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3

Eine Zeitlang erging es Francisco dreckig. Pepe Hillo zahlte selten und wenig, und in Alicante wußte niemand etwas von einer Geldsendung. Der von dem reichen Weinhändler schließlich verabreichte Vorschuß zeugte von wenig Vertrauen auf das ehrliche Gesicht des Empfängers.

Vorzeitige Herbststürme machten die Überfahrt zur Qual, das auf dem Schiff schon an sich abscheuliche Essen verließ oft genug den Magen auf dem Weg, den es gekommen war. Der Schlafraum stank, und selbst der kräftigste Bursche mußte die Freude am Leben verlieren.

In elendem Zustand erreichte Francisco Rom, nachdem der Postwagen seine Eingeweide nochmals durchschüttelt und sogar unter der Narbe des Madrider Messerstichs Schmerzen erweckt hatte. Wäre es nicht einer mitleidigen alten Zimmervermieterin beigekommen, ihn in memoriam eines bei der spanischen Fremdenlegion verschollenen Sohnes notdürftig zu verpflegen – das Abenteuer hätte ein schlimmes Ende nehmen können.

Später verführte er die Nichte seiner Wohltäterin und wurde hinausgeworfen. Aber da besaß er schon Geld: die Gabe des Vaters, die der Weinhändler nach Abzug seiner Forderung nachgesandt hatte, und sogar ein wenig selbstverdientes.

Damit hatte es diese Bewandtnis: Während die andern jungen Maler in Museen Marmorfiguren abzeichneten und im Vatikan auf riesigen Leinwänden Raffaels Fresken kopierten, hockte er mit seinem Skizzenbuch auf Brunnenrändern und hielt einen Straßenhändler oder eine Gruppe schwatzender Weiber fest. Nach solchen Zeichnungen malte er in seinem Werkstattzimmer kleine Bilder. Manchmal stellte er auch eine Staffelei einfach auf die Piazza Navona zwischen die Marktstände oder auf den Campo dei Fiori zwischen die Trödler und nahm seine Skizzen schon farbig nach der Natur auf. Dies, besonders auch die kurzbesonnene Schnelligkeit seiner Arbeit, erregte Kopfschütteln bei den klassisch strebenden Kollegen, wohlausgestatteten Stipendiaten zumeist, aber Fremde kauften ihm die rasch hingeworfenen Zeugnisse römischen Volkslebens mitunter noch naß auf der Straße ab, wenn auch für geringen Preis. Sogar einige ansässige Kenner interessierten sich, und schon wurde ihm zugetragen, der spanische Gesandte beim Heiligen Stuhl, Seine Exzellenz Don Miguel Trinidad Marqués de San Millan y Villaflor, Conde de Pontejos, habe den Wunsch geäußert, gelegentlich ein paar Arbeiten des jungen Landsmannes zu sehen.

An diesem Morgen hatte Francisco wenig Lust zur Arbeit und war froh, als der Studiengenosse Agustin Esteve in seinem Werkstattzimmer erschien, um ihn zu einem Spaziergang abzuholen. Nachher wollten sie zusammen Fischsuppe essen, jenes kräftige, in der Brühe aufgetragene Gemisch der unwahrscheinlichsten Meertiere, das ein paar Kellerkneipen als Spezialität führten.

Auf einer Tiberbrücke kamen den Malern zwei Zöglinge des spanischen Priesterseminars entgegen, die sich irgendeines Feiertags erfreuten, mit dem einen, Juan Llorente, dessen breites knochiges Gesicht beim Lachen etwas Anziehendes hatte, waren sie gut bekannt. Man beschloß zusammenzubleiben und einigte sich, da die Soutanenträger eine gewisse Gewähr für einen ihrem Stand angemessenen Verlauf des Vormittags verlangten, auf den Besuch von Sankt Peter.

Dort ließen sie sich von einem Küster in die Grabkatakomben führen und wurden nicht ohne Grauen von der nur durch die Kerzen der Besucher erleuchteten Niedrigkeit und Schmucklosigkeit der Gewölbe umfangen, in denen die einfachen Steinsarkophage der Päpste standen. Ein Kaiser und eine Kaiserin, Könige und Königinnen lagen dazwischen, in der heiligen Stadt vom Tod ereilt, wurden sie der Ehre der geweihtesten Grabstätte der Christenheit gewürdigt. Ein Jahrtausend und mehr war über einige dieser Särge hingeströmt.

