Paul Schreckenbach
Michael Meyenburg
Paul Schreckenbach

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IV.

Etwa eine Stunde lang mochte Meyenburg in dieser Nacht geschlafen haben, gewiegt in sehr angenehme Träume, die sich alle um die wiedergefundene Geliebte rankten, als er plötzlich aus dem Schlummer emporfuhr. Ein greller Lichtschein hatte sein Gesicht getroffen und ihn geweckt. Vor seinem Bette stand der Stadthauptmann Hans von Bodungen mit drei bewaffneten Knechten und gebot ihm, sogleich sich anzukleiden und ihm zu folgen in des Rates Gefängnis.

»Was zum Teufel wollt Ihr von mir?« rief Meyenburg unwirsch. »Kommt Ihr wegen der Nonne, die ich entführt habe? So wisset, der Bürgermeister hat mich selber ins Kloster gewiesen. Da sollt' ich sie mir holen.«

»Ihr seid beschuldigt, einen Tumult angestiftet zu haben,« erwiderte Bodungen mürrisch. »Das Brückenkloster ist verwüstet und ausgeraubt.«

»Das fällt mir nicht zur Last!« rief Meyenburg erbost dazwischen.

»Wem es zur Last fällt, wird sich zeigen. Es zu untersuchen ist nicht meines Amtes. Ich soll Euch gefänglich einziehen, und das tue ich, und ich rate Euch, sperrt und sträubt Euch nicht, denn das geschähe Euch zum Schaden. Ich müßt' Euch binden lassen.«

Fluchend sprang Meyenburg aus dem Bette und warf sich in seine Kleider. Das Schwert mitzunehmen ward ihm verwehrt, doch erlaubte man ihm, ohne Fesseln durch die schlafende Stadt zu gehen, in der jetzt kein Mensch mehr auf der Straße zu sehen war. Als er am Rathause angelangt war, führte man ihn nicht, wie er gefürchtet hatte, in die unterirdischen Räume hinab, sondern in ein mittelgroßes Gemach, das über dem großen Sitzungssaale gelegen war. »Es ist des Rates ritterliches Gefängnis,« sagte Bodungen. »Ich kann Euch nur dann hierlassen, wenn Ihr gelobt, keinen Versuch des Entweichens zu machen.«

»Ich gelobe es!« erwiderte Meyenburg und setzte schroff hinzu: »Ich protestiere gegen die Gewalttat und gegen das Mühlhäuser Gericht, dem ich nicht unterstehe.«

»Ob es eine Gewalttat ist, daß wir Euch einsperren, oder die Sühne einer Gewalttat, das wird sich finden,« gab Bodungen mit einem kurzen Lachen zur Antwort. »Und danket Gott, Freund, wenn Ihr unter Mühlhäuser Gericht bleibt. Der Rat könnte Euch auch dem Gerichte Georgs von Sachsen übergeben. Da wäret Ihr übel dran.«

Meyenburg erschrak, aber er versetzte trotzig: »Sollten die Bürger einer freien Reichsstadt den Syndikus ihrer Nachbarschaft ausliefern an eines Fürsten Gericht, statt ihn heimzusenden, daß seine Stadtväter ihn richten?«

»Bei den jetzigen Zeitläuften ist alles möglich. Vielleicht ist der Rat froh, daß er die Verwüstung des Klosters auf einen abwälzen kann, der nicht ein Mühlhäuser ist. Denn greift er hier einen, so predigen die Propheten, und das Volk steht auf, und es geht dem Rate an den Kragen. Wisset, Herr, Eure Einlagerung ist der letzte Dienst, den ich denen von Mühlhausen leiste. Morgen kündige ich dem Rate und bitte um Urlaub und ziehe ab. Ich habe es satt, den Hanswurst dieser Leute zu spielen. Gehabt Euch wohl, und schlaft, so gut Ihr könnt.«

Damit hob er sich von dannen und ließ Meyenburg in schweren Gedanken zurück. Was der alte Haudegen gesagt hatte, dem die verworrene Wirtschaft hier zum Überdruß geworden war, versetzte ihn in starke Unruhe. Vielleicht ließ ihn wirklich der Rat heimlich zum Schösser des Herzogs, dem Ritter Sittich von Berlepsch auf Seebach schaffen, und der gab ihn an seinen Herrn weiter. Dann wartete seiner ein ungnädiges Gericht. Er wurde wohl gar als ein Anhänger der Propheten angesehen, deren Treiben ihm so zuwider war.

