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12

Fernando bestätigte den Ersten Kammermaler in seinem Amt. Am liebsten hätte er sich sogleich im Krönungsornat malen lassen, doch begnügte er sich, da die Krönung mit Rücksicht auf die Anwesenheit der Franzosen vertagt wurde, mit der Uniform eines Marschalls und dem Feldherrnstab – Insignien, die er gleichfalls erst in diesen zehn Regierungstagen anzulegen die Möglichkeit hatte. Und zwar befahl er gleich zwei Bildnisse: das eine zu Fuß, das andere auf einem von ihm selbst ausgewählten Schlachtroß schwerster Rasse, das aussah, als sei es imstand, sämtliche Feinde Spaniens in die Erde zu stampfen.

Bei diesen Sitzungen wurde so gut wie nichts gesprochen, denn Fernando liebte es, auf einem Postament zu leben. Nur ein einziges Mal trat der junge Monarch aus seiner Zurückhaltung heraus: als er Francisco auseinandersetzte, das Reiterbildnis müsse ohne die letzte in Aussicht genommene Sitzung beendet werden, da er durch sehr wichtige Staatsgeschäfte aus Madrid abgerufen werde.

Welches Vergnügen es ihm macht, König zu spielen, lachte Francisco in sich hinein und bemühte sich, in den herrisch-verächtlichen Ausdruck des farbennassen Gesichts einen knabenhaften Ausdruck zu mischen.

 

Der französische General Savary, ein schlauer, glatter Höfling, war in Madrid aufgetaucht und hatte Fernando, der vergeblich auf seine Anerkennung durch Napoleon wartete, mitgeteilt, der Kaiser befinde sich auf der Reise nach Spanien, und damit den Wink verbunden, ihm bis Burgos entgegenzufahren. Escoiquiz gab dem von anderer Seite gewarnten König denselben Rat. Der sandte, von der Aussicht auf eine geschichtlich bedeutsame Monarchenbegegnung geschmeichelt, seinen Bruder Don Carlos und einige hohe Hofbeamte in größter Eile zur Vorbereitung des Empfangs voraus und brach gleich darauf selbst nach der Hauptstadt von Altkastilien auf, begleitet von Don Juan Escoiquiz und General Savary. Die Geschäfte in Madrid wurden einer Regierungsjunta übertragen, der Don Antonio vorsaß, Carlos' des Vierten Bruder.

An der einstmals für Kaiser Karl den Fünften errichteten Triumphpforte huldigten dem König die Behörden von Burgos, der Adel und zwölf Ehrenjungfrauen, am Portal der steilen, doppeltürmigen Kathedrale der Kardinal-Erzbischof mit der gesamten Geistlichkeit. Doch in dem zur Residenz bestimmten Palast – sein Eingang war, seltsam genug, mit in Stein gehauenen franziskanischen Büßerstricken verziert – erwartete ihn ein französischer Offizier mit der Nachricht, des Kaisers Reise verzögere sich.

Fernando richtete einen Brief voll Huldigung und Unterwürfigkeit an Napoleon und reiste nach Vitoria weiter. Hier erreichte ihn die Antwort: an seine Anerkennung durch den Kaiser von Frankreich könne nur gedacht werden, falls sich herausstelle, daß König Carlos völlig freiwillig abgedankt habe, tadelnswert sei schon, daß sich Fernando seinerzeit ohne Wissen seines Vaters wegen der angeblichen Gefährdung der Thronfolge an den Kaiser gewandt habe, die persönliche Besprechung müsse auf französischem Boden, in Bayonne, stattfinden. Es war das Schreiben eines Magisters an einen Schuljungen. Aber der König, von Escoiquiz und Savary beraten, hoffte den Kaiser besänftigen zu können und reiste über die Pyrenäen und San Sebastian nach Bayonne, mit ihm sein Bruder Carlos.

