Paul Schreckenbach
Michael Meyenburg
Paul Schreckenbach

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

»Ihr seid alle Narren,« sagte am Morgen des übernächsten Tages Michael Meyenburg zu seinem Freunde Justus Jonas, der ihn auf seiner Herberge besuchte. »Wie einen Triumphator habt ihr gestern den Martin Luther empfangen. Wäre der große Erasmus Rotterdamus eingezogen, ihr hättet ihn nicht herrlicher und prächtiger begrüßen können.«

Der junge Kanonikus nickte mit ernstem Gesicht. »Mit Fug und Recht. Denn hier ist viel mehr als Erasmus!«

Meyenburg zog die Brauen hoch und sah ihn an, als zweifle er an seinem Verstande. »Sage ich's nicht? Ihr narret. Und leider narret mit euch die ganze Stadt. Deshalben bin ich ja auch noch hier, anstatt auf dem Wege nach Worms. Aber meinst du, ich hätte gestern verhandeln können mit den Herren auf der Ratsstube? Kein Mensch war da, alle waren hinausgelaufen, zu sehen, wie der Wittenberger von euch eingeholt wurde. Es sollen ja unter der Reiterschar, die sein Wäglein geleiteten, auch etwelche Herren vom Rate gewesen sein. Ist dem so?«

Wieder neigte Justus Jonas bestätigend das Haupt. »Nicht nur etliche. Viele!«

»Und dieser Mann ist ein Gebannter,« sagte Meyenburg finster. »Was wird sein Ende sein? Jetzt zieht er mit Pomp durch die Lande, aber vielleicht schon in vier Wochen wirft man seine Asche in den Rhein. Dann werden die Rechenschaft geben müssen von ihrem Tun, die ihm jetzt den Nacken steifen. Justus, mir ist bange um dich. Du bist mein Freund. Nicht nur als guter Gesell beim Becher, wie so mancher andere. Ich vertraue dir, wie wenigen. Hast du doch auch schon manchmal meine Beichte gehört. Wie wäre mir's leid um dich, wenn du in einer Bußzelle enden solltest!«

Er sprach das, während er sich, auf einen Schemel gestützt, die Schuhe zuschnürte, denn er war eben erst dem Bett entstiegen und im Begriff, seinen Anzug zu vollenden. Nun hob er das Haupt und sah hinüber zu seinem Freunde, der am Fenster stand. Aber er entsetzte sich fast über den Ausdruck, den dessen Antlitz angenommen hatte. In den sonst etwas weichen Zügen des Nordhäuser Ratsmeistersohnes lag eine eiserne Entschlossenheit, und aus den milden, freundlichen Augen leuchtete ein Feuer, das ihn erschreckte.

»Fürchtest du das für mich, Michael?« sagte Justus Jonas mit einem stolzen Lächeln. »Ich schräke auch davor nicht zurück. Eher aber droht mir das Geschick des Hieronymus von Prag: denn wisse, Freund, ich fahre morgen mit Martinus und Amsdorf gen Worms.«

Meyenburg fuhr empor und starrte ihm bestürzt in das begeisterte Antlitz. »Bist du des Teufels? Hat der Augustiner dich ganz verzaubert? Was willst du in Worms?«

»Sehen will ich und hören, wie einer Zeugnis gibt von Christus vor Kaiser und Reich. Ich will dabei sein, wenn das geschieht, was in der Christenheit nicht wieder geschehen ist seit der Apostel Tagen.«

Meyenburg lachte rauh und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »O ihr Verblendeten! Weißt du, was du sehen wirst in Worms? Einen Scheiterhaufen, auf dem man einen Ketzer röstet. Und seine Flammen könnten leicht dein eigenes Gewand ergreifen. Justus, laß dich warnen! Ich rate dir gut!«

»Du meinst es wohl mit mir, aber mein Beschluß ist gefaßt. Du machst mich nicht wankend,« erwiderte Justus Jonas, und als er die tiefe Besorgnis in den Zügen des Freundes erkannte, setzte er hinzu: »Fürchte nichts für mich, Freund. Martinus wird so sicher sein in Worms wie die Männer im feurigen Ofen oder wie Daniel, der Prophet, unter den Löwen, denn Gott ist sein Schutz und wird auch die beschirmen, die ihm folgen.«