Mit der höchsten Ungeduld erwartete er den Morgen, denn er hoffte, daß man ihn dann sofort vernehmen würde. Aber als der Morgen heraufgezogen war, erschien ein alter, mürrischer Schließer, der ihm ein Stück Brot und ein dünnes Süpplein brachte, sonst niemand. Das wurde ihm durch ein Schiebefenster in der Tür hineingereicht, und der Alte ließ sich auf keine Unterhaltung ein. Am Mittag ging es genau so, und am Abend kam er mit etwas reichlicherer Kost und einem Kruge Bier. Der ganze Tag war dahingegangen, die Nacht kam heran, und niemandem war es eingefallen, sich um den Gefangenen zu kümmern. Der mochte fluchen und rasen und toben und an der Schelle reißen, die an der Wand hing, bis ihm der Griff in der Hand blieb, er wurde nicht vorgefordert und konnte sich nicht rechtfertigen, und so erging es ihm auch am folgenden und am übernächsten Tage. Es schien, als habe ihn die Welt vergessen. Auch durch die Fenster konnte er sich nicht bemerkbar machen, denn das waren kleine, enge Löcher hoch über dem Estrichboden in der Nähe der Decke, zu denen er kaum emporlangen konnte.

Wie ein gefangenes Raubtier rannte er zuweilen stundenlang in seinem Kerker auf und nieder, und dann saß er wieder stundenlang auf seinem harten Holzlager in der tiefsten Niedergeschlagenheit. Was war aus Ursula geworden? War sie noch in Lamhardts Hause, oder hatte sie der Rat ins Kloster zurückbringen lassen? Oder hatte er sie aus der Stadt entlassen in ein benachbartes Kloster? Und was mochten die Nordhäuser davon denken, daß er nicht wieder nach Hause zurückkehrte, wo er doch so dringend nötig war? Vielleicht erwuchsen seiner Stadt erhebliche Ungelegenheiten aus dem Abenteuer, das er auf eigene Hand unternommen hatte. Er ging ernstlich mit sich ins Gericht und konnte sich nicht von aller Schuld freisprechen. Ohne Zweifel hätte er dem Bürgermeister sagen müssen, daß er nicht nur nach Mühlhausen gehen wollte, um dort die Absichten der Aufruhrpropheten zu erkunden, sondern auch noch aus einem anderm Grunde. Aber dann würde ihm Herr Conrad Ernst die Fahrt schwerlich erlaubt haben, und doch mußte er sie unternehmen, denn Ursula mußte befreit werden. Aber war sie denn frei? War nicht vielleicht alles, was er getan hatte, vergeblich gewesen?

So gingen seine Gedanken immer wieder in demselben Kreise und quälten und marterten seine Seele, daß er fast in Verzweiflung verfiel, und nur im Gebet fand er Trost und Beruhigung.

Endlich am vierten Morgen schlug die Stunde seiner Befreiung.

Trotz seiner Abgeschiedenheit von der Welt hatte er schon in der Nacht gemerkt, daß sich in der Stadt etwas Besonderes ereignen müsse. Denn vor dem Rathause wurde es nicht einen Augenblick stille, ein Rufen und Schreien, das manchmal zum Gebrüll anschwoll, drang zu ihm herauf. Es mußte eine gewaltige Volksmenge dort unten versammelt sein, und sie schien nicht gerade ein Werk des Friedens zu betreiben.

Gegen Tagesanbruch legte sich der Sturm. Dann brach mit einem Male ein lautes, anhaltendes Jubelgeschrei aus tausend Kehlen hervor, worauf es ganz still wurde.