Der Küster wußte nicht viel zu erklären, aber die beiden Kleriker begannen ihre Kenntnisse auszukramen. Francisco horchte auf. Er hatte in der geistlichen Schule zu Zaragoza wenig von geschichtlichen Ereignissen gehört, die nicht sein spanisches Vaterland unmittelbar angingen. Nun unterwölbte sich ihm die Gegenwart, in der er stand, plötzlich mit den riesenhaften Grüften der Vergangenheit, Gestalten hoben sich vom Dunkel ab, so wie Juan sie beleuchtete, dessen Beredsamkeit seinem ungewandten Begleiter bald den Mund verschloß. Der junge Kaiser, vor achthundert Jahren in Sankt Peter gekrönt und in derselben Kirche, nach einem Durchbruch durch den Belagerungsring der Griechen und Sarazenen, mit der schönen Kaisertochter aus Byzanz vermählt – der Papst, der vor mehr als viereinhalb Jahrhunderten das erste Jubeljahr der heiligen Kirche verkündete, den Zustrom von hunderttausend Pilgern erlebte, die Oberhoheit über alle Könige für sich beanspruchte, von römischem Adel mißhandelt und im eigenen Vatikan gefangengesetzt wurde – alle die andern, von denen Juan sprach, Francisco fühlte, ja sah sie lebendig und empfand es um so tiefer als eine erregende Merkwürdigkeit, daß ihn nur die dünne Steinplatte, auf die er die Hand legte, von ihrem vermoderten Gebein trennte.

Und als er wieder in das Kirchenschiff aufstieg, bekamen auch die hier oben in die Wände eingebauten Gräber, die, ganz anders als die unteren, mit üppigen Denkmälern sich maskierten, einen besonderen Sinn für ihn: er malte sich aus, diese Päpste haben einen Kampf gegen den Tod geführt und ihren Sieg vorgetäuscht, indem sie ihren Leichnam der Kellergruft vorenthielten.

Auf der Dachterrasse, angesichts der steinernen Apostelriesen, freute er sich des Lebensstroms der freien Luft und machte, aus einer philosophierenden Melancholie mit einem Satz in die übermütigste Laune springend, Anstalten, dem heiligen Bartholomäus auf den Kopf zu klettern, um eine Taube zu verjagen. Juan hielt ihn zurück.

Während sie auf der im Scheitel der Kuppel die Laterne umziehenden Plattform sich an dem nahen, scharf umzirkten Platz, den mächtigen Höfen des Vatikans, dem Tiberfluß, den Dächern, Türmen, Kuppeln, Pinienhügeln der Stadt und dem stolzen Hintergrund der Gebirge entzückten, stellte Juan fest, daß sie noch gar nicht die höchste Höhe erklommen hätten. Sie fanden auch die Tür des Aufgangs in die Laterne, die selbst noch einen respektablen Säulenrundgang darstellte, aber sie war verschlossen und kein Aufseher in der Nähe.

»Dann müssen wir eben sehen, so hinaufzukommen«, entschied Francisco. »Ich jedenfalls steige nicht ab, ohne oben gewesen zu sein. Trotz meinem Hunger.«

Die andern lachten. Agustin schlug im Scherz eine Wette um die mittägliche Fischsuppe vor.

Francisco schaute an den Säulen empor – mit Augen, die aus ihrer eingesenkten Lage wie aus einem Versteck hervor mit doppelter Schärfe ihre Ziele faßten – und nahm die Wette an.

Agustin wähnte sich auf eine lustige Art zum Mittagessen eingeladen und hielt die Angelegenheit damit für abgetan.

Francisco aber hatte entdeckt, daß in die Säulen kleine Marmorplatten eingelassen waren, Lampenträger für Festbeleuchtungen, die wie die Sprossen einer Hühnerleiter senkrecht in die Höhe führten. Er umklammerte eine Säule, prüfte die Tragfähigkeit der Plättchen, schnupperte mit der breiten, ein wenig hochgestülpten Nase scherzhaft die Luft ein wie eine Katze und begann zu klettern.

Die drei unterließen jeden Versuch, ihn an den Beinen festzuhalten – vor Verblüffung und vor Angst, er könnte infolge der Behinderung gefährlich stürzen. Doch rief Agustin, dem sein Gewissen schlug, mit Hast, er nehme die Wette zurück. Es klang mit seiner knabenhaft hohen Stimme, um derentwillen ihn seine Freunde den Kapaunen nannten, fast etwas lächerlich.

»Das tut kein Caballero«, tönte es von oben.

