Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2

Erhitzt und verschwitzt war der König von der täglichen Jagdpartie zurückgekommen – in das Schloß von Aranjuez. Man stand kurz nach dem Osterfest, das der Hof wie alljährlich in Madrid begangen hatte, und einige dieser Apriltage waren schon sehr besonnt. Es war eine kleine Sache gewesen, zweihundertdrei Pferde nur und zweihundertachtundachtzig Treiber – Don Carlos hielt sich über alle Zahlen genau auf dem laufenden. Er ließ die Fenster sorgfältig schließen, um sich nicht zu erkälten, und empfing den auf zwölf Uhr fünfzehn bestellten Kriegsminister im zugeknöpften grünen Jagdrock.

Der Minister, General zugleich, vor einem unpraktisch geschweiften Tisch stehend, auf dem er einige Dokumente niedergelegt hatte, berichtete über die Aufstände in den Kolonien, die vor einigen Tagen durch einen Sonderkurier aus Indien überbrachten Neuigkeiten waren gesichtet und geordnet worden.

»Wie sagten Sie eben, daß der peruanische Rebell heiße?« Carlos wischte sich mit dem Ärmel die noch immer aufquellenden Schweißtropfen von der Stirn.

»Gabriel, Eure Majestät, ist der Name, den er in der christlichen Taufe empfangen hat, Gabriel Condorcanqui. Als er offen seinen Glauben verleugnete, nannte er sich Tupac-Amaru, das sind heidnische Worte, und behauptete, ein Nachkomme der alten, von den großen Feldherrn der Vergangenheit ausgerotteten Inkafürsten zu sein. Er ging auf teuflische Weise vor: während er mit seinen Anhängern allmählich sechs Provinzen eroberte, verschonte er alle christlichen Priester und alle im Land geborenen Weißen und übertünchte, so schreibt Seine Eminenz der Erzbischof von Lima, die grauenhafte Lehre von der Gottheit der Sonne mit so vielen pseudochristlichen Formen, daß mancher Gläubige irre wurde und nichts Ketzerisches an ihm fand.«

»Wahrhaftig eine Teufelei«, unterbrach ihn der König und nickte gedankenvoll mit dem Kopf. Er, der gegen jede Einmischung der Geistlichkeit in die Regierungsgeschäfte Front machte, fühlte sich zugleich als Schutzherr des katholischen Glaubens und der Kirche.

»Als der Statthalter Eurer Majestät«, fuhr der Minister fort, »genügend Truppen konzentriert hatte, konnte er mit aller Schärfe vorgehen und ein Exempel statuieren. Viele Aufständische wurde getötet und Gabriel, der sich zum Kaiser von Peru hatte ausrufen lassen, lebendig gefangengenommen. Ich entnehme den Berichten, daß ihm in aller Form der Prozeß gemacht wurde wegen Rebellion gegen den erhabensten, wohlwollendsten, gerechtesten und liebenswertesten Monarchen. Eure Majestät erlauben mir die Zwischenbemerkung, daß auch in den Augen des vor Ihnen stehenden untertänigsten Dieners diese erlauchten Eigenschaften Eurer Majestät die Handlungsweise des Rebellen besonders abscheulich erscheinen lassen.«

Er verbeugte sich tief, während Don Carlos ihn mit einer etwas gelangweilten Handbewegung aufforderte, den Bericht fortzusetzen.

»In Verfolg des Urteils wurde dem Verbrecher die Zunge ausgerissen und er sodann gezwungen, der Enthauptung seines Weibes und seiner Kinder anzuwohnen. Schließlich wurde er gevierteilt.«

Der König rückte etwas unruhig auf seinem Sessel hin und her. »Hochverrat und schwere Ketzerei«, murmelte er zur eigenen Beschwichtigung vor sich hin und fügte, zum General gewandt, laut hinzu: »Es sind Wilde.«

»Wahrhaftig, Eure Majestät, man kann diese Indios kaum unter die Menschen rechnen ... Leider muß ich melden, daß auch unsere braven Truppen große Verluste erlitten haben. Nach der Hinrichtung des Rebellen ist zudem der Aufstand neu entflammt. Die Entsendung weiterer zwanzigtausend Mann läßt sich nicht umgehen. Ich bitte Eure Majestät um die Ermächtigung. Das Dekret ist zur Unterschrift vorbereitet.«

Er reichte dem König das Papier.