Meyenburg blickte ihn finster an und sagte nach einer Weile: »Denkst du deines Eides nicht, den du als Priester geschworen? Wie kannst du Gemeinschaft haben mit einem, der aus der Kirche verstoßen ist?«

»Ich war blind im Geiste, als ich den Eid schwur. Jetzt weiß ich, daß jeder Eid nichtig ist, der uns zwingen will, wider Gottes Gebot zu handeln.«

»So sagt der Wittenberger,« fiel ihm Meyenburg in die« Rede. »Damit wendet er die Leute von der Kirche ab, denn er allein hat Gottes Wort. Alle Menschen sind Narren und Toren, er allein ist klug. Päpste und Konzilien haben geirrt, nur Martinus in Wittenberg irrt nicht, und was er spricht, muß Gottes Wort sein.«

»Es ist Gottes Wort,« erwiderte Justus Jonas fest, »denn aus ihm redet der Heilige Geist offenbarlich. Und dir, Michael, muß ich vorwerfen, daß du unbeständig bist in deiner Meinung. Hast du nicht selber gesagt vor drei Jahren, er habe recht daran getan, den Tetzel anzugreifen? Auch anderes hast du gelobt, was er gesagt und getan hat. Wir alle, Eoban und Crotus und ich, meinten bis vor kurzem, du seiest sein Freund, ja unser Crotus meinte es noch gestern. Was hat dich nun so ganz gegen ihn erregt und in Zorn gebracht?«

»Ich habe vordem gemeint, er wolle die Mißbräuche der Pfaffheit abstellen. Jetzt erkenne ich: er will die Kirche zerschlagen. Das hat mich ihm abgewendet.«

Justus Jonas ließ einen langen, forschenden Blick auf ihm ruhen. »Nichts anderes?« fragte er endlich.

»Ist dir das nicht genug?«

»Michael,« erwiderte Jonas, »ich weiß, daß du mich nicht täuschen willst. Aber solltest du dich nicht etwa selbst betrügen? Seit Weihnachten, so schrieb mir mein Gevatter aus Nordhausen, hält sich unser Meyenburg von uns zurück. Er kommt nicht mehr mit uns zusammen in der Offizin bei unserem Blasius, dem Ratsapotheker, und redet kühl über das, was uns alle so heftiglich bewegt. Kurz vor Weihnachten, Freund, kamst du aus Erfurt wieder heim und trugst das Bild der Jungfrau Lachensper im Herzen. Solltest du um eines Weibes willen dein Gemüt abgekehrt haben von der Wahrheit, der du dich vorher schon so sehr zugeneigt hattest? Der Teufel tritt uns ja so manchmal nahe unter der Larve eines Weibes und verführt uns, daß wir unsere Seele aufs Spiel setzen und des ewigen Gutes vergessen. Vielleicht stehst du in einer viel größeren Gefahr als ich, wenn ich gen Worms fahre. Dem denke nach, Freund Michael.«

Meyenburgs Antlitz hatte sich während dieser Worts seines Freundes mit dunkler Röte bedeckt, und als Jonas nun schwieg und ihn bekümmert anblickte, brach er heftig los: »Was denkst du von mir? Wie niedrig schätzest du mich ein? Wahrlich, glaubte ich, daß Gott aus Luthern spräche, ich träte in Nordhausen auf den Markt und erregte die ganze Bürgerschaft für ihn. Daran hinderte mich kein Mensch. Aber seine Lehre ist nicht von Gott, die ist wider Gott. So will es mich bedünken.«

»Wie willst du das beweisen?« rief Jonas mit blitzenden Augen.

»Das beweise ich dir aus zehn Stücken, wenn du willst. Zum ersten: Gott will Ordnung und Obrigkeit haben auf Erden. Aber der Geist des Wittenbergers ist ein Geist der Unordnung, ja des Aufruhrs. Sieh hin ins Land! Ist nicht überall der gemeine Mann so hoch erregt, daß es in Bälde an allen Ecken zum Aufruhr kommen muß? Die Bürger wollen dem Rate nicht gehorchen, die Bauern wollen ihren Herren keinen Schoß mehr geben, wollen nicht steuern und frohnden, sagen, sie hätten's nicht nötig, sintemal sie freie Christen wären. Ein Christ sei niemand Untertan, brauche niemandem zu dienen, sei ein Herr aller Dinge, und bei dem allen berufen sie sich auf Luther.«