Er wußte nicht, was sich hinter seinem Rücken vorbereitete: Napoleon berief auch Fernandos Eltern samt Manuel Godoy nach Bayonne. Carlos hatte Murat eine Erklärung übermittelt, er habe nur unter dem Druck des Pöbels und angesichts der unsicheren Haltung der Truppen auf die Krone verzichtet und den General zugleich inständig bitten lassen, sich für Manuels Befreiung einzusetzen. Murat zögerte nicht, die Freilassung des Friedensfürsten unter Drohungen zu verlangen, und die Regierungsjunta vermochte nicht, auf ihrer Weigerung zu beharren.

So wälzten sich aus Madrid und aus der asturischen Burg Villaviciosa die Schwaden der Mißgunst, des Verrats, der Feigheit in der Richtung auf das Hoflager von Bayonne heran, das selbst schon brodelte von Überheblichkeit und Verräterei.

Fernando mußte zunächst – in dem keineswegs königlichen Quartier, das ihm angewiesen war – sechsunddreißig Stunden warten, bis ihn der Kaiser empfing. Dieser Empfang geschah ohne das einem regierenden Souverän zustehende Zeremoniell, ja Napoleon erhob sich beim Eintritt des Gastes mit betonter Langsamkeit, behielt die gerade anwesenden Herren des Gefolges im Zimmer, unterließ jedoch ihre Vorstellung. Die mit eisiger Kühle gestellten Fragen bezogen sich auf nichts als auf den Verlauf der Reise. Fernando gab zunächst noch geflissentliche Antworten, wurde sich aber dann in aufsteigendem Zorn seiner Lage bewußt. Da entließ ihn der Kaiser auch schon wie einen lästigen Bittsteller, ohne ein Wort von einer Fortsetzung des Gesprächs fallen zu lassen.

Napoleon führte die politischen Verhandlungen in der Tat nicht mit ihm, sondern mit Escoiquiz. Der ließ sich in der Hoffnung, der Kaiser werde sich erkenntlich zeigen, für die Vermittlung des Vorschlags gewinnen, Fernando solle die Krone Spaniens mit der Etruriens vertauschen. Allein Fernando weigerte sich. Escoiquiz, als er seine Mission gescheitert sah, beklagte Napoleon gegenüber die Hartköpfigkeit seines Zöglings, während er diesen für seine Festigkeit lobte mit der Versicherung, selbst nur unter Zwang gehandelt zu haben. Geheime Boten wurden über unbewachte Pyrenäenpässe nach Madrid gesandt, der Regierungsjunta von der bedrohten Lage des Königs zu berichten.

Doch auch über in französischen Händen befindliche Paßstraßen ging eine Botschaft in die spanische Hauptstadt: Napoleons Befehl, die beiden noch übrigen königlichen Prinzen, Don Antonio, Haupt der stellvertretenden Regierung, und Don Francisco, Fernandos jüngster Bruder, haben sich gleichfalls in Bayonne einzufinden.

Dort erschien zunächst der freigelassene Manuel Godoy, von Fernando völlig übersehen und auch von Napoleon zunächst nicht ins Spiel gezogen.

Gleich darauf kamen Don Carlos der Vierte und Dona Maria Luisa an. Der Kaiser gab ihnen noch am selben Abend ein Staatsdiner, zu dem Fernando nicht geladen wurde. Er nahm von Maria Luisa wenig Notiz, obschon sie neben ihm saß, und behandelte Carlos zwar als regierenden König, doch mit leicht ironischer Herablassung, die dieser weinselig und im Vollgefühl seiner monarchischen Sicherheit nicht bemerkte, vielmehr mit Hundegeschichten und schließlich gar mit dem kameradschaftlichen Geständnis seiner Lebensführung beantwortete; »Die Jagd«, sagte er mit seiner dröhnenden Stimme, »ist doch das einzige, wofür es sich zu leben lohnt.« Er erzählte, wie er Sommer und Winter, einerlei, welches Wetter herrsche, nach der Messe und dem Frühstück aufzubrechen, bis ein Uhr zu jagen und die Jagd nach Tisch bis zur Dämmerung fortzusetzen pflege. »Abends trug Manuel Sorge, mir zu berichten, ob die Staatsgeschäfte sich gut oder schlecht angelassen haben, und ich legte mich schlafen, um am nächsten Tag wieder das gleiche anzufangen – höchstens daß einmal eine wichtige Zeremonie mich zwang, zu Hause zu bleiben. Manuel ist mir wirklich unentbehrlich«, endete er, »ich kann mich auf ihn verlassen« – wäre die Tafel nicht zu breit gewesen, so hätte er dem Gelobten auf die Schulter geklopft –, »und darum besteht auch wirklich kein Grund, abzudanken.« Sein werbendes, wässeriges Lächeln kreiste um Napoleon.