»Ich trage die Verantwortung, wenn dir etwas zustößt. Ich bitte dich, laß diese Dummheiten!«

»Mir stößt nichts zu als eine gewonnene Fischsuppe.«

»Ich gebe die Wette verloren! Komm zurück!«

»Ich lasse mir nichts schenken. Außerdem ist für das, was ich tue, niemand verantwortlich als Francisco Goya. Misch dich nicht in meine Privatangelegenheiten.«

Die drei sahen sich mit höchst beunruhigtem Kopfschütteln an.

Indes ging die Sache ziemlich rasch vonstatten. Francisco faßte schon an eine der steinernen Schnecken, die, unterhalb des obersten Umgangs hervorragend, für die aufwärts Starrenden den noch darüber befindlichen Teil des Bauwerks verdeckten, und erklomm mit einem vor dem leeren Himmelsgewölbe unheimlich sich abzeichnenden Schwung den Rücken der Schnecke, die letzte Marmorsprosse splitterte ab und fiel zwischen den von neuem tief Erschreckenden nieder. Dann verschwand der Körper des Kletternden.

Juans Begleiter schlug vor, sich zurückzuziehen, sein geistliches Gewand könne mit dieser frivolen Sache nicht länger in Berührung bleiben. Juan aber erklärte bestimmt, er lasse Agustin in dieser Lage nicht allein. »Aber drei brauchen wir nicht zu sein«, fügte er etwas spöttisch hinzu.

»Du weißt, daß es uns verboten ist, uns zu trennen.«

»Auf die zwanzig Schritte, die du dich zurückziehen wirst, kommt es nicht an.«

»Ich protestiere«, sagte der korrekte Zögling und stieg ab.

Francisco war es indessen geglückt, das Eisengeländer der oberen Galerie zu überwinden. Er stand auf einer schmalen Plattform, schritt den Kreis ab und fand eine niedere Glastür, die ins Innere führte. Sie war verschlossen. Unmittelbar darüber setzte der steinerne, zwischen den Rippen mit Bleiplatten belegte Turmhelm an, der in steiler Kurve anstieg und in eine große, von einem Kreuz gekrönte bronzene Kugel endete. Sie zu beklopfen, wäre das Äußerste, was sich erreichen ließe.

Als er auf einem der Steine des Helms einen Namen gekritzelt fand, reizte ihn der Gedanke mächtig, sich höher oben einzuschreiben. Schließlich bedeutete es ja für ihn, der sich ein Schwindelgefühl noch nicht einmal vorstellen konnte, keinen Unterschied, ob man eine Kletterei vom Erdboden aus oder in fünfhundert Fuß Höhe unternahm. Die steinernen Rippen waren an den Fugen etwas verwittert und boten keinen schlechten Halt.

Er machte die Probe und fand diesen Teil seines Unternehmens gefahrloser als den schon überstandenen. Als er höher kam, konnte er wiederum Lampenträger zu Hilfe nehmen, diesmal solche aus Eisenblech, sie waren in den Bleiplatten verankert und wurden bei den großen Illuminationen sicherlich von angeseilten Männern bedient.

Aber das letzte Stück erwies sich als zu steil. Auch hatte er die Maße unterschätzt: die Kugel saß auf einem viel zu hohen Hals, als daß er sie hätte berühren können. Da resignierte er, zog einen Stift aus der Tasche und zeichnete ein F und ein G auf den höchsten Stein, den er erreicht hatte. In diesem Augenblick dachte er an die toten Päpste tief unten in der Gruft und überlegte, ob er seinen Initialen nicht die Bemerkung beifügen solle: hoch über den Grüften. Aber das schien ihm doch eine blasphemische Herausforderung des Schicksals.

Ehe er sich daran machte abzurutschen, sogen seine Augen minutenlang den Rundblick ein, der ihn hier oben noch weiter und größer dünkte. Nach unten verdeckte der seltsame Rand des Kuppelbauchs einen Teil der Nähe ...

Die beiden Wartenden, die sich anfänglich, ohne es einander einzugestehen, darauf gefaßt gemacht hatten, daß Franciscos Körper, an einer für sie unsichtbaren Stelle verunglückend, herabgesaust komme, beruhigten sich allmählich. Als sich aber die Ungewißheit allzulange hinzog, begannen sie sich mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen, der Absturz könnte, ohne daß sie es bemerkt hätten, auf der entgegengesetzten Seite geschehen sein. Schließlich erschien ein Aufseher, kurz entschlossen sagte ihm Agustin, einer seiner Begleiter sei versehentlich oben eingeschlossen worden.