»Sie täten besser, wenn sie sich dabei auf den Teufel beriefen!« erklang eine starke Stimme von der Tür her. Die beiden fuhren herum, Justus Jonas trat mit schnellen Schritten vom Fenster hinweg in die Mitte des Gemaches. Im Halbdunkel der Diele stand der Mann, der den Ausruf getan, ein Mönch in der schwarzen Kutte der Augustiner. Der Besitzer des Hauses, Meister Adam Henne, hatte ihm selbst die Tür geöffnet, sein schüchternes Anklopfen war wohl von Meyenburgs lauten Worten übertönt worden. Nun stand das kleine Schneiderlein demütig mit abgezogenem Käppchen zur Seite und blickte scheu und ehrfürchtig zu dem empor, der hier Einlaß begehrte.

Schnellen Schrittes trat der Mönch über die Schwelle, und Michael Meyenburg durchzuckte ein sonderbarer Schrecken. Er hatte ihn noch nie gesehen, aber er erkannte ihn auf der Stelle. Erst gestern war ihm ein Holzschnitt zu Gesicht gekommen, der ihn mit einem Heiligenschein darstellte, und auch andere Bilder von ihm gingen überall von Hand zu Hand. Aber wie tot, wie leer, wie nichtssagend erschienen ihm alle diese Bilder, nun, da er den Lebendigen vor sich sah! Die Umrisse seiner Erscheinung gaben sie getreulich wieder, die derben, wie aus Eichenrinde geschnitzten Züge des Mansfelder Bergmannssohnes, die breite Tonsur, die von dunkeln Haaren eingerahmt war. Aber keine Ahnung hatten sie ihm gegeben von dem funkelnden Glanze der Augen, die wie Kohlen in dem bleichen, mageren Antlitz standen, und die jetzt so durchdringend auf ihm ruhten, daß er in eine ihm selbst unerklärliche Verwirrung geriet. Martin Luther winkte seinem Freunde, der ihn erstaunt anblickte, mit der Rechten zu und wandte sich dann mit ernster Freundlichkeit an Michael Meyenburg: »Ihr wundert Euch, daß ich hier eindringe? Ich erkannte Justum am Fenster, und der Meister, der vor der Tür stand, sagte mir, wer Ihr seid. Blasius Michael, der Ratsapotheker, erzählte mir im November des letzten Jahres, als er bei mir war in Wittenberg, es neigten sich viele in Nordhausen dem neuen Evangelium zu. Auch Euren Namen hat er mir genannt. Wie höre ich nun solche Worte von Euch? Habt Ihr meine Schriften nicht gelesen?«

»Das habe ich, Herr.«

»Und könnt Ihr mir auch nur eine Zeile nennen, wo ich lehre, der Christ solle nicht Untertan sein seiner weltlichen Obrigkeit? Auch nur eine Zeile, Herr Stadtschreiber? Ihr könnt es nicht, und kein Mensch kann es. Was redet Ihr denn also das freche Gewäsch derer nach, die mich mit erdichteten Lügen schmähen und lästern? Knirschen nicht die Bauern schon lange wider ihre Herren in die Zügel? Ihr habt gehört, wie jedermann im Reiche, vom Aufruhr des armen Kunz in Schwaben und von dem Pfeifer, der sich gegen den Bischof von Würzburg erhob. Das war, ehe der Luther hatte ein Buch ausgehen lassen. Jetzt schiebt man ihm es in die Schuhe, und er muß schuld daran sein, wenn allenthalben der gemeine Mann nach Freiheit schreit. Habt Ihr nicht gelesen, was ich geschrieben habe im letzten Winter von der Freiheit eines Christenmenschen?«

»Nein.«

Luther blickte ihn befremdet an. »Ihr sagtet doch eben, daß Ihr meine Schriften kenntet?«