»Sie hatten eine große Verantwortung zu tragen«, sagte der Kaiser mit einem rätselhaften Blick auf Godoy, der in eitlem und allmählich auch etwas fettigem Glanz dasaß.

Bei Carlos aber entschuldigte er sich für die vermutliche Wildarmut der Gegend von Bayonne – in einem Ton, der schon durch seine Gedämpftheit den Abstand hervorhob.

 

Für den nächsten Morgen wünschte Carlos den Besuch seines Sohnes Fernando. Der ließ sagen, er werde in Begleitung seines ersten Ministers erscheinen. Als die beiden eintraten, fanden sie zu Carlos' und Maria Luisas Seite den französischen General Savary.

»Es ist Ihnen inzwischen bekanntgeworden, Infant«, begann Carlos etwas müde und unsicher die Unterhaltung, »daß ich meinen Verzicht auf den spanischen Thron widerrufen habe. Darin liegt, da ich jene Erklärung unter Zwang abgegeben hatte, eine Selbstverständlichkeit.«

»Von Zwang kann nicht die Rede sein«, fiel ihm Fernando ins Wort. »Ich habe den Vorgängen beigewohnt!« Die drei Fürstlichkeiten saßen in der Mitte des Zimmers um einen runden Tisch, während Minister und General im halbdunklen Hintergrund an der Wand standen.

»Lassen Sie mich zu Ende reden!« In Carlos' gedunsenes Gesicht schoß schon die erste Röte. »Durch die Zurücknahme der Abdankung bin ich ohne weiteres wieder rechtmäßiger König von Spanien und Sie, Fernando, wieder Prinz von Asturien.« Des Sohnes spöttisches Gesicht war ihm unbehaglich. »Sie sollen mich reden lassen, sage ich.«

Aber Maria Luisa kam ihm dazwischen. »Des Königs hoher Verbündeter«, bemerkte sie, »der Kaiser von Frankreich, ist sogar der Meinung, daß Sie keinen Augenblick den spanischen Thron innegehabt haben, weil der ganze Akt der Rechtsgültigkeit entbehrte.«

»Wenn ich mich recht erinnere«, sagte Fernando kühl und beiläufig, »habe ich am neunzehnten März in aller Form die Regierung des Königreichs Spanien angetreten und bis zum heutigen ersten Mai nicht abgedankt.«

Carlos wurde röter. »Sie hören von der Königin, was der Kaiser über den Fall denkt. Wir können uns nicht auf auswärtige Verwicklungen einlassen. Ich bleibe König, solange ich lebe. Sie müssen sich bis zu meinem Tode gedulden. Jeder Thronfolger muß das. Ich war vierzig, als ich König wurde.«

»Sie sind vierundzwanzig«, bemerkte rasch und scharf die Königin.

Ich glaube nicht, daß mein Alter zur Erörterung steht«, ließ Fernando in spöttischem Ton fallen. »Es ist nicht meine Schuld, daß Sie meine Schwestern vor mir zur Welt gebracht haben.« Er fühlte sich in Anwesenheit seines Meisters sehr sicher und wollte ihm diese Sicherheit auch zeigen. »Was die Meinung Seiner Majestät des Kaisers von Frankreich anlangt, so habe ich ihr den Wunsch des spanischen Volkes entgegenzuhalten, das sich unzweifelhaft für mich entschieden hat.«

»Ich ziehe es vor, von der Gnade Gottes König zu sein«, sagte Carlos mit einem Anflug von Würde. »Ihre revolutionären Ideen, Infant, sind frivol.«