Es blieb dem Gefangenen nicht lange Zeit, darüber nachzugrübeln, was das wohl zu bedeuten habe. Denn bald nahten sich Schritte seinem Gemache, nicht die leisen, schlürfenden des alten Schließers, sondern die kräftiger Männer, und als die Tür aufging, stand Lamhardt auf der Schwelle, hinter ihm standen zwei Bürger, die Meyenburg nicht kannte.

»Komm heraus, Freund, du bist frei!« rief der Ratsherr und streckte ihm die Hand entgegen. »Die Tyrannen liegen am Boden, zum wenigsten die in unserer Stadt. Komm herunter mit mir in den Saal, wo der neue Rat beisammen ist.«

»Der neue Rat? Was heißt das? Und wo ist Ursula?« rief Meyenburg.

Lamhardt lachte. »Das heißt: wir haben den alten Rat gestürzt und einen neuen gewählt. Von denen, die im alten Rate waren, sind nur zwei im neuen, darunter ich. Und deine Ursula ist in meinem Hause, wohin du sie gebracht hattest, und weint viel und sorgt und grämt sich um dich. Eile dich, daß du sie wieder lachen machst!«

Meyenburg war es zumute, als würde ihm mit einem Male eine Last abgenommen, unter der er kaum noch hatte atmen können. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und er fiel dem Ratsherrn, der ihm noch vor einigen Tagen als ein rechter Narr erschienen war, in seiner freudigen Erregung um den Hals. »Ich danke dir, Lamhardt!« rief er. »Ich werde dir das nie vergessen. Ja, ich will sofort zu ihr!«

»Gemach, Freund. Nicht so hitzig!« lachte Lamhardt. »Erst höre, was dir der neue Rat zu sagen hat.«

Meyenburg hatte schon manchmal als Beauftragter seiner Stadt in der Mühlhäuser Ratsstube gestanden und hatte die Herren vom Rate der alten Stadtgeschlechter alle gekannt. Jetzt blickte er in lauter fremde Gesichter, und er sagte sich heimlich, daß sie nicht klügere und vertrauenerweckendere Züge trugen als die der früheren Ratsherren. Vielmehr wollte es ihm bedünken, als er sie schnell musternd überflog, als sei zum Teil ein sehr verdächtiges Gesindel ans Regiment der freien Reichsstadt gelangt. Die meisten mochten wohl Schuster und Schneider sein, einige waren Gastwirte, Besitzer kleiner Bierstuben, in denen der Umsturz des alten Rates beschlossen und durchgeführt worden war. Auf dem Bürgermeistersessel räkelte sich ein langer hagerer Mann mit kohlschwarzem kurzem Bart und bürstenförmig emporstehendem Haar. Er war das neue Oberhaupt der Stadt, Herr Sebastian Künemund, seines Zeichens ein Fleischhauer. In seinem Äußeren war er das genaue Gegenstück seines behäbigen Vorgängers, aber eines schien er mit ihm gemein zu haben: er redete nicht selbst, woran er vielleicht auch sehr klug tat, sondern ließ für sich den an seiner Seite sitzenden Syndikus Doktor von Otthera reden. Der kluge, geschmeidige Mann saß mit der gleichgültigsten Miene da, als habe sich von gestern auf heute gar nichts ereignet.

Meyenburg stand ihm an Klugheit nicht nach, er fand sich sofort in die Lage. Mit einer tiefen Verbeugung begrüßte er die biederen Handwerker, die durch die Gunst ihrer Genossen auf die Ratsstühle erhöht worden waren, und schmeichelte ihnen dadurch nicht wenig, denn sie waren dessen noch ungewohnt. Dann erwartete er eine Anrede, aber sie blieb aus, denn der Bürgermeister wußte offenbar nicht, was er sagen sollte.