»Die jüngsten nicht. Ich hatte im Winter viele andere Geschäfte. Da bin ich zum Lesen nicht gekommen.« Wieder schoß ihm bei diesen Worten eine heiße Blutwelle ins Antlitz. Er fühlte den Stachel, den ihm vorhin sein Freund Jonas ins Herz eingesenkt hatte. War nicht doch vielleicht etwas Wahres an dem Vorwurfe, er habe sich um Ursulas willen von Luthers Sache abgewendet? Beeinflußt hatte ihn die Liebe zu ihr sicherlich, das ward ihm jetzt klar. Ein fester Anhänger Luthers war er ja auch vorher nicht gewesen, der kühne Neuerer hatte ihn auf der einen Seite angezogen, auf der anderen abgestoßen, und wenn er in Luthers Schrift an den christlichen Adel noch vieles gebilligt hatte, so war ihn schier ein Grauen angekommen, als das Büchlein von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche in seine Hände gelangt war. Eine gründliche Besserung der kirchlichen Zustände war ihm seit je hochnötig erschienen, aber dieses Buch ging ihm viel zu weit, es zerschlug alles, worauf das Ansehen der Kirche beruhte, und kam es in Geltung, so mußte die Kirche selber dahinsinken. So hatte sich sein Gemüt erkältet gegen den Mann aus Wittenberg, der die ganze Welt umzukehren schien. Aber er hatte sich doch noch nicht von ihm losgesagt, war noch immer in die Ratsapotheke gegangen, wo die Anhänger Luthers und solche, die es werden wollten, heimlich zusammenkamen und seine und seiner Freunde Schriften lasen und besprachen. Fern gehalten hatte er sich erst, nachdem er im Winter von Erfurt heimgekehrt war, und seitdem er sich sagen mußte, daß er von dem Vater seiner Liebsten schwerlich einen günstigen Bescheid auf seine Werbung erhalten werde, wenn auch nur der Schein einer Hinneigung zur Lehre des Wittenbergers auf ihm lag. Von da ab hatte er die Stimmen, die in ihm zu Luthers Gunsten sprachen, fast gewaltsam zum Schweigen gebracht, hatte wieder die Gemeinschaft derer gesucht, die seine Feinde waren, hatte sich durch sie bestärken lassen in der Meinung, seine Lehre sei von Gott verworfen, weil sie vom Papste verworfen war. Das alles kam ihm mit einem Male zum Bewußtsein, und eine Unsicherheit und Unruhe überfiel ihn, wie er sie noch nie empfunden. Unwillkürlich senkte er die Stirn vor den mächtigen Augen, die mißbilligend und verwundert auf ihm ruhten.

»Ich sollte meinen,« sagte Luther nach einer Welle, »auch die wichtigsten Geschäfte Eurer Stadt müßten Euch Zeit lassen, nach dem zu fragen, was Eurer Seele Seligkeit betrifft. Ich werde Euch das Büchlein senden. Werdet Ihr's lesen?« Als Meyenburg das Haupt neigte, fuhr er fort: »So komm jetzt mit mir, Justus. Die Freunde harren draußen vor der Tür, daß sie mich hinübergeleiten in die Kirche unseres Klosters, wo ich in einer Viertelstunde eine Predigt zu tun gedenke. Auch Ihr seid eingeladen, Herr Stadtschreiber.«

Er wandte sich zum Gehen, aber plötzlich kehrte er um, trat dicht an Meyenburg heran, und ihm leicht die Hand auf die Schulter legend, sagte er im Ton väterlicher Güte: »Mich dünkt. Ihr steht in einer Anfechtung, Herr. Ich lese es in Euren Mienen. Ihr plaget Euch mit Zweifeln, die der Teufel in Eure Seele geworfen hat. Nun, wie ich von Eurem Hauswirte gehört habe, fahrt Ihr gleich uns gen Worms. Treffen wir uns auf dem Wege oder dort, so sucht mich auf und sagt mir ehrlich, was Euch anficht. Jetzt habe ich keine Zeit für Euch, denn andere Pflichten rufen mich und werden mich festhalten, bis ich abreise. Aber es liegt mir an Euch, dieweil Ihr, wie man mir sagt, ein fein Ingenium habt, und weil Ihr gefreundet seid mit Männern, die ich lieb habe.«

Er streckte ihm die Hand hin, und unwillkürlich legte Meyenburg die seine hinein. Luther umfaßte sie mit festem Drucke, nickte ihm zu und schritt zur Tür hinaus. Justus Jonas, der nach ihm das Gemach verließ, winkte dem Freunde mit der Hand, er möge ihm folgen. Der aber schüttelte stumm den Kopf und trat ans Fenster.

Er sah, wie draußen Jonas von zwei Männern herzlich begrüßt wurde. Der eine war Crotus, den anderen kannte er nicht. Es mochte wohl Nikolaus von Amsdorf sein. Eine große Volksmenge hatte sich vor dem Hause angesammelt und folgte nun Luther und seiner Begleitung, die bald um die Ecke verschwunden waren.