»Auch ich nenne mich König von Gottes Gnade und weiß, daß sie der einzige Ursprung meiner Macht ist. Das beweise ich durch tägliche Anbetung, doch ist es nicht unchristlich, den äußeren Tatsachen Rechnung zu tragen. Das Volk ist gegen Eure Majestät. Ihre Wiederkehr würde das Land in Unruhen stürzen. Dazu gebe ich keine Gelegenheit. Ich bin rechtmäßiger König von Spanien, solange ich nicht abdanke. Die Abdankung aber ist weder geschehen noch wird sie geschehen. Ich dulde keinerlei Angriffe auf meine Stellung, von wem sie auch kommen.«

»Diese Bemerkung ist eine Ungezogenheit«, fuhr Maria Luisa auf.

»Der König von Spanien begeht keine Ungezogenheiten.«

»Du bist nicht König!« schrie Carlos. Bös blickten seine Augen aus kleinen Tümpeln, unter denen schlaffe Säcke hingen.

»Der Kaiser setzt dich ab!« zischte die Mutter.

»Die Frage meiner Anerkennung durch Seine Majestät den Kaiser von Frankreich wird weiterhin Gegenstand diplomatischer Verhandlungen sein. Sie würden erleichtert, wenn mein Vater es unterließe, an den von ihm selbst herbeigeführten Tatsachen zu rütteln. Bleiben Eure Majestät bei Ihrem königlichen Wort, und alles wird in Ordnung kommen.« Er hatte jetzt Mühe, sich zu beherrschen.

»Ich verbitte mir jegliche Kritik!« rief Carlos. »Ich erkenne den Verschwörer an diesen Worten. Ich werde dich zum zweitenmal deiner Würde als Thronfolger entsetzen!«

»Diese Würde bekleide ich nicht mehr – seit dem neunzehnten März, also kann ich ihrer auch nicht entsetzt werden. Das sind Lächerlichkeiten. Außerdem hat das Recht, in die Frage der Thronfolge einzugreifen, nur der König. Und der bin ich.«

»Nichts bist du, nichts als ein Usurpator!« Das deuchte ihn offenbar ein starkes Schimpfwort, denn er wiederholte es mehrmals.

Maria Luisa, auf deren Gesicht die Erregung die Schminke zu zersetzen begann, erinnerte sich plötzlich des Ministers und des Generals, die bewegungslos an der Wand standen. »Wozu haben wir unsere Ratgeber mitgebracht«, warf sie energisch dazwischen, »sie sollen einen Ausweg suchen. Reden Sie, General, der Prinz hört auf Sie.«

Savary strich sich langsam mit der Hand über den Mund und das längliche Kinn. »Ich betrachte die Argumente für den Augenblick als erschöpft. Vielleicht verläßt man sich besser auf eine günstigere Stunde. Wir werden etwas spät beigezogen, Madame.«

Fernando schaute fragend auf Escoiquiz.

Der trat schmiegsam einen Schritt näher und sagte vorsichtig, zögernd: »Vielleicht ließe sich die Frage zur Erörterung stellen, ob Don Fernando die Regierung im Namen der hohen Person seines Vaters weiterführen soll. Eine Regentschaft hätte für keinen der beiden Teile etwas Entehrendes.«

Fernando biß sich unzufrieden auf die Lippen, wartete aber ab.

Und schon dröhnte Carlos: »Ich brauche niemanden, der für mich regiert. Diesen Jungen schon gar nicht. Ich bin nicht altersschwach.«

»Du bekommst deinen roten Kopf«, stellte Maria Luisa besorgt fest, »die Ärzte sagen, du sollst dich davor hüten!«

»Vor nichts muß ich mich hüten als vor diesem mißratenen Sohn. Der Teufel soll ihn holen. Ich habe diese Unverschämtheiten satt.« Und nun polterte er wieder einmal los, als sei er unter seinen Stallknechten.

Escoiquiz drückte sich lautlos an die Wand.

»Ich verbitte mir diese Majestätsbeleidigungen«, war Fernandos unendlich hochmütig klingende Antwort. »Ich werde ein Gericht einsetzen. Sie entehren die spanische Krone.« Haß sprang aus seinen Augen.