»Ich vertraue darauf, daß Sie nichts Überflüssiges anfordern.« Carlos las die wenigen Zeilen durch, die über das Schicksal von zwanzigtausend Soldaten und von noch viel mehr Indios entschieden – über ein Schicksal, das für Tausende auf Tod, für Tausende auf Grauen und Elend lautete. Und setzte die Formel der drei Worte darunter, die seit Jahrhunderten jeder spanische Monarch unzählige Male unter die Regierungsdokumente gesetzt hatte: Ich, der König.

»Aus Neu-Granada lauten die Nachrichten besser«, nahm der Kriegsminister seinen Vortrag wieder auf, während er das Papier in eine Mappe legte. »Der streitbare Erzbischof von Santa Fé ...«

In diesem Augenblick begann eine Standuhr zwölf Stunden und zwei Viertel zu schlagen, eine zweite mischte alsbald ihre silbernen Schläge dazwischen, als beide geendet hatten, stellte sich eine dritte ein. Der König verfolgte den Vorgang auf einer goldenen Taschenuhr, so daß der Minister nicht weiterzusprechen wagte.

»Es ist wirklich zum Verzweifeln«, sagte Don Carlos, »daß es nicht möglich sein soll, auch nur drei Uhren zu pünktlichem gleichzeitigem Schlagen zu erziehen. Ich habe diese drei schon aus einer großen Zahl auserwählt. Aber mehr als Sie eben gehört haben, läßt sich nicht erreichen.«

»Immerhin ein höchst anerkennenswertes Ergebnis, das von der Kunstfertigkeit Eurer Majestät beredtes Zeugnis ablegt.«

»Ich möchte das Ideal der absoluten Pünktlichkeit erreichen und habe keinen Erfolg damit. Wenn man wüßte, welche Uhr die zuverlässigste ist, müßte man daran denken, sich auf eine einzige zu beschränken ... Jedenfalls danke ich Ihnen für heute. Morgen sehe ich Sie bei der Hirschjagd ... In anderthalb Minuten kommt der Marques von Aguilar – ich esse heute öffentlich.«

»Wir sind uns alle der Größe dieses Gnadenbeweises bewußt.«

Als der Minister unter der Tür stand, rief ihm der Monarch nach: »Nun haben Sie von meinem Schreibtisch bis zur Tür elf Schritte gemacht – das letztemal waren es nur zehn.«

Gleich darauf wurde der Oberkammerherr, Marqués de Aguilar, hereingeführt.

»Heute geht Ihre Uhr ziemlich richtig, Don Enrique«, empfing ihn der König, »Sie kommen um nicht mehr als vier bis fünf Sekunden zu spät.«

»Ich bin über diese Differenz untröstlich, Eure Majestät«, seufzte der Marqués. »Darf ich gehorsamst melden, daß der Beginn der Mahlzeit befehlsgemäß auf ein Uhr vorbereitet wird ...«

»Sie wissen, ich bin kein Freund solcher Zeremonien, um so mehr hoffe ich, daß das Uhrwerk exakt abläuft.« Er kam aus seinem Gedankengang nicht heraus.

»Ich glaube sagen zu dürfen, Majestät, daß die Hofchargen dabei sind, ihr Äußerstes zu tun.«

Der König verließ mit dem Marqués das Arbeitszimmer und durchschritt im Vorraum die Reihen der sich tief verneigenden Granden. Zwei diensttuende Kammerherrn und sechs Pagen folgten ihm und dem Oberkammerherrn in gemessenem Abstand.

Im Ankleidezimmer knöpfte der Marqués dem König den Rock auf. »Ich schwitze noch immer, Don Enrique«, stellte Carlos fest.

 

Währenddessen waren in einem Prunkraum des Schlosses die Zurüstungen für die öffentliche Mahlzeit des Königs in vollem Gang. Die Öffentlichkeit solcher Schauessen, die nicht allzuoft stattfanden, bedeutete übrigens nicht die Zulassung beliebiger Gaffer, vielmehr konnten außer den bei Hof vorgestellten nur empfohlene, protegierte, zuverlässige Personen anwesend sein.