»Die Herren Bürgermeister und Rat haben mich vorgefordert,« begann endlich Meyenburg, und nun fiel ihm Künemund in die Rede: »Jawohl – wir wollten – unser Freund Lamhardt – es ist an Euch vom alten Rate – den Teufel auch, Herr Doktor, sagt ihm, was wir ihm sagen wollen. Ihr versteht die Worte besser zu setzen denn ich.«

Otthera erhob sich und sagte im verbindlichsten Tone: »Unser Herr Bürgermeister wollte sagen: der alte Rat hat an Euch eine Gewalttat begangen, die der neue Rat mißbilligt. Wenn das Klosterleben wider Gottes Gebot ist, so kann die Wegführung einer Nonne aus der Klausur nicht von denen bestraft werden, deren Richtschnur Gottes Wille ist. Vielmehr ist eine solche Tat zu loben. Daß aber das Brückenkloster zu Schaden gekommen ist, fällt Euch gar nicht zur Last. Der neue Rat läßt Euch deshalb frei und fordert nur von Euch, daß Ihr gelobt, an der Stadt Mühlhausen Euch nicht zu rächen für das, was jene Leute Euch getan. Hier ist die Urfehdeurkunde. Wenn Ihr klug seid, unterschreibt Ihr sie auf der Stelle ohn' alle Weiterung und Verzug.«

»Ich begehre keine Rache. Die Leute sind genug gestraft,« erwiderte Meyenburg, trat an den Tisch heran und nahm aus Ottheras Hand die Feder, mit der er seinen Namen auf das Schriftstück warf.

Dann fuhr Otthera fort, so geläufig, als ob er seine Rede ablese: »Es tut dem neuen Rate von Herzen leid, daß dem Syndikus der Stadt, die uns benachbart ist und mit der wir im Frieden möchten leben, eine solche Kränkung und Unbill bei uns geschehen ist. Darum wird er Euch einen Wagen stellen und zwei Knechte der Stadt und wird Euch lassen heimfahren, auf daß die Nordhäuser unseren guten Willen mögen erkennen.«

Meyenburg verneigte sich zum zweiten Male. »Ich danke den Herren,« sagte er. »Aber erlaubt mir noch die Frage: ist's mir verstattet, die Jungfrau mitzunehmen, die ich aus dem Kloster entführt habe?«

»Das versteht sich von selber. Die Jungfrau mag gehen, wohin sie Lust hat!« rief Lamhardt dazwischen. »Nicht wahr, Herr Künemund?«

»Jawohl!« entgegnete der Bürgermeister. »Meint Ihr nicht auch, Herr Doktor?«

»Warum sollten wir sie halten? Doch mag sie einen Revers unterschreiben, daß sie keine Forderung will an die Stadt stellen, wenn etwa ihr eingebrachtes Gut sollte zu Schaden gekommen oder verloren sein bei der Plünderung des Klosters. Nicht wahr, Herr Bürgermeister?«

»Jawohl. Sie mag einen – solch ein Ding unterschreiben. Dann laßt sie laufen!« polterte Künemund. »Wo habt Ihr sie?«

»Im Hause des Herrn Ratsherrn Lamhardt.«

»Dann wartet eine kleine Weile, Herr Lamhardt. Ich schreibe Euch in Eile den Revers,« sagte Otthera, und seine Feder flog über das Papier. »So, hier ist er. Und Euch, Herr Kollege aus Nordhausen, viel Glück auf den Weg und für Eure Ehe! Denn mit einer Trauung wird das Abenteuer doch wohl enden? Es liegt jetzt in der Luft. Auch Doktor Karlstadt hat sich ein Nönnlein heimgeführt.«

»Ich hoffe in der Tat, daß sie bald mein Weib sein wird,« erwiderte Meyenburg lächelnd.

»Wo ist sie denn her? Hat sie noch Anverwandte?« fragte teilnahmsvoll ein wohlbeleibter Ratsherr, dessen burgunderrotes Antlitz ihn als einen Angehörigen der edeln Gastwirtszunft erkennen ließ.

