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Francisco empfand es als sehr lästig, daß er nicht allein reiste. Die beiden Kaufleute bemühten sich in einer Form, die das Mitleid mit seinem Übel erkennen ließ, um die Verständigung, so brummig er sich auch in seine Ecke drückte.

In Aranda vergrößerte sich die Gesellschaft; als man in Burgos einfuhr, war er entschlossen, seiner ursprünglichen Absicht gemäß die Reise reitend fortzusetzen. Sich einen eigenen Wagen zu mieten, schien ihm nicht nur zu kostspielig, sondern auch diesem Übergang in eine veränderte Lebensform wenig entsprechend: Luxus und Vornehmheit paßten nicht zu einem alten Mann, der in aller Stille vollends mit sich ins reine kommen wollte. Nicht einmal Bequemlichkeit erachtete er als nötig, er vertraute mit klarer Sicherheit darauf, heil ans Ziel zu kommen, und legte dem Wie keine Bedeutung bei, soweit nur die Ungestörtheit gewahrt blieb. Wohl konnte er in eine Lage kommen, die fremde Handreichung nötig machte, aber auf der Heerstraße war immer mit Begegnungen, Bauernhäusern, Herbergen zu rechnen.

Nachdem er mit Hilfe des Gastwirtes, bei dem er in Burgos abgestiegen war, einen als zuverlässig empfohlenen Frachtfuhrmann ausfindig gemacht und ihm die Beförderung seines Gepäcks nach Bordeaux anvertraut hatte, kaufte er also ein Maultier. Die Gegenstände des dringendsten Bedarfs und einige Eßvorräte verstaute er in einem Zwerchsack; in einem Ziegenschlauch nahm er mit Wasser vermischten Wein mit. Den großen modischen Bolivarhut gab er noch zum Gepäck, mochte er ankommen, wie er wollte, und besorgte sich eine Jagdmütze; der Mantel war für das Hochland auch im vorgeschrittenen Frühjahr nicht zu entbehren: schon am Morgen des Ausritts aus Burgos regte sich ein kühler Wind.

Die Straße führt aus bebauten Feldern heraus in Steppenland. Trotz der Grasnarben und ein paar zerstreuter Büsche ist der Grundton der Landschaft gelb; je höher die Sonne steigt, desto einheitlicher fließen die Schattierungen der Ebene und der Hügel ineinander; auch die ferneren Berge, von der sehr klaren Luft nur wenig hinter Dunst gestellt, fügen sich in den flimmernden Gleichklang der Farbe. Hart stehen rings die Umrisse der kahlen, steinernen Erde gegen das reine Blau der Luft, das die großen Flächen und Linien unter seiner regungslosen Glocke zusammendrängt.

Wer in diesen wolkenlosen Himmel blickt, muß sich gehegt und geschützt fühlen aus dem Weltall heraus; kann in so überwölbten Bezirken Übles geschehen? Es kann, es kann: die französischen Heere sind hier durchgekommen, in Burgos schaute die Armut aus allen Gassenhöhlen, und diese Straße führt an zerfallenden Höfen vorüber und an Feldern, um deren Bestellung sich niemand mehr kümmern mag, weil keiner weiß, ob nicht morgen der Krieg wieder darüberfegt. Die Weisheit derer, die menschliches Elend klein, unwichtig, nichtig nennen, weil sie es am Weltgeschehen messen, ist den Ärmsten bitter und fremd. Aber vielleicht wendet doch jeder Hundertste unter ihnen oder auch nur einer seinen Blick der Bläue dieses Tages zu und schöpft daraus jene Kraft, die sein Unglück verkleinert ...

Gemächlich reitet Francisco nach Norden, der Grenze zu.