Der Kücheninspektor, ein meergrün gekleideter, merkwürdigerweise sehr dürrer Kavalier, hatte, den mit der Goldkrone gezierten Ebenholzstab in der Hand und gefolgt von vier Leibgardisten im Offiziersrang, einen Korridor des Schlosses durchschritten und den Oberbrotmeister sowie den Obermundschenken vom Beginn der feierlichen Zeremonie benachrichtigt. Diese hatten ihre Räume verlassen, begleitet von dem in den Vorzimmern versammelten Personal: dem Brotinspektor, Kellermeister, Haushofmeister, Leibarzt, den Kammerdienern und Gehilfen. Dieser Zug festlich gekleideter, mit dem Dreispitz unterschiedlicher Garnierung bedeckter Männer war im Speisesaal angekommen.

Dort stand unter einem Thronhimmel, der das königliche Wappen an der Stirn trug, ein mit rotem Brokat ausgeschlagener und vergoldeter Armsessel, davor ein Mahagonitisch. In einiger Entfernung waren vier weitere Tische aufgestellt, die nicht etwa der Speisung von Gästen, sondern der für des Königs Majestät notwendigen Ansammlung von Geschirr, Besteck, Brot, Beilagen, Obst, Dessert und von ähnlichen Dingen zu dienen hatten.

Vor dem Brottisch übergab der lange und kräftige, mit einem himmelblauen Seidenrock und einigen Ordenssternen angetane Oberbrotmeister dem Kücheninspektor seinen mit einer Straußenfeder geschmückten Hut, ließ sich von dem kleinen und dicken Obermundschenken eine weiße Serviette über die linke Schulter legen und empfing aus seiner Hand das goldene Salzfaß, das der Obermundschenk zuvor geküßt hatte. Er hielt es mit der von einer Ecke der Serviette bedeckten Linken und verblieb kurze Zeit in dieser bedeutungsvollen, durch die Tradition von Jahrhunderten vorgeschriebenen Stellung – so lange nämlich, bis die Tafel des Königs gedeckt war. Der erste Kammerdiener war schon dabei, das Tafeltuch feierlich mit behandschuhten Fingern auszubreiten, und ordnete sogleich auch die Königsmesser in Kreuzesform, der Brotinspektor trug die Teller und das Brot mit einer Miene herbei, als hänge das Geschick Spaniens von seinem Tun ab. Jetzt sank das goldene Salzfaß auf einen der Königsteller, der es handhabte, der lange Oberbrotmeister, kostete von dem Inhalt mit einem kleinen Löffel, andächtig, als handle es sich um einen edlen Wein, und bedeckte Gefäß und Teller mit jener Serviette. Dann begab er sich priesterlichen Schrittes in einen Nebenraum, in dem bereits ein Hofmarschall und mehrere Kammerherren warteten – mit wichtigen Mienen, als seien sie zu einem Kriegsrat versammelt.

Wie wenn es keine vornehmere Haltung gäbe, als in diesem Augenblick der Zurüstung vorübergehend abzutreten, verließ der Obermundschenk gleichfalls erhobenen Hauptes den Saal, geleitet vom Kellermeister, einem Kammerdiener, zwei Gehilfen und den vier Leibgardisten. Diese ehrenwerten Männer so verschiedener Rangstufen bildeten die Kellerprozession.

Den Reigen der Zurückkehrenden eröffnete der Kammerdiener, er trug den Hut des Obermundschenks in der einen, einen Untersetzer in der andern Hand. Dahinter kam der Wein.