Meyenburg setzte sich auf seine Bettstatt, stemmte die Hände auf die Knie und starrte vor sich hin. Was würden wohl Ursula und ihre Muhme, was würde der alte Dotheus Lachensper sagen, wenn sie erfuhren, daß er dem großen Ketzer die Hand gereicht hatte! Aber er hatte nicht anders gekonnt. In dem Wesen dieses Mannes war etwas Zwingendes, wer in seine Nähe kam, der geriet in seinen Bann. Auch die Schrift, die er ihm anbot, hatte er annehmen müssen. Es wäre ihm nicht möglich gewesen, nein zu sagen. Und jetzt ergriff ihn auf einmal ein ungestümes, ein unbezähmbares Verlangen, hinzugehen und zu hören, was er drüben in der Augustinerkirche den Leuten sagte. Er kämpfte vergebens dagegen an, es ward übermächtig in ihm, trieb ihn vorwärts wie ein dunkler Drang, dem er nicht zu widerstehen vermochte. Als das Gebimmel der Glocken verhallt war, sprang er auf und hüllte sich in seinen Mantel. Auf das Haupt stülpte er einen breiten Filzhut und zog ihn tief ins Gesicht herab, denn er wollte womöglich von keinem Menschen erkannt werden. Nahe an den Häusern hin, als befände er sich auf verbotenem Wege, eilte er hinüber nach der Kirche, die nur wenige hundert Schritte entfernt war.

Er mußte im Vorraum stehenbleiben, weiter vermochte er nicht vorzudringen. Eine ungeheure Menschenmenge erfüllte das Gotteshaus, quetschte sich in den Bänken zusammen und stand dichtgedrängt im Mittelgang und in allen Seitengängen. Die tiefste Stille herrschte, und die Stimme des Predigers klang so klar und mächtig über die Zuhörer hin, daß man auch im Vorraum der Kirche, wo ihn nur die Vordersten sehen konnten, jedes seiner Worte verstand. Sie regten Meyenburg im Innersten auf. Was war das doch für ein Mensch, der so reden konnte! Gebannt und von der höchsten Gewalt der Kirche verflucht, einem Scheiterhaufen vor Augen, verachtete er alle Gefahr, schleuderte seine wuchtigen Anklagen wider die Verführer, die dem Volke vorlögen, man könne durch fromme Werke selig werden, und die Seligkeit hänge davon ab, daß man faste, bete, die Messe halte. Manchmal ging eine Bewegung durch das Volk, so als er rief: »Ich sage, daß alle Heiligen, sie seien gewesen, so heilig sie wollen, so haben sie die Seligkeit nicht erlangt mit ihren Werken. Auch die heilige Mutter Gottes ist mit ihrer Jungfernschaft oder Mütterlichkeit nicht fromm oder selig geworden, sondern durch den Willen des Glaubens und durch die Werke Gottes und nicht mit ihrer Reinigkeit oder eigenen Werken.« Daß selbst die heilige Gottesmutter, zu der man gebetet hatte, wie zu Gott selbst, nur selig sein sollte durch ihren Glauben und durch das Erlösungswerk ihres Sohnes, das deuchte vielen verwunderlich, und mancher entsetzte sich wohl gar heimlich darüber. Aber die meisten standen unbeweglich mit vorgestreckten Hälsen da, als wollten sie die Worte des Predigers von seinen Lippen trinken.

»Ich will die Wahrheit sagen und muß es tun, darum stehe ich hier und nehme nicht Geld darum,« rief Martin Luther mit starker Stimme, als plötzlich ein Lärm entstand. Die Balken der einen Empore, die mit Menschen überfüllt war, begannen zu krachen, es schien, als wollten sie einstürzen. Frauen kreischten laut auf und drängten angstvoll nach dem Ausgange. Aber durchdringend erklang die Stimme von der Kanzel her: »Sei still, liebes Volk, es ist der Teufel, der richtet so eine Spiegelfechterei an. Sei stille, es hat keine Not. Ich kenne deine Tücke, Satan!« Alsbald legte sich der Lärm. Kein Einstürzen der Empore erfolgte, die Leute blieben ruhig auf ihren Plätzen, und der Prediger beendete seinen Sermon, als ob nichts geschehen wäre.

