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Zweiter Teil. Dämonen

1

»Habe ich wirklich ein so amouröses Gesicht?« fragte die junge Schauspielerin Rita Molinos vor ihrem soeben vollendeten Porträt.

»Sie sind sehr hübsch, hübscher noch, als ich Sie malen kann«, gab ihr Francisco zur Antwort, »und Ihnen die Züge einer Asketin zu verleihen, hieße die Wirklichkeit verfälschen. Ich hoffe, Sie kommen nicht vor Ihrem eigenen Ebenbild ins Moralisieren.« Er wußte sehr gut, daß er noch selten einem Frauenporträt einen so sinnlichen Ausdruck gegeben hatte.

Sie legte ihm den Arm um die Schulter.

Es war zufrieden und auch ein wenig stolz, daß er noch genug Anziehungskraft besaß, ein so junges und schönes Mädchen zu gewinnen. Sie kann hundert andere haben, dachte er, und wird mich wählen – hat mich schon gewählt.

»Jetzt, da wir fertig sind, dürfen Sie die furchtbaren Bilder wieder aufdecken«, lachte sie.

Sie hatte sich ausbedungen, daß während der Sitzung zwei auf Staffeleien aufgestellte Bilder, Franciscos letzte Arbeiten, verhängt wurden, weil sie nicht ertrage, sie so lange Zeit vor Augen zu haben. Nun nahm er die Tücher ab und schob mit vergnüglichem Grinsen Ritas Porträt zwischen die beiden Bilder. Sie kleidete ihren Protest in einen reizenden Schrei.

Das linke Bild stellte eine Sitzung des Inquisitionstribunals dar: vier Angeklagten wurde das Urteil verlesen, die mit Flammen bemalten spitzen Papiermützen, die man ihnen auf den Kopf gestülpt hat, verkünden den Scheiterhaufen, noch ehe das Wort gefallen ist. Das rechte ein Pestspital, einen Keller vielmehr, in den die Kranken von ihren nur auf die eigene Rettung bedachten Mitbürgern geworfen worden sind, notdürftig verbunden liegen sie nicht in Betten, sondern auf dem mit ein wenig Stroh bedeckten Boden – Leidende, Sterbende, Tote, in das stinkende Grauen fällt durch ein Fenster Sonnenlicht wie die Vision einer besseren Welt.

Der Ketzer, dem das Urteil verkündet wird
Radierung. Aus den Caprichos

Das Inquisitionsbild war aus der Erinnerung an eine in jungen Jahren in Zaragoza erlebte Szene entstanden. Zwar waren Ketzerverbrennungen inzwischen immer seltener geworden, aber die Inquisition bestand weiter, nährte mit dem Geld des Volkes eine Schar geistlicher Richter, die sich noch immer in Privatangelegenheiten mischten und unsichtbar, aus dunklen Hintergründen heraus jedes freie Wort mit der Folter und grausamen Kerkerstrafen bedrohten. Mit wahrem Wohlbehagen ließ Francisco die ölige Selbstsicherheit der vermeintlichen Diener Gottes von der dumpfen Verzweiflung der Verurteilten abstechen.

Die Schrecken der Pest hatte er niemals geschaut. Die Gedanken zu dem Bild waren ihm während der Streifzüge aufgestiegen, die er mitunter in Begleitung eines merkwürdigen Menschen unternahm: jenes vom Volk Todeskämpfer genannten Mönches, den er einst bei Don Carlos' Krönungsfeier im Stierzirkus zum erstenmal zu Gesicht bekommen hatte. Pater Bavi kannte viele Menschen, hatte überallhin seine Beziehungen, das Volk sah in ihm seinesgleichen und verehrte ihn doch als einen Höherstehenden. Als Heiligen freilich nicht – dafür war seine Lebensführung mit allzu vielen Schlacken behaftet. Die Oberen, denen die Tatsache seines Einflusses wichtig genug war, drückten ein Auge zu oder fanden sich vielmehr damit ab, daß er sich ihren Blicken weitgehend entzog. Seine Tätigkeit war – er gab es wenigstens so an – derart ausgedehnt, daß er oft tagelang nicht in sein Basilianerkloster zurückkehrte.