Der Mann erklärte das für unmöglich, ließ sich aber gegen ein Trinkgeld bewegen, nachzusehen. Gerade als er aufschloß, ertönten undeutliche Rufe aus der Höhe. Der Wächter bekreuzigte sich, schüttelte schwer den Kopf und stieg auf. Die beiden folgten ihm.

Als der wohlgenährte, zwar nicht in beruflichem Eifer und Ehrgeiz, aber in beruflicher Gewohnheit gut verankerte Beamte entdeckte, daß sich in der Tat eine menschliche Gestalt nicht nur hier oben, sondern sogar außerhalb des Turmzimmers, außen auf der Galerie bewegte, erbleichte sein rotes Gesicht. »Niemals lassen wir einen Fremden hier hinaustreten, weil die Stelle gefährlich ist«, stotterte er. »Heiliger Petrus, wer kann das getan haben?« Mit zitternder Hand stellte er fest, daß die Tür verschlossen war, und ließ auch die beiden rütteln, um das Übernatürliche des Vorgangs zu dokumentieren, denn die Tür war nach seiner (durchaus zutreffenden) Überzeugung seit Monaten nicht aufgeschlossen worden. Dann suchte er, während Juan etwas Unverständliches murmelte, nach dem Schlüssel und öffnete.

Sogleich rief Agustin: »Wir konnten dem Mann erst jetzt mitteilen, daß du eingeschlossen bist.« Francisco verstand und fing an, über die Schlamperei der Kustoden zu schimpfen. Der arme Mann wäre sicherlich durch ein Gespenst weniger aus der Fassung gebracht worden als durch diesen lebendigen, schimpfenden Menschen – denn ein Geist hat schließlich das logische Recht zu jeder Art von Aufenthalt. Als ihm nun gar Francisco einen angeblichen Kollegen, der gar nicht existierte, als den Schuldigen beschrieb: lang, dürr, schieläugig, ein wenig hinkend, mit rotem Bart – da glaubte er es mit einem Wahnsinnigen zu tun zu haben und drängte zum Abstieg.

Er bekam noch eine Münze für die Rettung, fand aber seinen wohlgeordneten Gleichmut nicht wieder.

Als die vier ins Freie traten – der korrekte Jüngling hatte bebend in halber Höhe der Kuppel gewartet –, lachte Francisco: »Ich glaube, der da oben schüttelt immer noch den Kopf!«

»Wir auch«, bemerkte Agustin. Aber er verbarg seine Bewunderung nicht.

Am andern Ende des Platzes kamen sie an einer Gruppe vorüber, die hitzig über die Möglichkeit stritt, die äußerste Spitze der Kuppel von außen zu erklettern. »Wenn ich es aber mit diesen Augen gesehen habe und auch mein Weib Zeuge ist«, schrie der Gemüsehändler und gestikulierte mit einem Fenchelknollen. »Dann wart ihr eben beide besoffen«, sagte der Kneipwirt von der Ecke und brachte seine rote Bauchbinde in Ordnung.

Francisco blieb stehen und fragte höflich, ob es ihm erlaubt sei, sich einzumischen. »Ich habe die Sache aus der Nähe beobachtet. Es war einer der Aufseher, der lange, dürre, schieläugige mit dem roten Bart. Er holte einen Distelfinken, der ihm entflogen war.«

»Hab' ich's nicht gesagt?« triumphierte der Angegriffene, »Den Roten habe ich die Ehre zu kennen. Er gehört zur unmittelbaren Dienerschaft Seiner Heiligkeit. Ich hab' ihn auch erkannt, doch wollte ich nichts sagen – ihr hättet mir sonst noch weniger geglaubt. Was sagt ihr jetzt?«

Der Wirt und seine Parteigänger verzogen geringschätzig den Mund. Da trumpfte die Frau noch auf, indem sie die Brust im zerrissenen Mieder hochzog: »Ich habe sogar den Vogel gesehen. Wer weiß, welch hochstehender Persönlichkeit er gehört!«

»Würde für deine Spatzen jemand auf die Kuppel klettern?« höhnte der Händler zum Wirt hin. »Noch nicht für deine Gänse!« Er spielte Ball mit einer Orange.

»Ich glaube, du wirst bald deinen Salat dort oben bauen«, gab der Wirt zurück und spuckte im Weggehen aus.

»Jetzt hab' ich aber wirklich Hunger«, mahnte Francisco.