Und schon pochte der Chefkammerdiener an jene Pforte, hinter die sich der Oberbrotmeister zurückgezogen hatte, und rief, natürlich von höherer Stelle dazu angehalten, mit lauter Stimme: »Caballeros, das Fleisch!«

Die Tür ging auf, die Versammelten quollen heraus, Eifer mit Würde paarend, und ordneten sich zum Zug, den aber diesmal nicht der dürre Kücheninspektor anführte, sondern der mit einem noch prächtigeren Stab bewehrte Hofmarschall, ein Mann, den der Ernst seines Amtes nicht rechts und nicht links blicken ließ. Damit begab er sich zwar des Überblicks über seine Herde, bestritt aber durch solches Symbol zugleich die Existenz jedweder Möglichkeit, in diesem Raum könnte auch nur ein Schritt gegen das heilige Zeremoniell geboren werden. Er wußte fest und sicher, was seitlich und rückwärts geschah, geschehen mußte, war wie ein Prophet, dem der Ablauf des längst vorausgeschauten Schicksals keine Kopfwendung mehr abzunötigen vermag.

Die Herren hatten ihre Arbeit in einem Vorraum der Küche zu leisten, in den, es ließ sich nicht leugnen, mancher an die Tätigkeit des Unterpersonals erinnernder Brodem hereindrang. Aber das Bewußtsein, gewissermaßen an der Zelebrierung eines an die Majestät gerichteten Brandopfers beteiligt zu sein, hielt auch die hochgestellten unter ihnen aufrecht.

Der Oberkoch brachte die Schüsseln, der Oberküchenmeister deckte sie ab, der ernste Hofmarschall kostete. Dann aber – es müßte wie Mißtrauen gegen den Hofmarschall aussehen, läge nicht eine schriftliche Order des obersten Hofmarschalls selbst vor – lüftete der lange Oberbrotmeister nochmals prüfend die Deckel, in Wahrheit hätte es vor den Augen so vieler treuer Diener keinem noch so gewiegten Verbrecher gelingen können, etwa eine gebratene Wachtel mit einer lebendigen Giftschlange zu vertauschen. Dann legte er eine Schüssel um die andere in die Arme der Kammerherren, deren Hüte wiederum durch den Kammerdiener aus der Szene gezogen wurden. Leider passierte dem Oberbrotmeister dabei ein Versehen, dessen Wiedergutmachung ihn viele Komplimente kostete und den rechtzeitigen Beginn des Essens beinahe verzögert hätte: er hatte die Pflicht, streng nach dem Dienstalter zu verfahren, reichte aber die getrüffelte Kapaunenleber nicht dem Marqués de Mancera, sondern dem jungen Conde de Fuenclara y Clavijo, der erst Anspruch auf den Rehrücken hatte.

Aber konnte sich unterwegs nicht doch ein finsterer Verschwörer einschleichen, und sei es auch nur mit einem unwillkommenen Purgativ? Oh – man sah sich vor! Als die Schüsseln auf der königlichen Tafel niedergestellt waren, kostete der Oberbrotmeister unter vollem Einsatz seines ganz dem Monarchen geweihten Lebens nochmals von jedem Gericht.

Es kam der große Augenblick: Carlos der Dritte – zuvor zweimal benachrichtigt, denn die Sitte verbot ihm, schon auf die erste Mitteilung zu Tisch zu gehen: es hätte hungrig ausgesehen – Carlos der Dritte also betrat den Speisesaal, in dem sich kurz zuvor noch einige hohe Würdenträger, darunter zwei Ritter des Goldenen Vließes zum Empfang eingefunden hatten. Den Monarchen begleiteten der Oberhofmarschall, der Kardinal-Großalmosenverwalter, der zugleich das Amt des Patriarchen von Indien ausfüllte, und der Befehlshaber der Leibgarde. Der königliche Sechziger, eckig-dürr und dem Oberbrotmeister an Länge ähnlich, bewegte sich etwas vornübergebeugt und mit steifen Knien auf einzelne Granden zu und forderte sie auf, sich zu bedecken – das historische Recht bestimmter Familien, an dem nicht zu rütteln war.

Kniend hielt ihm der kleine, dicke Mundschenk, den dabei fast ein Muskelkrampf anfiel, eine Waschschüssel vor, die – wie hätte es sich auch anders geziemt? – aus purem Gold bestand.