Francisco machte die Bekanntschaft dieses Mannes bald nach seiner Rückkehr aus Andalusien und nützte sie aus, indem er sich von ihm in mancherlei dunkle Winkel von Madrid führen ließ, die er nicht oder nicht mehr kannte. Der Pater verschmähte es dabei niemals, sich in Schenken freihalten zu lassen, und erzählte beim Wein von seinen recht weltlichen Methoden, den Menschen das Sterben leicht zu machen. Eines Tages legte er das Bekenntnis ab, er habe sich zum Dienst bei den Sterbenden gedrängt, um aus ihrem Anblick das Geheimnis des Todes zu ergründen, und gab unheimliche Beispiele der Ergebnisse seiner Studien, sie beschäftigten Francisco, der immer fanatischer darauf brannte, der Wirklichkeit des Erdendaseins aus unmittelbarer Nähe ins Gesicht zu sehen.

»Nehmen Sie mich weg – ich passe nicht dahin«, rief Rita nun doch und warf sich, während Francisco ihr Bild beiseite stellte, malerisch auf einen Diwan. Auf dem Tisch daneben stand ein Strauß üppiger Rosen, den entblätterte sie mit zwei, drei Griffen und schüttete den vollen Segen über die beiden Bilder aus.

»Sie hätten nichts Bezeichnenderes tun können.« Während er das sagte, klopfte es an der Tür. »Der Pater!«

Der Eintretende sprach eine Segensformel und fügte, dem schönen Mädchen einen bewundernden Blick zuwerfend, bei: »Ich habe Glück.«

»Wir auch, Hochwürden«, bemerkte Rita, »daß Sie nicht dienstlich kommen.«

Sein hageres Gesicht schaute sie eindringlich an aus jenen Augen, mit denen sich Francisco immer wieder auseinandersetzte: sie waren groß, sehr dunkel, und schienen ihm ebensooft Überlegenheit, Wissen, Ruhe oder wenigstens den Wunsch, für ruhig gehalten zu werden, wie Fanatismus oder flackernde Begehrlichkeit zu spiegeln, mitunter sogar den Kampf dieser entgegengesetzten Zustände und Empfindungen.

»Ich sehe es den gesündesten Menschen an«, sagte der Mönch mit einer etwas unbehaglichen Langsamkeit, »wenn ihnen ein baldiger Tod bestimmt ist. Falls ich nicht irre, haben Sie noch Frist, Señorita.«

Ihre Augen glänzten lebenshungrig. »Wirklich? Sind Sie sicher, Hochwürden?«

»Ich sagte Ihnen ja: wenn ich nicht irre.«

Sie machte ein enttäuschtes Gesicht und wußte nichts zu erwidern.

»Eigentlich«, wandte sich Bavi an Francisco, »wollte ich Ihnen für den Abend einen Vorschlag machen. Es besteht einige Hoffnung, daß ich Ihnen etwas Interessantes zeigen kann. Aber das hat noch Zeit. Zunächst hoffe ich, Sie zeigen mir etwas.«

Francisco holte aus einer verschlossenen Lade einige Radierungen und stellte sie nacheinander auf.

Zuerst zwei Blätter mit Kobolden.

Die einen, mit mehr komischen als greulichen Köpfen und großen, raffgierigen Händen, waren mit Essen und Trinken beschäftigt, ihre Mönchskutten konnten sehr wohl den Schluß zulassen, es handle sich um eine Anspielung auf klösterliche Habgier. »Sehr nette, gute kleine Leutchen«, bemerkte er, und es war nicht ganz klar, ob er es ernst meinte.

Die zweite Gruppe fuhr, offenbar von einem Morgenstrahl getroffen, gähnend, blinzelnd und zugleich entsetzt auf. Jetzt ist es Zeit! stand darunter. »Niemand hat noch herausbringen können«, sagte er, »wo sie sich tagsüber aufhalten. Wem es gelänge, ein Nest von Kobolden auszuheben und sie in einem Käfig morgens um zehn Uhr auf dem Marktplatz zu zeigen, der brauchte kein Majorat mehr zu erben.«

Rita lachte, der Mönch sah ihn forschend an. »Wie kommen Sie auf dergleichen?« fragte er mit bohrenden Augen.