 

Der spanische Gesandte ehrte den jungen Maler durch einen Porträtauftrag und lud ihn mehrfach in sein Haus ein.

Bei einem Empfang lernte Francisco ein sehr schönes römisches Mädchen kennen, die Tochter des verstorbenen Marchese Salviati. Angelica ermunterte ihn, nachdem er einige spanische Lieder zur Gitarre gesungen hatte, durch unverhüllte Sympathie, sich ihr noch während des Festes flammend zu erklären.

Trotz der Sorgfalt, mit der des Mädchens Schritte überwacht wurden, konnten sie sich mehrmals treffen. Aber die Zusammenkünfte wurden entdeckt. Angelica versicherte, sie werde den spanischen Maler heiraten. Die Marchesa, für die Mesalliancen eine Gotteslästerung bedeuteten, verfügte nach einer Besprechung mit ihrem älteren Bruder kurzerhand, daß ihre siebzehnjährige Tochter in einem Kloster adeliger Nonnen untergebracht werde – zur Beendigung ihrer Erziehung. Das Kloster befand sich zwar in Rom, doch konnte man sich von der bekannten Strenge seiner Hausordnung Gewähr gegen alle Gefahren jugendlicher Heißblütigkeit erwarten.

In der Abschiedsunterredung verlangte die Mutter ein volles Geständnis. Angelica erklärte kühl, sie sei nicht so töricht, einem Liebhaber, über den sie Macht behalten wolle, raschen und leichten Sieg zu gewähren. Sie bitte übrigens bei dieser Gelegenheit um Aufklärung darüber, was es mit dem Gerücht auf sich habe, sie sei gar nicht die Tochter ihres Vaters, sondern ... Sie konnte den Satz, in dem noch ein Stallmeister vorkommen sollte, nicht zu Ende sprechen, weil die Marchesa, ohne sie eines Blickes zu würdigen, das Zimmer verließ.

Aber sie entging der klösterlichen Erziehungsanstalt nicht. Die spärlichen Ausgänge in die Stadt, die sich, da die Nonnen einen großen Garten besaßen, fast ganz auf den Besuch von Kirchen beschränkten, geschahen in Reih und Glied, in entstellender Tracht, unter Aufsicht mehrerer Klosterfrauen. Francisco kam einmal im Straßengedränge ganz nahe an Angelica heran, aber sie rief ihm – unbekümmert um den Zorn der Nonnen – zu: »Du sollst mich so nicht sehen!« Und diesen Willen respektierte er gar nicht ungern. Denn das aus einem störrischen Stoff schlecht geschnittene graue Kleid schien statt eines straffen Mädchenkörpers den einer zerfallenden Matrone zu verhüllen, das schwere, duftende Haar war unter einer Haube gefangengesetzt, die selbst noch die Augen beschattete. Nur dem üppigen Bogen des Mundes und seinen immer etwas hochmütig zuckenden Winkeln konnte der Zwang nichts anhaben.

Sie selbst hatte den Gedanken, bei einem solchen Ausgang aus dem verhaßten Zwang zu entfliehen, sogleich aufgegeben. Am lichten Tag, in dieser durch ihre Lächerlichkeit auffallenden Kleidung ... unmöglich ... Die Nonnen würden schreien und genug Helfer finden.

 

In jenen Tagen wurde Francisco zum Grafen Sergei Nikolajewitsch Korsakow gerufen, dem Gesandten Ihrer Majestät der Kaiserin aller Reußen beim Heiligen Stuhl. »Sicherlich wieder ein Porträt«, sagte er zu Agustin, der sich vor Bewunderung fast verbeugte. »Übermorgen wird sich der Papst um mich bemühen.« Hinter dem Scherz verbarg sich ein hübsches Stück Eitelkeit über die jähe Kurve seiner Erfolge.

Da sein Gast des Französischen nicht mächtig war, mußte sich der Graf der italienischen Sprache bedienen, die er nur mangelhaft beherrschte. Der etwas unscheinbar, aber sehr energisch aussehende alte Herr, der, wenn das Gerücht nicht log, vor etlichen Jahren einen Diener für die durch eine Ungeschicklichkeit geschehene Zerstörung einer venezianischen Glasschale mit dem Degen durchbohrt hatte – dieser alte Herr mit den kleinen heftigen Augen also bemühte sich, dem jungen spanischen Maler klarzulegen, daß es sich in Petersburg leben lasse.