Feindselig schnellten die Funken zurück. »Verhaften laß ich dich. Aber diesmal für Lebensdauer!«

»Sie zeichnen mir den Weg vor, den Exkönig unschädlich zu machen. Hüten Sie sich, Spanien wieder zu betreten!«

Carlos erhob sich hastig, ballte vor Fernando die Fäuste und verließ, von Maria Luisa gefolgt, das giftschwelende Zimmer.

 

Als dem Kaiser die Szene von Savary berichtet wurde, schüttelte er angewidert den Kopf.

»Sie sind beide reif, vom Baum geschüttelt zu werden«, sagte er. »Aber warten wir noch ein paar Tage, dann haben wir die Bourbonenprinzen vollzählig beieinander. Schade, daß man zum großen Stil des Cinquecento nicht mehr den Mut hat. Wäre ich Alexander Borgia, so lüde ich alle fünf gleichzeitig zu einer vergifteten Mahlzeit, und die Angelegenheit wäre wortlos erledigt. Es ist zu ärgerlich, wieviel Zeit man heute auf dergleichen verwenden muß.«

 

Zu beiden Seiten des großen Gittertors des Madrider Königsschlosses stand ein Pikett französischer Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten. Davor, auf dem weiten Platz, wartete Kopf an Kopf das Volk, Bürger von Madrid und Bauern aus der Umgegend. Mit keinem Wort verriet sich seine dumpfe Wut, eine furchtbare Spannung lag in der Luft des klaren Maimorgens.

Fernandos geheime Boten waren eingetroffen, jedermann wußte, daß er sich von Napoleon schwer gekränkt fühlte, jeden Augenblick war man auf schlimmere Nachrichten gefaßt – über den König und Don Carlos, den jetzigen Prinzen von Asturien. Man wußte auch – und deshalb standen all die Menschen hier –, daß die zwei äußerstenfalls noch für die Thronfolge in Betracht kommenden Infanten vom Kaiser gleichfalls nach Bayonne befohlen waren, und erzählte sich, des Königs Fernando jüngster Bruder, Don Francisco, habe sich geweigert, werde aber, von General Murat gezwungen, in der Frühe dieses Tages gemeinsam mit Don Antonio die Fahrt antreten.

Und wirklich öffneten sich die Torflügel, um zwei Reisewagen durchzulassen. Hochrufe auf Spanien, den König, die vermuteten Insassen wurden laut, aber sie klangen mehr drohend als begeistert. »Nicht abreisen! In Spanien bleiben!« riefen viele, bald alle. Mit sorgenvollen Gesichtern trieben die Hofkutscher ihre Tiere an, denen sie kaum eine Gasse bahnen konnten. Da öffnete sich ein Fenster des zweiten Wagens: der Infant Don Francisco beugte sich heraus und winkte der Menge zu – mit schmerzlichem, hilfesuchendem Knabengesicht. Sofort umringten Dutzende den Wagen, sechs kräftige Männer faßten die Maultiere am Zügel. »Es lebe Don Francisco! In Madrid bleiben!« Messer wurden gezogen, und in ein paar Augenblicken waren sämtliche Gespannriemen durchschnitten. Der Wagen stand: die Madrilenen hielten den jüngsten Bourbonen in der Hauptstadt zurück – wenn alles andere schlimm abläuft, wird er König werden, sie wollen nicht ohne König sein –, der hübsche Prinz kann sich auf sein Volk verlassen, es schützt ihn vor dem gewalttätigen Franzosenkaiser.

»Zurück! Auseinandergehen!« befiehlt mit scharfer Kommandostimme der französische Offizier, der das Pikett befehligt. Niemand rührt sich. Der Offizier wiederholt den Befehl, ist unschlüssig. Doch vom benachbarten Sitz des Kommandos aus hat General Murat die Szene beobachtet und schickt einen Adjutanten. Mit gefälltem Bajonett machen die Soldaten den Raum um den Wagen frei, schirren zwei Maultiere hastig wieder an und jagen das Gespann in den Schloßhof zurück.