»Das sind gute Freunde von mir. Einer von dieser Gesellschaft wohnt sogar in einem Zimmer, in dem ich manchmal arbeite. Er hockt auf meiner Druckpresse und lacht mich an. Ihn hab ich aber noch nie gezeichnet, ich fürchte, er würde mir's übelnehmen.«

Der dritte Mai 1808; Erschießung von Madrider Bürgern durch die Franzosen
Gemälde. Madrid, Prado

Der Blick bohrte noch mehr. Dann sagte der Pater, wieder in jener etwas unbehaglichen Langsamkeit, ihm scheine, Francisco sehe mehr als er selbst.

Ein drittes Blatt stellte einen mit langem Rock, Kniehosen und Schnallenschuhen bekleideten Mann dar, der an einem Tisch zusammensank, sich das Gesicht mit den Händen bedeckend. Ein Gewimmel von Fledermäusen und Eulen umdrängte ihn, mißgebildete, in den Köpfen halb vermenschlichte Wesen. Der Tisch, auf dem das Handwerkzeug des Radierers zu erkennen war, trug die Inschrift: Der Traum der Vernunft bringt Ungeheuer hervor.

»Was bedeutet das?« fragte Bavi.

»Phantasie ohne die Brille der Vernunft schaut solche Geschöpfe. Es sind nicht gerade Wunder der Kunst, aber ...« Er beendete den Satz nicht.

»Wer ist dieser Mann?« forschte Bavi weiter.

»Das sehen Sie nicht?« grinste Francisco, »das sind Gliedmaßen, Kleider und Haare eines gewissen Kammermalers Seiner Majestät.«

»Wenn Sie nicht so berühmt wären«, ließ sich die schöne Schauspielerin vernehmen, »würde ich wirklich sagen, das sei alles dummes Zeug.«

Es ist doch meine Berühmtheit, von der sie angezogen wird, dachte er, – aber schließlich brauchen mich die Gründe nicht zu kümmern. Er lächelte ihr vertraut zu.

»Wohnt eines von diesen Tieren gleichfalls in Ihrem Zimmer?«

Auf diese Frage des Mönchs preßte Francisco den Mund zusammen, schloß halb die Lider und zuckte die Achseln. Es fehlte in diesem Augenblick wenig, daß er selbst einem jener Fledermausdämonen geglichen hätte.

»Ich will Ihnen ein ernsthaftes Anerbieten machen, Señor de Goya: Wir haben in unserem Kloster einen ausgezeichneten Teufelsbeschwörer. Den will ich Ihnen schicken. Er versteht Dämonen nicht nur aus Zimmern und Häusern zu vertreiben, sondern auch aus Menschen.«

Francisco erhob abwehrend die Hand. »Um Himmels willen, Pater – ich dulde nicht, daß sich jemand eindrängt. Es könnte sein, daß Ihr Konfrater allzu gründlich die Luft reinigt und ich nachher ins Leere schaue.«

Bavi schüttelte den Kopf. »Wie Sie wollen«, sagte er dann, »vielleicht rufen Sie uns eines Tages doch.«

Rita fühlte sich von dem Gespräch bedrückt und schaute immer wieder von dem seltsamen Selbstporträt auf Francisco und von Francisco auf den Mönch. Um einen Rückhalt zu finden, ließ sie sich jetzt von der Anwesenheit des geistlichen Gewandes in kirchliche Gedankenkreise ziehen. »Ich werde einige Rosenkränze für Sie beten«, sagte sie mit kindlich-ernster Stimme, »und dann – ist es nicht San Roque, den man in solchen Nöten anruft?«

»Versuchen Sie es, Señorita, versuchen Sie es ruhig«, antwortete Bavi in väterlichem Ton und streichelte ihre rechte Hand.

Sehr zweifelhaft, ob er daran glaubt, überlegte Francisco und strich Rita übers Haar.