Francisco verstand die wesentlichen Punkte durchaus: es gebe Öfen und Pelze gegen die Winterkälte, den Wein beziehe man aus Deutschland und Frankreich, die Köche gleichfalls, und was die Frauen anlange, so finde der Graf, daß sie mehr Temperament haben als in Rom... Es war ihm anzusehen, daß er zu einer gewürzten Anekdote ausholen wollte, doch besann er sich rechtzeitig: sollte dieser junge Mann das Angebot annehmen und im Lauf der Zeit zum Hofmaler ernannt werden, so war sein Rang der der Tanzmeister oder Leibärzte... Abstand, Abstand gegenüber künftigen Hofbediensteten... Außerdem kann man so etwas nur auf französisch erzählen.

»Also, mein Lieber«, sagte er, während ein bärtiger Diener frischen Tee brachte, »über Einzelheiten noch keine Verpflichtungen. Aber kommen Sie, kommen Sie! Man kann am Hof Ihrer Majestät schnell groß werden.«

»Ich werde stets der dankbare Diener Eurer Exzellenz sein«, erwiderte Francisco in der unterwürfigen Sprache, die nach seiner Beobachtung solche Leute erwarteten, »aber ich kann nicht, wie ich will. Die Religion gebietet mir, zu meinen Eltern nach Spanien zurückzukehren.« Er wußte selbst nicht, wie er auf die Religion gekommen war, aber die Wendung dünkte ihn wirkungsvoll. Im Innern grauste ihm vor dem unbekannten grauen Norden.

»Nehmen Sie Ihre Eltern mit!«

»Die Einwilligung wird viel Zeit erfordern.« Er stellte sich die Gesichter von Vater und Mutter vor. In ein fernes, fremdes Land, in dem zu allem hin – das sah man an den Heiligenbildern dieses Hauses – ein anderer Glaube herrschte...

Aber dann meldete sich doch die Versuchung dieses plötzlichen, unerwarteten Aufstieges. Er lenkte ein: »Eure Exzellenz fassen es nicht als Unhöflichkeit auf, wenn ich um einige Tage Frist bitte...«

»Sprechen Sie wieder vor...«

Der Gesandte verabschiedete den Besucher mit korrekter Höflichkeit, doch mit ausweichenden, halbzugekniffenen Augen: es war ihm peinlich, seinen fast in die Form einer Bitte gekleideten Vorschlag von einem jungen Bürger mit Zurückhaltung behandelt zu sehen. Man hätte die Sache doch durch einen Sekretär erledigen lassen sollen...

 

Ein schlechter Zufall wollte, daß es Angelica zwei Tage später gelang, heimlich einen Brief zu schreiben und ihn, mit Franciscos genauer Adresse versehen, unter dem Büßergewand aus dem Kloster zu schmuggeln. Ein kühner Griff unter das Kleid, ein entschlossener Schritt beiseite – und er war zusammen mit einem der Geldstücke, die sie die ganzen drei Wochen zu verbergen gewußt hatte, einem Straßenjungen eingehändigt, der sich sofort fröhlich aus dem Staube machte, denn die Münze war hoch. Was nützte den Nonnen ihr Entsetzen? Sie konnten nicht ermitteln, um was es hier ging. Ein Gruß persönlicher Art an eine kranke Freundin, sagte Angelica. Die Strafe des Ausschlusses von den Ausgängen für die Dauer eines Monats traf auf völlige Gleichgültigkeit ...

Der Brief enthielt Angelicas Versicherung, daß das Leben im Kloster nicht auszuhalten sei, die Aufforderung, sie so schnell als möglich zu befreien, und eine Beschreibung der wichtigsten Räumlichkeiten, dazu Angaben über die Stunden der geringsten Bewachung.

Francisco war glücklich, ein Lebenszeichen der Geliebten – mehr noch: die Versicherung ihrer Liebe und ihres Zutrauens in Händen zu halten. Die Selbstverständlichkeit freilich, mit der sie von ihm die Entführung aus dem Kloster erwartete, verursachte ihm einiges Unbehagen. Aber Ritterlichkeit war ein Bestandteil seiner Erziehung, seiner Überzeugung, seines Blutes. Er sah sich als Befreier aufgerufen. Eine andere Möglichkeit, als dem Rufe zu folgen, bestand nicht.

Immerhin meldete sich auch die Frage, was nach der Befreiung geschehen werde.

Und da schien ihm nun das Schicksal deutlich einen Weg zu zeigen: das Angebot des Grafen Korsakow mußte angenommen werden. Dann konnte man zu zweit nach Rußland fliehen.