»Sie hat einen alten Vetter in Gotha und eine Muhme in Erfurt. Ihr Vater und ihre Mutter sind tot.«

»Herr!« rief da der Wirt, fast begeistert von seinem klugen Einfall, »wenn sie denn also ohne Anhang ist, so tretet doch sogleich mit ihr in den Ring und kehrt als Ehemann nach Nordhausen zurück. Lasset Euch mit ihr zusammengeben durch unseren Prediger. Es wird Euch Zeit Eures Lebens und noch Euren Kindern eine absonderliche Erinnerung sein, daß Herr Thomas Münzer Eure Ehe eingesegnet hat. Und das Bier und den Wein, alles, was Ihr essen und trinken wollt, das findet Ihr bei mir. Ich bin der Wirt zum weißen Lamm!«

Ein großer Teil der hochedeln Ratsmannen schrie lärmend Beifall, und Meyenburg schoß der Gedanke durch den Kopf, der Vorschlag sei gar nicht so uneben und wohl zu erwägen. Aber gleich darauf verwarf er ihn wieder, denn so sehr ihn die Aussicht auf den sofortigen Besitz der Geliebten lockte, so glaubte er doch nicht, daß Ursula zu der schnellen Hochzeit freudig bereit sein werde. Sie wäre ja auch im vollen Rechte gewesen, wenn sie sich dagegen gesträubt hätte. Denn sie waren einander fremd geworden in den Jahren der Trennung und mußten sich erst wieder gegenseitig kennen lernen. Auch wollte er nun und nimmermehr, daß seine Ehe von dem Propheten eingesegnet werde, denn der Mensch war in seinen Augen ein verderblicher Verführer des Volkes, ein wahnsinniger, halbzerstörter Geist, der früher oder später ein elendes Ende finden mußte.

Er wollte eben dem begeisterten Wirt zum weißen Lamm die Ablehnung seines wohlgemeinten Rates aussprechen und suchte nach besonders vorsichtigen Worten, damit er ihn und seine Genossen nicht reize, da kam ihm ein anderer Ratsherr zu Hilfe. Der sprang auf, und mit einem höchst unwilligen Blicke nach seinem Vorredner rief er laut: »Dazu paßte weit besser meine Schenke zum braunen Bären. Bier und Wein sind da nicht schlechter, und wer die besten Bratwürste hat in Mühlhausen, das weiß ein jeder. Aber es gibt Leute, die können den Hals nicht voll genug kriegen.«

Auch er fand Beifall, aber auch sehr heftige Gegenrede, und es brach ein erbitterter Wortstreit aus zwischen den beiden schenkenbesitzenden Ratsherren und ihrem beiderseitigen Anhang. Diese Gelegenheit benutzte Meyenburg, sich mit einer Verbeugung und einem Händedruck von Otthera und dem Bürgermeister zu empfehlen und den Saal zu verlassen. Lamhardt folgte ihm und geleitete ihn bis zu seinem nicht weit entfernten Hause. Dann kehrte er nach dem Rathause zurück, ließ sich aber zuvor von seinem Gastfreunde versprechen, daß er seine Braut zur Unterzeichnung der Urkunde bewegen werde.

Die Frau Ratsherrin war mit ihrer jungen Tochter und ihrer Magd auf den Markt gegangen, und so traf Meyenburg Ursula ganz allein. Fast vier Jahre waren verflossen, seitdem er sie zum letzten Male in seinen Armen gehalten hatte. Nun waren ihre Arme wieder um seinen Hals geschlungen, und ihr Haupt lag an seiner Schulter, und wie damals weinte sie helle Tränen, Tränen, in denen sich das Leid langer Jahre löste.

Meyenburg stand in mächtiger Bewegung da und wagte kaum, sie zu berühren. War es nicht ein Wunder, was er erleben durfte? Es war ihm zu Mute, wie es einem sein müßte, der seine Gattin vor Jahren begraben und sie doch niemals vergessen hat, und dem sie dann plötzlich zurückgegeben wird aus dem Lande der Toten. Gestorben und begraben für ihn und die Welt war ja auch die gewesen, deren warmes, blühendes Leben er jetzt an seinem Herzen verspürte. Das Gefühl des Glückes war so groß, daß es ihn fast lähmte.

Erst nach einer Weile wagte er, sie fester zu umfassen und an sich zu ziehen. »Hast du mich noch lieb?« fragte er leise.

Da hob sie den Blick zu ihm empor, und was er in den feuchtschimmernden Augen las, war ihm die beglückendste Antwort auf seine Frage.