Während Don Carlos die Finger netzte, reichte der Brotinspektor das bereitgehaltene Handtuch dem Oberbrotmeister, der es dem diensttuenden Hofmarschall weitergab. Dieser hinwiederum legte es über die Hände des Oberhofmarschalls. Als der es seiner Bestimmung zuführen, nämlich dem König entgegenstrecken wollte, entschloß sich Seine Majestät huldvoll zur besonderen Ehrung eines Kammerherrn, und zwar mit einer Art von hellseherischer Treffsicherheit gerade jenes Marqués de Mancera, der vor zehn Minuten die falsche Schüssel zugeteilt erhalten hatte. Ihm reichte also auf einen Wink der Oberhofmarschall mit beglückwünschendem Lächeln das Abtrockentuch, mit einem Kniefall bot es der Marqués tief geschmeichelt den königlichen Händen dar. Benützt ging es denselben Weg zurück: Mancera, Oberhofmarschall, Hofmarschall, Oberbrotmeister, Brotinspektor, um dann in anonymen Bezirken zu verschwinden.

Die Eminenz sprach das Tischgebet, worauf der Oberhofmarschall kniend dem König den Sessel bot, dieser sich setzte und der Kommandant der Leibwache sich schützend links daneben aufstellte. Nun wurde auch für den Kardinal ein Stuhl gebracht, er war der einzige, der sich setzen durfte, wenn auch ein wenig im Hintergrund.

Ein Pikett Stabträger bildete einen weiten Kreis um den Königstisch, und nun wurde eine Tür geöffnet, zu der die Zuschauer hereinströmten – jeder mit dem Versuch einer tiefen Verbeugung, der aber durch die Nachdrängenden fast immer zu kuriosem Scheitern verurteilt wurde.

Der Oberbrotmeister gelangte jetzt zu entscheidendem Tun: er deckte sämtliche vor dem König stehenden Schüsseln ab. Der Monarch wählte nach seinem Geschmack, über den sich die – vom Publikum getrennten, hinter Thron und Tisch stehenden – Hofleute flüsternd unterhielten. Der Oberbrotmeister kostete ein letztes Mal von den bezeichneten Speisen – die reichlich genug aufgelegt waren, um durch die vier Proben nicht ernsthaft beeinträchtigt zu werden –, wie er auch nochmals das Salz auf die Beibehaltung seines bisherigen Wohlgeschmacks probierte. Die verschmähten Schüsseln wurden sogleich von Kammerherren abgetragen – für die eigene Tafel.

Und es geschah, daß Carlos mit Appetit aß. Unter den Zuschauern gab es etliche, denen es ein Erlebnis und in gewissem Sinne auch eine Enttäuschung bedeutete, ihren König genau wie einen gewöhnlichen Sterblichen essen zu sehen. Man bekam selten einen König zu Gesicht, wenn sich also um die Erhabenheit solcher Personen die wolkige Vorstellung entwickelte, sie seien vielleicht doch nicht den vulgären Lebensgesetzen unterworfen, so war das im Grund wenig verschieden von jener anderen verbreiteten Meinung, jeder Jude trage unter seinen Kleidern einen Affenschwanz verborgen. Auch einen Juden sah man ja so gut wie nie, denn nach dem Willen gerade jener Könige bedurfte jeder von ihnen zum Aufenthalt im spanischen Reich der persönlichen, vom Heiligen Kollegium der Inquisition zu erteilenden Erlaubnis.

Carlos begehrte zu trinken und gab, im Hofzeremoniell immerhin unterrichtet, dem Obermundschenken ein Zeichen. Der wies den seit langem nervös wartenden Leibarzt an, den Wein und das Wasser zu prüfen – nicht mit Retorte und Reagenzglas, versteht sich, sondern mit mutigem, treuem Mund und Magen. Da der Arzt keine Beschwerden zeigte, wurden die beiden Flüssigkeiten im goldenen Königsbecher gemischt. Der Obermundschenk begab sich unter Vorantritt des ersten Kammerdieners zur Majestät, reichte ihr kniend den Becher und hielt den Untersetzer, solange sie trank.