Er bat schriftlich um eine neue Audienz, doch die Antwort ließ auf sich warten. Da handelte er so, als sei die russische Abmachung schon getroffen.

 

Es war ein unglückseliges Unternehmen. Francisco hatte einzig Agustín Esteve ins Vertrauen gezogen. Der sah schon fast eine Aufgabe darin, dem waghalsigen, vom Glück begünstigten Genossen keine Gefolgschaft zu verweigern, und wartete nun in einem Versteck unweit der Mauer, über die die Strickleiter hing, den Erfolg oder Mißerfolg ab ...

Als der Entführer mit einer abgeblendeten Laterne in der Hand kurz nach Mitternacht, während er die Nonnen in der Kirche versammelt glaubte, in den Schlafsaal der Zöglinge eindrang, weckte ein Geräusch zwei der Mädchen, die sofort zu schreien anfingen. »Bitte schweigt, es geschieht euch nichts!« flüsterte ihnen Francisco heftig zu und bemerkte im Halblicht, daß die eine sehr schön war. Aber schon eilte eine Nonne mit einer Laterne herbei. Francisco und sie, die in einem Mantel gehüllt, doch versehentlich ohne Haube war und darum ihre kurzgeschorenen Haare zeigte, starrten sich entsetzt an. Die Frau rief laut um Hilfe. Die Szene entwickelte sich. Einige von den Mädchen krochen unter die Bettdecke, andere drängten sich, mit langen, gespenstisch aussehenden Nachthemden bekleidet, in einer dunklen Zimmerecke zusammen.

Francisco, von den Ereignissen überrumpelt, hatte in diesem Augenblick eine unsichere, fast traumhafte Vorstellung der Gegenwart, aus einem dumpfen Untergrund heraus empfand er mehr, als er es dachte, daß es Notwendigkeit gewesen sei, sich in diese Lage zu begeben, und daß irgend etwas Weiteres geschehen werde und auch von seiner Seite zu geschehen habe. Dann kam ihm der halbwegs klare Gedanke, daß nun Angelica sich bekennen und an seine Seite eilen müsse.

Aber er wurde ihrer überhaupt nicht ansichtig. Sie war eine von denen, die unter der Bettdecke staken, denn sie gab, nachdem das Kloster alarmiert war, ihre Sache schon verloren und hoffte, durch solche Zurückhaltung als Mitglied der Verschwörung unentdeckt zu bleiben. Gerne hätte sie dem Liebhaber gezeigt, daß sie ihn als einen Tölpel erkannt habe, aber das ging nicht.

Er war Ritter genug, ihren Namen nicht zu rufen. Und erkannte plötzlich, daß er die Gelegenheit versäumt hatte, die Treppe hinabzustürmen und über die Mauer zu entfliehen. Denn jetzt drängte die Schar der Nonnen mit brennenden Kerzen die Stufen herauf, geführt von der Äbtissin, die dem Feind ihr ganzes Heer entgegenwarf.

Die Mädchen im Schlafsaal begannen sich sicherer zu fühlen und das Abenteuer von der romantischen Seite zu nehmen. Aus der Zufluchtsecke wurde heftig gekichert, die schöne Ruferin, die Franciscos bewundernden Blick wohl gefühlt hatte, richtete sich ein wenig im Bett auf, neben dem er noch immer stand, und versuchte mit ihm ein Wechselspiel der Augen zu beginnen.

Aber er bemerkte von solchen Dingen nichts mehr.

Angesichts der herandrängenden Ordensgewänder quoll plötzlich aus den Schächten seiner Seele, in die die Vorstellungsbilder der Kindheit, der Schule, der häuslichen Erziehung hinabgesunken waren, eine Welle religiöser Scheu und Ehrfurcht als etwas völlig Selbstverständliches hervor und versetzte ihn in einen Zustand der Hilflosigkeit. Er erschrak über das, was er mit den Scheuklappen der Ritterlichkeit vor den Augen getan hatte, und empfand das Peinliche und Lächerliche seiner Lage. Sein voller, genußfroher Mund bekam einen knabenhaften Zug.

Die Äbtissin, eine recht handfeste alte Dame mit einer Brille vor den Augen und einem goldenen Kreuz vor der Brust, ging zwischen zwei respektvoll um einen halben Schritt zurückbleibenden Schwestern auf ihn zu und fragte geradeswegs, was er wünsche. Das Kreuz blinkte im Kerzenschein. Er grüßte sie mit einem Kniefall, ohne zu antworten, und folgte dann ihren Anweisungen. Das heißt: er entfernte sich eilends aus dem Schlafgemach, ohne nochmals den Blick zu erheben, und ließ sich in ein kleines Zimmer mit vergittertem Fenster einschließen.