»Ich habe dich immer lieb behalten,« sagte sie. »Ich konnte die Liebe zu dir nicht aus meinem Herzen reißen, und der alte Pater Hilarius mußte mich in der Beichte immer wieder scharf zurechtweisen, wenn ich ihm bekannte, daß ich dich nicht vergessen könne. Zuletzt sagte ich ihm nichts mehr davon, und dann ging ich nur zur Beichte, weil es so Sitte war im Kloster. Es konnte sich da keine ausschließen.«

»Wie bist du denn frei geworden?« fragte Meyenburg.

»Es war eine im Kloster, Eva von Gehofen, die las heimlich die heilige Schrift und Bücher und Schriften von Luther. Die hat mich freigemacht. Sie zwang mich geradezu, das Büchlein zu lesen von der Freiheit eines Christenmenschen, zeigte mir auch, wie es übereinstimme mit der Apostel Lehre. Da merkte ich, daß die Möncherei kein gutes Werk ist, und daß wir uns selber nicht die Seligkeit verdienen können durch Beten und Fasten, viel weniger anderen. Darum dünkte mich das Opfer nutzlos, das ich meinem Vater brachte. Jeden Abend, wenn ich mich niederlegte, mußt' ich denken: der Tag war für nichts, und so wird am Ende auch dein Leben für nichts sein. Das Kloster ward mir verleidet, und als die Eva in der vorigen Woche heimgeholt ward von ihrem Bruder, da litt mich's nicht länger, und ich schrieb an dich. Die letzten Tage war ich sehr traurig, denn ich dachte, du hättest mich vergessen.«

Meyenburg zog sie fest an sich und küßte sie auf den Mund. »Ich hatte dich nie vergessen und habe oft mit Schmerzen an dich gedacht. Aber, Ursula, es war hohe Zeit, daß dein Sinn sich wandelte und daß du mir schriebst. Es konnte wohl bald eine Zeit kommen, wo ich dich hätte vergessen müssen. Die ganze Stadt wollte mich ehelich machen, und alle meine Freunde setzten mir fleißig zu, ich solle heiraten, und auf die Dauer hätte ich wohl kaum widerstanden.« Sie bog den Kopf zurück und sah ihn erschrocken und mit erblichenen Wangen an. »Du hattest eine andere liebgewonnen?«

»Nein, keine,« erwiderte er, »obwohl mir manche gefiel. Aber ein rechter Mann braucht ein Weib, Gott hat es nun einmal so geordnet. Wer ein Hagestolz bleibt, er sei denn durch Krankheit dazu gezwungen oder durch ein anderes Übel, der widerstreitet Gottes Ordnung sich selbst zum Schaden. So hätt' ich auch eine zur Frau genommen mit der Zeit, und hätt' ich ihr auch nicht alle Liebe geben können, so wäre ich ihr doch treu gewesen. Gott sei gedankt, daß ich nun doch noch die nehmen kann, der ich Liebe, nicht nur Treue geben kann! Mir ist es wie ein Wunder!«

»Ja, Michael! Gott hat ein Wunder an uns getan. Das wollen wir ihm danken unser ganzes Leben lang.« Sie schmiegte ihr Haupt fest an seine Schulter. »Ich will's ihm dadurch danken, daß ich dich über alles lieb habe und dir dienen will!« flüsterte sie.

»So willst du mein Weib werden?«

»Wie kannst du so närrisch fragen?«

»Und wann, Ursula? Einer riet mir vorhin, wir sollten uns gleich hier auf der Stelle lassen zusammengeben und als Eheleute einziehen in Nordhausen. Was denkst du?«

Sie wand sich aus seinen Armen, und eine dunkle Wut überzog ihr Antlitz. »Das kannst du doch nicht ernstlich meinen?« sagte sie mit zitternder Stimme.