Nachdem von der Kammerherrenprozession neue Gerichte herbeigeschafft waren, der König wiederholt den Becher geschlürft und eine Gruppe von drei hohen Würdenträgern das Dessert dargereicht hatte, näherte sich die Zeremonie ihrem Ende: der Kardinal-Großalmosenverwalter reichte einem jüngeren Priester eine große Silberschüssel, in sie schüttete der Oberbrotmeister die Reste aller Gerichte, von denen der König zu verzehren geruht hatte – für die Armen. Was sollte es den der Gnadenspeisung Bedürftigen ausmachen, Gebratenes, Gebackenes, Fische, Salate, Kompott, süße und gewürzte Saucen in einer großzügigen Vermischung entgegenzunehmen?

Schlußgebet. Waschbecken. Handtuch. Der König, der im Hinblick auf die störende Anwesenheit des Publikums während der ganzen Mahlzeit kein Wort gesprochen hat, entfernt sich, milde Spuren der Sättigung im Antlitz. Alle Häupter bedecken sich.

 

Für die Stunde von drei bis vier Uhr hatte Don Carlos dem neuernannten Vizedirektor der Akademie der Edlen Künste, die den Namen des heiligen Fernando trug, eine Porträtsitzung in Aussicht gestellt, darin lag eine besondere Bevorzugung: mit Bildnissen der höchsten Personen wurden im allgemeinen nur die Kammermaler betraut.

Den Raum des Schlosses, der für solche Zwecke als Atelier eingerichtet war, betrat der König im selben Augenblick, in dem die darin aufgestellte Uhr die dritte Stunde schlug. Ein Kammerherr begleitete ihn.

Der Künstler war von kräftiger, mittelgroßer Gestalt, nicht eben schönen, etwas fleischigen, doch willensstarken Zügen, die Nase breit, leicht aufgestülpt, der Mund voll, genußfreudig, die Augen tiefliegend, unendlich lebendig, die Haare schwarz und so üppig, daß sie sich unter keine Puderperücke hätten zwängen lassen. Francisco Goya.

Der ohne Scheu einsetzende durchbohrende Blick jener Augen verursachte dem König ein gewisses Unbehagen. Ich weiß, warum ich diese Sitzungen nicht leiden kann, dachte er, eigentlich bedeutet dieser Blick eine unerträgliche Verletzung der Majestät – die Etikette, die für Prinzen, Granden, Minister, Gesandte und die höchsten Prälaten gilt, ist für solch einen Maler einfach aufgehoben!

Aber es blieb ihm nichts übrig, als die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Francisco, schon seit einigen Tagen nach Aranjuez befohlen, hat sich unter den Zuschauern der öffentlichen Mahlzeit befunden, um Gesicht und Bewegung des Königs gründlich zu studieren. Nun kann er gleich zufassen.

Er hat einige Sympathie für dieses sonnverbrannte Gesicht, weil es das eines Jägers ist und er selbst die Jagd liebt. Immerhin kein Grund, die weit abstehenden Ohren nicht zu malen, wie sie sind. Merkwürdig die nach oben gezogenen Mundwinkel und ihre wie mit dem Messer geschnittenen Falten ... An wen erinnert doch der Kopf? ... An seinen Bruder natürlich, den Infanten Luis Anton. Aber was für eine vergröberte Ausgabe, eine in Holz geschnittene schlechte Kopie! Ein prachtvoller Mensch, dieser Infant – hat um einer schönen Frau willen auf die Kardinalswürde und die zwei reichsten Erzbistümer Spaniens verzichtet. Pfeift auf den Hof ...

»Sie haben meinen Bruder gemalt«, sagt in diesem Augenblick der König, »waren Sie mit ihm auf der Jagd?« Sein Blick ist sehr freundlich.

Francisco errötet während der Antwort, als liegen seine Gedanken nun offen zutage.

 

Gegen Abend, in diesem Fall konnte er keine genaue Zeit bestimmen, erwartet Carlos die Prinzessin von Asturien in seinem Arbeitszimmer. Er hat Angst vor der Unterredung mit der Schwiegertochter. Aber er hofft, es wird eine Andeutung genügen – die Infantin wird verstehen.