Am Morgen weckten ihn aus schwerem Schlaf päpstliche Sbirren und führten ihn durch die schon belebten Gassen der Stadt ins Gefängnis.

 

Der treue Agustín hatte vor den Klostermauern die ganze Nacht gewacht, auch die Unruhe der Nonnen bemerkt und böse Schlüsse daraus gezogen. Voll Entsetzen sah er nun den Freund in Fesseln abgeführt werden.

Ohne langes Besinnen tat er das Richtige: er ließ sich, so früh es die Stunde gestattete, bei einem Sekretär der spanischen Gesandtschaft melden.

Dieser benachrichtigte den Gesandten selbst. Don Miguel Trinidad erkannte sofort die Gefahr, die seinem Schützling drohte. Er war sehr ärgerlich über die Störung, aber er handelte unverzüglich: er verfaßte ein Schreiben an den päpstlichen Polizeimeister, dem der Verhaftete vermutlich unterstand, ehe sich die Gerichte mit der Sache befaßten, und erbat von ihm die persönliche Gefälligkeit, den Delinquenten der Justiz Seiner Majestät des Königs von Spanien auszuliefern. Dieses Schreiben übersandte er durch einen besonderen Kurier.

Noch vor Abend wurde Francisco gefesselt im Palast der spanischen Gesandtschaft abgeliefert. Mit ihm ein Schreiben des ersten Polizeimeisters Seiner Heiligkeit, das diesen Passus enthielt: »Sollten Eure Exzellenz auf strengere Maßnahmen verzichten wollen, so werden es Eure Exzellenz mit mir für opportun halten, daß sich jener F. Goya innerhalb von drei Tagen für immer aus dieser Hauptstadt entferne und sich auch während solcher Frist nicht auf der Straße blicken lasse, jedenfalls nicht bei Tag.«

 

Don Miguel Trinidad führte mit dem freigelassenen Häftling ein Gespräch ohne Zeugen. Er stellte ihm vor Augen, daß die Verurteilung zu ein paar Jahren Kerker ein milder Ausgang seines Prozesses zu nennen gewesen wäre, das Gericht der Inquisition aber sehr wohl die Macht und die gesetzlichen Grundlagen besessen hätte, ihn für diese Klosterschändung an den Galgen zu bringen. Und er erlebte die Genugtuung, daß sein Gegenüber still und bleich wurde.

Aber dann spendete ihm der hagere Lebemann die Anrede Caballero und lud ihn ein, die zwei oder drei Tage bis zu seiner unumgänglich notwendigen Abreise im Palast der Gesandtschaft wohnen zu bleiben.

Francisco vertraute ihm den Vorschlag des Russen an. Don Miguel Trinidad schüttelte sich und deklamierte mit ritterlicher Betonung: »Alle Ehrfurcht vor Ihrer Majestät der Kaiserin ... aber lieber Bettler in Spanien als Fürst in Rußland!«

Francisco sprang auf. »Dies ist das Wort«, rief er, »Spanien um jeden Preis ... selbst als Bettler in Spanien ... Beglückwünschen Sie mich, Exzellenz, ich werde morgen nach Spanien zurückkehren!«

Unmittelbar nach diesem Ausruf schoß ihm durch den Kopf, daß sich ja auch in der Heimat die Inquisition für ihn interessiere. »Warum sind Sie plötzlich so still?« fragte die Exzellenz. »Schlagen Sie sich doch das Mädchen aus dem Kopf! Sie finden schönere in Spanien.«

Francisco lachte, er hatte Angelica vergessen. Zudem fand er zu einer hoffnungsvolleren Beurteilung der Lage zurück: sicherlich gab es genug Städte in Spanien, in denen er von den Behörden nichts zu fürchten brauchte.

 

Als er am Morgen vom Bett aus unter tiefblauer Luft die strahlend gelbe doppeltürmige Kirche Trinità de Monti, davor den roten Obelisken, dahinter dunkle Pinien über dem großartigen Anstieg der Freitreppe stehen sah, spürte er plötzlich, daß es nicht leicht sei, Rom zu verlassen. Auch nicht für den, der nach Spanien zurückkehrt ...

Aber dann ging es wie ein Ruck durch ihn: Heraus aus allem! Es gibt nichts Schöneres auf der Welt, als neu anzufangen!


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