Als er langsam von der Kanzel herabschritt, sagte ein langer Mensch, der vor Meyenburg stand, so laut, daß es in der halben Kirche vernehmlich war: »Dieses war das erste Zeichen, das Luther tat, und bezeugte seine Herrlichkeit.« Es war der Baccalaureus, der am vorgestrigen Abend das kaiserliche Edikt am Tore der St. Georgsburse den Studenten vorgelesen hatte. Salbungsvoll fuhr er fort: »Ihr habt ein Mirakel gesehen, liebe Leute, habt gesehen, wie der Gesalbte Gottes den bösen Feind, der den Kindern Gottes schaden wollte, mit einem Hauche seines Mundes in die Flucht schlug. Es stehet geschrieben: Viele Propheten und Könige wollten sehen, was ihr sehet, und haben es nicht gesehen. Weil euch denn Gott einer so hohen Gnade gewürdigt hat, so kehret euch ab von den Werken der Abgötterei, die ihr bislang getrieben habt. Lasset das Messelaufen, Fasten, Wallfahrten unterwegs, denn so ihr euch darauf verlasset, so seid ihr verlassen.«

Er hatte sich dabei halb umgedreht und erblickte nun Meyenburg, den er sogleich mit gönnerhaftem Nicken begrüßte. Er hatte ihn offenbar erkannt und trat auch auf ihn zu. Aber der hatte keine Lust, die Bekanntschaft mit dem sonderbaren Heiligen zu erneuern, der in seinem unwiderstehlichen Rededrange hier die Predigt Luthers auf seine schnörkelhafte Weise wiederholte und mit Nutzanwendungen versah. Er erwiderte seinen Gruß nur flüchtig, wandte sich ab und ging eiligen Schrittes von dannen.

Er hatte das Bedürfnis, allein zu sein mit seinen Gedanken. Darum verließ er die Stadt und suchte den Steigerwald auf. Er kannte dort eine verschwiegene Stelle, wo er in früheren Zeiten oft gesessen hatte. Sie war ihm von jeher lieb gewesen, denn sie erinnerte ihn an ein Waldversteck seiner Kinderheimat. Der Pfad, den er einschlagen mußte, war jetzt fast ganz verwachsen, ein Zeichen, daß Menschen diese Stätte völlig mieden.

Als er angekommen war an der Waldblöße, einem lichtgrünen Moosflecken unter uralten Bäumen, warf er sich nieder, verschränkte die Arme über dem Kopfe, und in den blauen Frühlingshimmel über sich schauend, überließ er sich seinen Gedanken. Erfreulich waren sie nicht. Er war ein Mensch von scharfem Blick und klarem, einfachem Willen, der von Jugend auf gewußt hatte, was er wollte. Jetzt mit einem Male war es ihm, als wisse er es nicht mehr. Er stand an einem Scheidewege, das fühlte er mit voller Deutlichkeit. Schlug er sich zu Luthers Gegnern, so konnte er hoffen, des alten Dothus Eidam zu werden, sonst nicht. Denn niemals würde der seiner Tochter Hand in die eines Mannes legen, der nicht unverbrüchlich an der alten Lehre festhielt. Er verlor dann aber fast alle seine Freunde, die ihn jetzt schon mit Sorge und Betrübnis betrachteten. Als er sie vor zwei Jahren zum letzten Male gesehen hatte, waren sie alle noch schwankend gewesen, aber als er im vorigen Winter wieder in Erfurt erschienen war, standen sie schon fest auf der Seite Luthers, und jetzt war der Mönch von Wittenberg ihnen wie ein Heiliger, ja schon sahen sie in ihm den von Gott gesandten Messias, der die Kirche wiederherstellen sollte in ihrer alten apostolischen Reinheit. So lieb sie ihn hatten, so schöne Erinnerungen sie mit ihm teilten, sie würden allesamt mit der Zeit ihm entfremdet werden, langsam vielleicht, aber unaufhaltsam. Sie alle, die er schätzte und liebte um ihres Geistes, ihres Frohsinns, ihrer Tüchtigkeit willen, kannten ihn vielleicht schon in wenigen Jahren nicht mehr, wollten ihn nicht mehr kennen.