Ihre Hoheit Dona Maria Luisa wird gemeldet, tritt ein. Er kann dieses kecke, begehrliche Gesicht nicht leiden. Und wird verstimmt, als sie ihn schnippisch begrüßt: »Ich hoffe die Majestät nicht im Regieren zu stören!«

Er bietet ihr zeremoniell einen Sessel an, und sie spottet über die Feierlichkeit. Da geht er ohne Umschweife auf sein Ziel los: »Ich habe dem Leutnant Luis Godoy bei den Gardes du Corps den Abschied gegeben. Es bestand Anlaß zur Annahme, er habe es gegenüber Eurer Hoheit am gebotenen Respekt fehlen lassen. Ich sehe leider auch Anlaß, Eurer Hoheit von meinem Entschluß Kenntnis zu geben.«

»Sie sind sehr gnädig, Sire, aber ich erinnere mich nicht, mich über das Benehmen des Offiziers beschwert zu haben.«

»Das ist empörend genug!«

»Eure Majestät belieben sehr scharfe Worte zu wählen. Aber eigentlich weiß ich gar nicht, weshalb Sie mir diese Mitteilung machen.«

In bebendem, aber zugleich salbungsvollem Ton, dem ungeschicktesten, der sich gegenüber der Infantin anschlagen läßt, hält er ihr entgegen, daß die Vorsehung sie plötzlich, vielleicht morgen schon, zur Königin von Spanien machen könne und daß sie die Pflicht habe, ihr Leben nach den hohen Anforderungen dieses Amtes einzurichten. »Ihre Person wird sakrosankt sein, ist es heute schon. Sorgen Sie dafür, daß Ihr Hermelin für niemandes Auge auch nur mit einem Stäubchen befleckt erscheint!«

Die Prinzessin geht über die Frage der Thronfolge durchaus hinweg und ändert den Ton: »Wenn Eure Majestät die Kavaliere meiner Umgebung mit Ihrer Ungnade verfolgen, so reden Sie doch bitte meinem Gatten ins Gewissen, er möge sich persönlich etwas mehr um meine Zerstreuung bemühen.«

Der König hat diese Offenheit nicht erwartet, ist degoutiert und hilflos. Er kennt seinen Sohn, weiß, daß Maria Luisa dem Prinzen an Verstand weit überlegen ist. Einen Augenblick steigt in ihm, der doch im Grunde der Seele die eigenen Grenzen ahnt, die alte Sorge auf: Was wird Spanien unter diesem König widerfahren?

Er findet sich zurück: »Es scheint mir unpassend, Doña Maria Luisa, daß Sie in diesem Augenblick Ihre vor Gott geschlossene Ehe in den Kreis der Diskussion zu ziehen suchen. Ich vermag keinen, aber auch gar keinen Grund anzuerkennen, der Ihre gegenüber jenem Offizier gezeigte unfürstliche Haltlosigkeit rechtfertigen könnte.«

Nun hat er sich also doch aufgerafft, deutlicher zu werden. Aber die Infantin pariert den Stoß: »Unfürstliche Haltlosigkeit? Ich dachte bisher, man werfe mir die Zerstreuungen meines Salons vor. Ich hoffe, daß niemand gewagt hat, meine Ehre anzutasten!« Ihre Augen funkeln, sie wechselt zur Rolle der beleidigten Unschuld mit großem Geschick hinüber.

Doch auch der König findet ein schlagfertiges Wort: »Ich bin beglückt, daß Eure Hoheit so leidenschaftlich auf Ihren Ruf bedacht sind. Gerade dies war es, um was ich Sie bitten wollte.« Er erhebt sich, um das Ende der Unterredung anzuzeigen.

Der Ahnungslose weiß nichts von dem, was in der Prinzessin von Asturien in Wirklichkeit vor sich geht. Sie ist dieses Liebhabers längst müde und findet Luis' Bruder Manuel, den beflissenen Zwischenträger galanter Briefe, viel reizvoller. Wie bequem, daß der moralische Schwiegervater ihr die Mühe abgenommen hat, Luis wegzuschicken! Morgen noch wird sie Manuel Zeichen ihrer Gunst geben.

Und so lächelt sie schon im Vorzimmer zufrieden vor sich hin, während sie von zwei Hofdamen mit tiefer, ehrerbietiger Verneigung in Empfang genommen wird.


 << zurück weiter >>