltigen Glieder. Da fühlte er plötzlich ihre leise Hand auf seinem Haupte, und als er das Gesicht emporhob, sah er ihre Blicke mit dem Ausdruck unbeschreiblicher Liebe und Zärtlichkeit auf sich gerichtet.

»Hole die Kinder,« flüsterte sie.

Er stürzte hinaus und nahm den kleinen Hans auf den Arm und rief Anna zu, sie solle das Jüngste aus der Wiege nehmen und es der Mutter bringen. Aber als er wieder eintrat, war ihr Haupt zurückgesunken, ihre Augen umflorten sich, und ihre Lippen bewegten sich, als wollten sie noch Worte formen, aber er verstand sie nicht mehr.

Er beugte sich über sie und legte die Hand auf ihre Stirn. Da fühlte er, daß sie schon erkaltet war, und mit einem lauten Schrei brach er vor dem Bette der Sterbenden zusammen.


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