Wer aber waren dann die Menschen, mit denen er an einem Strange ziehen mußte? Außer dem Grafen von Hohenstein fiel ihm keiner ein, der ein tüchtiger Mann gewesen wäre. Die Priester, die um ihrer Pfründen willen gegen Luther standen, hatte er nie geachtet. Die Besten unter ihnen waren gutmütige Leute ohne Geist, die meisten HH glichen nur allzusehr dem Bilde, das ihre Gegner in den Briefen der Dunkelmänner von ihnen entworfen hatten. Nur einer fiel ihm ein, der eine Ausnahme darstellte, Christian Heune, ein blutjunger Priester in Nordhausen, mit dem er in letzter Zeit häufig zusammengetroffen war, ja, der ihn geradezu aufgesucht hatte. Der hatte Geist und weltmännische Sitte, aber liebenswert war er ihm nicht, denn er hatte ein hartes Herz und einen nachtragenden Sinn. Auch war ihm zuweilen der Eifer dieses Jünglings verdächtig erschienen, er sprach gar zu oft von Würden und Ehren, die einem treuen und tüchtigen Priester wohl erreichbar seien.

Seines Freundes Justus Bild trat ihm da mit einem Male vor die Seele. Der war schon Erfurter Kanonikus, trotz seiner jungen Jahre, und konnte vielleicht als Diener des alten Glaubens eine glänzende Laufbahn machen. Aber das alles warf er hin, weil er vom neuen Glauben begeistert war. Vor einigen Stunden noch hatte ihn seine lodernde Begeisterung erschreckt, jetzt erfüllte sie ihn fast mit Neid. War es nicht etwas Großes, so begeistert zu sein, daß man alle Güter dieser Welt und auch all ihre Gefahren für nichts erachtete? Und war der gewaltige Mann, der diese Begeisterung überströmen ließ aus seiner Seele in die seines Freundes und so viele andere Seelen, wirklich ein Verführer zu ewiger Verdammnis? Seine Person hatte ihn mächtig angezogen, seine Predigt tief erschüttert. Nicht mit einem Male waren die Zweifel, die er in der letzten Zeit künstlich genährt, die ihm auch beim Lesen seiner Schriften schon früher gekommen warm, aus seiner Seele verflogen. Aber es war ihm jetzt, als sei er ausgestoßen oder habe sich selbst ausgeschlossen aus einem Kreise, zu dem er innerlich doch gehörte, und die Begeisterung seiner Freunde dünkte ihm etwas zu sein, was er eigentlich hätte haben sollen, haben müssen.

Er kam zu der Meinung, es sei seine Pflicht, die Lehre des Wittenbergers hinfürder nicht einfach abzuweisen, sondern auf sich wirken zu lassen und noch einmal ernstlich zu prüfen. Der Mann hatte ihm ja selbst angeboten, über seine Anfechtungen, wie er es nannte, mit ihm zu reden. Nun, dann wollte er ihm einmal klar und deutlich die Gedanken darlegen, die ihn auch schon vor seinem heimlichen Verlöbnis immer wieder daran gehindert hatten, sich freudig und ohne Rückhalt der neuen Bewegung anzuschließen. Gelang es Luther, ihn zu überzeugen und seine Zweifel zu zerstreuen, so wollte er sich nicht länger sperren und sträuben. Er hatte das Vorgefühl, daß es dem Gewaltigen wahrscheinlich gelingen werde, und er wünschte es fast.

Aber was wurde dann aus seiner Liebe zu Ursula? Sollte er versuchen, den alten Dotheus zu betrügen, und wenn er etwa von Worms zurückkam als Luthers Anhänger, noch die alte Feindseligkeit oder wenigstens Abneigung zu heucheln wider die neue Lehre? Das deuchte ihm niederträchtig, auch war es schwerlich durchzuführen. Vielleicht war es am besten, er kehrte auf dem Rückwege gar nicht wieder in Erfurt ein, sondern ließ durch Nordhäuser Freunde das Bild des heiligen Michael abholen, das er bei dem alten Lachensper bestellt hatte. Diese Freunde konnten dann gleich die Freiwerber für ihn machen und den Alten bereden, die Hochzeit so bald wie möglich anzusetzen, und er kam dann erst am Abend vor der Trauung in Erfurt an und konnte verfänglichen Fragen seines zukünftigen Schwiegervaters aus dem Wege gehen. So oder so ähnlich war die Sache vielleicht zu machen, besonders wenn Frau Barbara mithalf, aber es schien ihm doch sehr ungewiß zu sein, ob der Greis sich so werde überrumpeln lassen. Zudem hatte er ja offenbar den Plan, spielte wenigstens mit dem Gedanken, seine Tochter ins Kloster zu zwingen.