»Warum nicht. Liebste? Wir haben so lange auf einander gewartet, daß es nicht rat ist, noch länger zu warten.« Sie blickte ihn flehend an. »Nein, Michael! Nicht so wie fahrendes Volk. Nicht in der fremden Stadt unter lauter fremden Menschen. Laß uns das nicht tun, ich bitte dich. Bringe mich nach Erfurt zur Muhme Barbara oder nach Gotha zu meinem Paten Dotheus. Die werden mir gern eine Hochzeit ausrichten, und du holst mich heim. So ist es Sitte und Brauch, und danach wollen wir tun.«

»Und wenn ich nun auf meinem Kopf bestünde?« fragte er ernsthaft.

Sie neigte das Haupt und erwiderte erst nach einer kleinen Weile: »Dann fügte ich mich deinem Willen. Aber ich täte es mit Trauer und Scham in meinem Herzen, und das wirst du nicht wollen.«

»Nein, das will ich nicht!« rief Meyenburg und riß sie an sich. »Du hast recht. Es soll alles zugehen nach Brauch und Sitte, damit wir später nichts zu bereuen haben und die Mäuler der Leute uns nicht bereden. Mir verschlüge das nichts, doch eine Frau kränkt sich leicht über der Menschen Gerede. Aber nach Nordhausen nehme ich dich doch mit. Denn nach Gotha oder Erfurt kann ich dich nicht bringen in dieser Zeit, da niemand weiß, ob er nicht angefallen wird, so er durch ein Dorf reitet. Noch weniger lasse ich dich mit anderen ohne mich fahren. Du ziehst mit mir nach Nordhausen, und dort bringe ich dich zur Frau eines meiner Freunde. Da magst du bleiben, bis das Wetter vorüber ist, das jetzt in Thüringen anhebt, und dann kannst du immer noch nach Gotha oder Erfurt ziehen, dich heimholen zu lassen von mir.«

Ursula sah ihn nachdenklich an. »Das wird das beste sein, und ich füge mich deinem Willen« erwiderte sie, und plötzlich fing sie leise an zu klagen: »Ach, Michael, mir ist so bange. Habe Geduld mit mir. Ich muß mich erst wieder in die Welt gewöhnen.«

»Dazu wirst du wohl eine Zeit brauchen,« sagte er ernsthaft und küßte sie auf die Stirn. »Aber ich meine, du wirst es lernen.«

»Ist's eine freundliche, gute Frau, zu der du mich führen willst?« fragte sie ängstlich.

»Freundlich und liebereich, aber man tut gut, ihr nicht zu oft zu widersprechen. Ihrem Eheherrn hat sie das Widersprechen ganz abgewöhnt, er tanzt, wie sie pfeift. Möchte wissen, ob du das mit mir auch fertig bringst.«

»O du!« rief sie. »Danach strebe ich gar nicht.«

Sie drückte sich fester an ihn und bot ihm den Mund Zum Kusse. Da umschlang er sie mit beiden Armen, und in der nächsten Viertelstunde standen sie eng aneinandergeschmiegt und sprachen nicht viel, ohne daß ihre Lippen müßig gewesen wären.

Dieses trauliche Alleinsein ward gestört durch die Heimkehr der Frau Ratsherrin Lamhardt, die allsogleich ein großes Lamentieren anhub, weil der Freund ihres Mannes in ihrem Hause noch keinen Imbiß erhalten habe. Sie schalt heftig auf die Magd, die sie doch selber mit auf den Markt genommen hatte, und trug dann mit großer Schnelligkeit alles auf, was sie an Eßbarem zur Hand hatte: Schinken, Wurst und andere gute Dinge.

Meyenburg wurde mit einem Male inne, daß er einen ganz ungeheuren Hunger habe, was nicht gerade verwunderlich war, denn die Mühlhäuser Gefängniskost war mager genug gewesen. So aß er denn von den guten Dingen, daß die beiden Frauen darüber in Erstaunen gerieten, und ließ den Wagen, der schon an der Tür stand, eine ganze Weile warten. Endlich war er fertig und nahm mit herzlichem Dank Abschied von der gastlichen Hausfrau. Dann fuhr er, von zwei berittenen Stadtknechten begleitet, mit seiner neugeschenkten Liebsten aus den Toren der Prophetenstadt in den strahlend hellen Frühlingstag hinein, seiner Heimat entgegen.


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