Er überholt Ochsengespanne und wird selbst überholt von flinken Fuhrwerken. Kastilische Bauern mit breitrandigen Hüten über den furchigen Gesichtern kommen ihm entgegen, auf ihren Pferden traben sie stolzer einher als er auf seinem Maultier, aber er gleicht ihnen, trotz seines städtischen Mantels, und niemand kann ihn eigentlich für etwas anderes halten als für einen alten Bauern. Auf einen eleganten vierspännigen Reisewagen wirft er kaum einen Blick, aber ein Zigeunerkarren mit buntgekleidetem Volk macht ihm Vergnügen.

Dann bleibt er lange Zeit ganz allein.

Reitet weiter. Reitet weiter, zäh und ohne viel Beschwer der alten Glieder. Ohne Bitternis denkt er an das, was zurückbleibt. Denkt eigentlich nur noch darüber hin – so schnell hat alles an Wichtigkeit eingebüßt, denn im Innersten der Seele, dort, wo die wahre und geheime Wertwaage aufgehängt ist, haben diese Dinge und Menschen schon lange an Gewicht verloren, fast Tag für Tag – das weiß er jetzt. Mag alles sich verhalten nach den eigenen Gesetzen, der eigenen Art – was bedeutet das für den, der sich nicht darein verstricken läßt? Auch er, Francisco, kennt jetzt das eigene Gesetz und wird nach ihm leben. Er besinnt sich darauf, es müsse das aller Künstler und Denker sein, denen das Schicksal die Gnade gewährt, reifen zu dürfen. Erst aus der Enge heraus in die Vielfältigkeit, in die bunte Welt – aber dann, dann im Vielen, im Gewirr der Formen das Eine finden und schließlich erkennen, daß dieses Eine dasselbe ist wie der vom Schutt befreite Seelengrund. Daß es leuchtet, wenn wir es ganz schauen.

Zum erstenmal stellt er sich ganz vor, was es bedeutet, zur Reife auserwählt zu sein. Und daß diese letzte Reife nichts mehr zu tun hat mit Schaffen. Denn des Menschen Art ist Stille ...

Er denkt wieder an Leandro und die andern, die ihn erwarten. Nun wird er zu ihnen kommen wie ans andere Ufer eines Flusses hinüber. Und werden sie keine Gefährten der Stille sein, keine, die die Stille ehren – dann muß man auch ihnen den Rücken kehren.

Stellt sich das fremde Volk vor, unter dem er leben wird. Keiner zehn französischen Worte erinnert er sich mehr. Einerlei. Er hört ja doch nicht, was die Menschen sagen. Und es wird wenig Wichtigkeit mehr haben. Das spanische Volk, das er hinter sich läßt – er liebt es tief, der eigene Kampf und die eigene Arbeit waren mit dem Schicksal dieses Volkes verflochten. Nun wird er dem Volk nichts mehr nützen können.

Reitet weiter, reitet weiter. Vielleicht ahnt er jetzt, daß seine geheime große Hoffnung, die tizianische Lebensdauer, nicht in Erfüllung gehen wird, daß er nur noch etliche Jahre vor sich hat. Er braucht keine zwei Jahrzehnte mehr. Wozu?

Es ist sehr hell in ihm. Er fühlt sich leicht und von tiefer Wärme durchflutet. Fühlt Cayetana. Fühlt, daß sie nun ist wie er, daß sie sich gewandelt hat im Geist mit ihm – an einem reineren Ort. Sie ist der einzige Mensch, der von diesem Ritt weiß, der einzige, der ihn begreift. Wahrhaftig: sie allein versteht, daß nun der Tag der Freiheit endlich, endlich angebrochen ist.

*

Los Caprichos, 1793–1798 geschaffen, erschienen in einer ersten Ausgabe 1803. Los Desastres de la Guerra entstanden zwischen 1808 und 1815. Die erste Ausgabe der Tauromachia wurde 1815 gedruckt. Los Proverbios stammen aus Goyas Spätzeit (die erste vollständige Ausgabe erschien erst 1850).

Die Photos zu den Bildtafeln wurden von dem Historischen Bildarchiv Handke-Berneck zur Verfügung gestellt.


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