Hätte er jetzt freie Hand für seine Angelegenheiten gehabt, so würde er den Anschlag auf der Stelle ins Werk gesetzt haben. Aber er mußte nach Worms, denn der Reichstag blieb nur noch einige Wochen zusammen, und die Geschäfte seiner Stadt waren unaufschiebbar. Morgen mußte er fort von hier, denn auch in Gotha und Eisenach hatte er wichtige Angelegenheiten zu erledigen und konnte auch da durch unvorhergesehene Zwischenfälle aufgehalten werden, wie er hier aufgehalten worden war.

Nach stundenlangem Grübeln und Sinnen kam er zu dem Entschluß, den auch Klügere als er in gleicher Lage häufig gefaßt haben, nämlich alles Weitere der Zeit zu überlassen. Mit einem tiefen Seufzer erhob er sich und ging langsam in die Stadt zurück. Als er dort ankam, war die Stunde des Mittagessens längst vorüber, das Haus wie ausgestorben, denn der Meister mit seiner Familie und seinen Gesellen war auf ein benachbartes Dorf gewandert. Nur die Mutter des Meisters war daheim geblieben und brachte ihm ein Stück des Geißbratens, das sie ihm warmgehalten hatte. Zu Ostern und um die Osterzeit herum pflegten die Thüringer mit besonderer Vorliebe junge Zicklein zu verspeisen, und das Fest war ja eben erst vorüber, denn heute beging die Christenheit den Sonntag Quasimodogeniti. Er liebte das weichliche Fleisch nicht sehr, aber er aß es als eine Erinnerung an seine Kindheit. In dem fränkischen Forsthause, in dem er aufgewachsen war, wurde auch auf die Sitte des Osterlammessens gehalten. Am Spätnachmittag begab er sich zu Frau Lachensper. Sie hatte ihm gesagt, ihr Vetter besuche regelmäßig am Sonntag, wenn die Sonne sich neige, seine Freunde im Predigerkloster, und so könne sich's ereignen, daß er um diese Stunde Ursula bei ihr fände. Das Glück war ihm auch wirklich hold; als er eintrat, flog sie ihm entgegen und hing sich an seinen Hals, während die Muhme mit einem listigen Lächeln das Gemach verließ. Zum ersten Male wieder nach langen Monaten lag sie an seiner Brust, und als er das liebe Mädchen so in seinen Armen hielt und Kuß auf Kuß mit ihr tauschte, wurde es in seinem Herzen leicht und hell, und all seine Besorgnisse zerrannen. Sie erzählte ihm, daß ihr Vater sich sehr günstig über ihn ausgesprochen habe, und daß in den letzten Tagen nicht mehr vom Kloster die Rede gewesen sei. Er gelobte ihr, daß er nach seiner Rückkehr sogleich um sie werben werde, und zwar hoffe er, der eine Bürgermeister seiner Stadt werde selbst das Brautwerberamt übernehmen. Sie äußerte keine Bedenken dagegen, sondern ging eifrig darauf ein. Auch benahm sie sich keineswegs wie eine angehende Heilige, vielmehr wie ein natürliches junges Weib von Fleisch und Blut, das den Geliebten nach langer Trennung ohne Zeugen wiederhat und bestrebt ist, ihm in der kurzen Zeit des Beisammenseins alles Liebe und Gute zu erweisen. Hätte Eobanus Hessus sie so gesehen, er wäre wahrlich mit ihr wohlzufrieden gewesen und hätte seine Meinung über sie von Grund aus geändert. Meyenburg mußte sich sagen, daß er sie so hingebend nie gesehen und ihr eine solche Glut nicht zugetraut hätte. Wohl eine Stunde lang verharrten sie miteinander im traulichsten Flüstern und Kosen, dann erschien die Muhme und drängte zum Abschiednehmen. Als er sich endlich von der bitterlich Weinenden losgerissen hatte und in der hereinbrechenden Dämmerung seiner Behausung zuschritt, da fühlte er, daß er von diesem Mädchen nimmer wieder lassen könne. Er hatte schon manches junge Weib geküßt, aber das alles war Spiel gewesen. Jetzt aber wurde die Liebe für ihn zum schweren Lehensernst. Konnte er dieses Weib nicht erringen, so gab es für ihn im Leben kein volles Glück.


 << zurück weiter >>