Die Menge, die einen Augenblick gestutzt hat, drängt nach, Drohrufe und geballte Fäuste erheben sich gegen die Franzosen. Das Furchtbare geschieht, daß die Soldaten die Gewehre anlegen und eine Salve abgeben. Mit Schmerzensschreien wälzen sich die Getroffenen am Boden. Da bricht die Wut des Volkshaufens zu heller Flamme aus, es sind nicht die Zornesflammen von Hunderten, es ist ein einziges gewaltiges Feuer. Unbewaffnete Männer stürmen an gegen die schießenden Soldaten, kaum daß jemand daran denkt, die Verwundeten und Toten nach rückwärts zu schaffen.

Murat aber, der Teufel, hat in größter Eile im Hintergrund des Platzes Kanonen auffahren lassen und läßt auf die Menge kartätschen. Viele fliehen in die Häuser, aber nur, um mit einer Waffe in der Hand, und sei es auch bloß ein Dolch, auf die Straße zurückzukehren.

Im Nu fegt der Sturm des Aufruhrs durch die ganze Stadt. Die Spanier sind in der Überzahl, die todesverachtende Wildheit ihrer Stürme kostet viele, viele Franzosen das Leben. Doch sobald die Einheit des Kommandos hergestellt und der Gegenangriff eingeleitet ist, wiegt die Bewaffnung der Freiheitskämpfer allzu leicht. An der Waage, die ein unsichtbarer Dämonriese in der Hand hält, schnellt die spanische Schale empor. In den Hauptstraßen treibt jetzt französische Infanterie und leichte Artillerie die Bürger und Bauern langsam vor sich her, dem Mittelpunkt und Hauptplatz der Stadt zu, der Puerta del Sol.

Wie sie dort zusammengedrängt sind, auch Frauen und Kinder dabei, und alle Ausgänge versperrt, sprengt Murats berittene Mameluckengarde von allen Seiten in sie hinein und haut mit krummen Säbeln auf die vielen Hunderte menschlicher Leiber ein, als gelte es, Gras zu mähen oder Büsche zu roden.

Die Uhr zeigt genau vierundzwanzig Stunden nach dem Streit der machtlosen Könige in Bayonne.

Francisco steht an einem Fenster seiner Wohnung und zwingt sich, dem Grauen standzuhalten. Zu seinen Füßen hat sich die Hölle geöffnet. Verknäulte, niedergetretene Menschen winden sich in Qualen, büßen jämmerlich ihre Sünden, die in nichts anderem bestehen, als daß sie da sind, Mensch sind. Aus heillosen Verwundungen und Zerfetzungen des Rumpfes und der Glieder, aus Verstümmelungen der Gesichter, dieser Träger der Gottähnlichkeit, ergießen sich Blutbrunnen. Es gibt keinen Zug, keine Verrenkung der Verzweiflung, des Schmerzes, der Todesangst, die sich seinem Auge nicht darbieten. Seinem Ohr bleibt vieles verhüllt, aber die lautesten Schreie, die gräßlichsten, dringen zu ihm durch. So furchtbar wie der Anblick der Opfer aber ist der der Henker. Mordgier, Blutrausch verzerrt ihre Mienen ins Teuflische, Abgründe einer Gemeinheit tun sich auf, deren kein Tier fähig ist. Keine dämonische Gestalt seiner Wachträume, keine Ausgeburt der abseitigen Sümpfe der Schöpfung ist furchtbarer als diese Reiter aus Fleisch und Knochen, diese Menschen!

Und zwischen Opfern und Henkern die Pferde, die Tiere, zu Folterwerkzeugen erniedrigt und selbst gefoltert, mit scharfen Sporen dazu gehetzt, in die Leiber zu stampfen. Hundertemal hat Francisco in der Arena die Leiden der vom Stier verwundeten Pferde kühlen Bluts erlebt, als handle es sich um gefühllose Puppen. Jetzt mit einemmal sieht er die Angst, das Grauen in ihren Augen ...

Er tritt zurück, nimmt in heftiger, unwillkürlicher Bewegung das Jagdgewehr von der Wand. Ein Gefühl der Gemeinschaft überflutet alles andere: Ich darf mich nicht aussondern aus dem Volk, muß Madrilene, Spanier sein wie die andern! Er spielt mit dem Schloß, faßt aus dem Hintergrund des Zimmers ein Ziel ins Auge. Und wirft das Gewehr wieder über den Haken. Es wäre Wahnsinn! Blut vergießen und bluten – damit gebe ich nicht, was ich, gerade ich leisten kann. Ich muß das tun, was die andern nicht können: ich muß der Chronist dieser Stunde, dieses Tages sein. Für Kinder und Enkel, für Jahrzehnte und Jahrhunderte muß diese Scheußlichkeit festgehalten werden, das anklagende Bild soll sich in ihre Erinnerung einfressen. Kein Leugnen wird nützen. Ich habe es gesehen, und ich forme es mit aller meiner Kraft.

Er tritt wieder vor, panzert sich mit der Kühle des Malers, der zuerst Form, Bewegung, Farbe einfangen muß, beginnt in Gedanken zu zeichnen, fühlt den ohnmächtigen Zorn wieder hervorbrechen und das Grausen und sieht seine künftige Schöpfung vor sich, die lodern wird von Zorn und starren von Grausen.

 

Am Abend ist der Aufstand niedergeworfen. Aber die Greuel sind noch nicht beendet. Murat läßt erbarmungslos nach Besitzern von Schußwaffen und Messern fahnden: Hunderte werden bis in die Nachtstunden hinein aus Winkelgassen und Kellern gezerrt und gefangengenommen.

Draußen vor der Stadt, im Manzanarestal, nicht allzu fern der Stelle, an der Franciscos kleines Landhaus emporwächst, hält im Schein von ein paar Windlichtern das von Murat einberufene Kriegsgericht Sitzung: Offiziere mit Goldtressen und Federhüten, die sich auf Feldstühlen hinter einem als Tisch eingerichteten Brett niedergelassen haben. Ein Zaun von Bajonetten beschützt sie, auch die Zugänge sind streng bewacht. Von den Gefangenen, die ihnen truppweise vorgeführt werden, hat kein einziger ein anderes Urteil als den Tod zu erwarten: es ist eine reine Komödie, daß überhaupt so etwas wie ein Verhör angestellt wird.

Truppweise werden die Verurteilten wieder weggebracht – an den Richtplatz, der von den Richtern durch einen Hügel getrennt ist, so daß die Schreie nicht oder nur gedämpft zu ihnen dringen können. Ein paar Laternen stehen am Boden, dahinter schlagen die Henkersoldaten die Gewehre an. Zwischen Leichen und Blutlachen müssen sich die Opfer aufstellen, die nächsten, die an die Reihe kommen, warten schon daneben. Einigen steht noch in der Minute vor dem Tod die Wut im Gesicht geschrieben, manche laut hinausgerufene Verwünschung wird mitten im Wort von der Kugel erstickt. Andere beten von Todesangst geschüttelt und starren ein kleines Kruzifix an, das sie bei sich getragen oder neben einem Toten aufgelesen haben. Andere halten die Hände vors Gesicht und fühlen in gefrorener Verzweiflung die Sekunde heranrinnen, in der das Blei sie durchbohrt. Rührt sich noch etwas am Boden, so schießen die Soldaten – man muß es fast mitleidig nennen – in die liegenden Körper hinein.

Die Exekution ist öffentlich. Murat liebt die Abschreckung und hat nichts dagegen, daß eine gewisse Anzahl von Zuschauern, unbewaffnet natürlich und durch die bereitstehenden Truppen nötigenfalls leicht im Schach zu halten, von den Torwachen und Posten durchgelassen wird. Manche sind gekommen, um über das Los des Vaters, Bruders, Sohnes Gewißheit zu erlangen, und brechen nun selbst halb wahnsinnig zusammen.

Francisco ist unter den Augenzeugen. Das Amt des Chronisten, das er sich auferlegt hat, zwingt ihn hierher. Nicht eher verläßt er den Ort des Entsetzens, bis die Gestalten auch dieser verzweifelten Anklage, dieses Gerichts sich in ihn eingefressen haben.

Andern Tages beginnt er mit der Arbeit.

 

Napoleons Kuriere, von Murat mit der frischen, blutigen Nachricht beladen, jagten über die Pyrenäen zurück.

Der Kaiser ließ sofort Fernando rufen. »Sie haben in Madrid den Befehl zurückgelassen, meine Truppen aus dem Hinterhalt zu überfallen«, herrschte er ihn an.

»Eure Majestät sind falsch unterrichtet.«

»Ihre Ausflüchte interessieren mich nicht. Zwölfhundert französische Soldaten und Offiziere sind in diesen Straßenkämpfen gefallen. Dafür mache ich Sie verantwortlich. Sie sind ein Rebell, ein Mörder. Ich werde Sie vor ein Kriegsgericht stellen. Man wird Sie erschießen.«

Fernando begann zu zittern. Er war ohne Ahnung, was sich ereignet hatte.

»Machen wir die Sache kurz«, fuhr Napoleon fort, »ich bin bereit, dieses Verfahren niederzuschlagen, wenn Sie in aller Form auf den spanischen Thron Verzicht leisten. Für diese Überlegung bleiben Ihnen zwei Stunden Zeit.«

 

Nach einer Stunde war Napoleon im Besitz der Verzichtserklärung sowie der Nachricht, der Infant treffe Vorbereitungen zur Abreise. Er ordnete an, daß Fernando, sein Bruder Carlos und Don Antonio unter sicherer Bedeckung nach Schloß Valençay zu überführen und dort streng zu bewachen seien.

Dann befahl er Savary, Verhandlungen mit Manuel Godoy aufzunehmen, um auch von Carlos möglichst einen freiwilligen Verzicht zu erlangen, wobei mit der Aussetzung von Renten nicht zu sparen sei.

So kam es, daß Manuel sich seines in todesängstlicher Stunde den vierzehn Nothelfern abgelegten Gelübdes erinnerte – wenigstens soweit es sich auf Macht und Politik bezog. Er redete wirklich mit Carlos über dieses Versprechen, gab auch zu, daß ihm in Wahrheit jede Lust fehle, die Staatsgeschäfte wieder aufzunehmen, während der Bayonner Tage sei ihm klargeworden, daß künftig nicht nur das aufrührerische Volk und die Anhänger Fernandos, sondern auch die von ihm selbst anfänglich so wohl gelittenen französischen Bajonette seine Tätigkeit bedrohen würden. »Das Schicksal, das mich traf und dich streifte, kann dich morgen in voller Wucht treffen. Die Zeiten sind schlecht geworden – ziehen wir uns so angenehm als möglich aus der Affäre!«

Carlos lehnte es von vornherein ab, die Fortsetzung seiner Regierungstätigkeit ohne Manuels Mitwirkung überhaupt in Betracht zu ziehen. Der Freund zeigte sich unerbittlich, gab aber das Versprechen, das Exkönigspaar in die Verbannung zu begleiten. Da fügte sich Carlos, wie er es gewohnt war. Bei dem Gedanken, Spaniens geliebten Jagdgründen für immer fernbleiben zu müssen, konnte er sich der Tränen nicht enthalten. Auch rührte ihn Manuels Treue, in Wahrheit folgte der Friedensfürst den Gesetzen der Langeweile und den großen Renten, die Napoleon für Carlos und Maria Luisa aussetzte – denn Manuels eigenes Vermögen war bis jetzt nicht freigegeben.

Maria Luisa vermochte gleichfalls nichts als zu weinen. In diesen Tagen war das Alter mit Macht über sie gekommen. Als sie sich zusammenraffte und Manuel beauftragte, sich sofort um eine größere Zahlung à conto der Rente zu bemühen, glich sie mit ihrem welken, faltigen Gesicht, ein paar unter der Perücke heraushängenden grauen Haarsträhnen, der scharfen Nase und den etwas matt gewordenen Augen einem vom Wind und den Jahren zerzausten Geier, der nicht mehr recht die Kraft hat, mit dem Schnabel zu hacken.

Der Thronverzicht wurde ausgesprochen – zum zweitenmal –, und die Pensionäre begaben sich nach Fontainebleau.

So endete der Streit zwischen den beiden Königen.


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