Schade, daß man so selten von zwei Männern zugleich Liebkosungen empfängt, dachte sie.

Drei Stunden später streiften Francisco und Bavi durch ein verrufenes Viertel. Hier befand sich der größte Teil jener Einrichtungen, die die Stelle der von der Regierung verbotenen Bordelle einnahmen: kleine Varietés mit käuflichen Tänzerinnen sowie Rendezvoushäusern, die ihre Zimmer stundenweise vermieteten und hinter dem Rücken der Polizei auf Wunsch für Mädchen sorgten.

In der Nähe eines dieser Treffhäuser machte der Mönch halt. »Es ist keines der vornehmsten«, sagte er.

Zu beiden Seiten der Türen befanden sich Laternen. Bavi zog seinen Begleiter in einen von undurchdringlichem Schatten verschleierten Winkel. »Wenn wir keinen Erfolg haben sollten, so wissen Sie jetzt den Platz und können es ein anderes Mal ohne mich versuchen.«

Ein Paar kam aus dem Haus und verabschiedete sich an der Tür.

Zwei Mädchen, billig und herausfordernd gekleidet, traten ein. Etwas später ein eleganter junger Mann und dann noch einer, beide eilig, man sah ihnen an, sie hätten sich, würde es die Jahreszeit nicht verboten haben, gerne in Mäntel mit hochgeschlagenen Kragen gehüllt.

»Sie sind pünktlich«, stellte Francisco fest.

Bavi legte den Finger auf den Mund.

Vor einem benachbarten Haus gab es Streit. Es ging offenbar um die Bezahlung. Eine beschwichtigende Stimme mischte sich ein.

Ein alter Herr näherte sich den beiden Laternen mit etwas schleifenden Schritten. Die Tür war aus irgendeinem Grund verschlossen worden, er mußte klopfen. Gleich nach seinem Eintritt kam eine Dienerin heraus und verschwand in der Nacht.

Sie sahen sie gerade noch mit einem üppigen Weib zurückkommen, als ihre Aufmerksamkeit durch eine andere Gruppe in Anspruch genommen wurde. Es schienen zwei Zofen zu sein, die sich mit zwei nicht mehr jungen Männern, etwa aus der Schicht der Handwerker, zusammengefunden hatten.

Francisco fühlte seinen Arm von der Hand des Mönchs gepreßt und schoß angestrengt scharfe Blicke in den Umkreis der Lichter.

Die vier kamen näher.

Die Frauen waren sehr geschminkt.

Er glaubte zu erkennen, zweifelte und wurde sicher. Wurde sicher, daß die eine davon die Königin war.

 

Barbaros!
Radierung. Aus den Desastres de la Guerra

Ein andermal, an einem Morgen, fuhren die beiden in Franciscos Wagen – um kein Aufsehen zu erregen – nur in die Nähe ihres Zieles. In den Straßen wurden eben die Girlanden abgenommen, unter denen Manuel Godoy in Madrid eingezogen war. Er hatte in Basel von den französischen Revolutionären einen für Spanien nicht ungünstigen Frieden erhalten – nicht durch Geschicklichkeit im Verhandeln, sondern weil die Sieger von vornherein zur größten Mäßigkeit entschlossen waren. Der König aber ehrte ihn durch neue Titel, die des Principe de la Paz, des Friedensfürsten, und des Fürsten von Basano, verlieh ihm die Einkünfte einer weiteren großen Staatsdomäne sowie das Recht, sich bei Feierlichkeiten einen Herold voranschreiten zu lassen, und befahl einen festlichen Empfang, in den sich freilich drohende und höhnische Rufe des Volkes mischten ...

Francisco wurde als Begleiter des Todeskämpfers ohne weiteres in das ärmliche Gebäude eingelassen, in dem eine ziemliche Anzahl von Geisteskranken männlichen Geschlechts eingeschlossen und aus dem Ertrag einer milden Stiftung gepflegt wurde. In der Nähe des Hauses waren Schreie zu vernehmen gewesen, im Innern verstärkten sie sich und brachen nun aus einem ununterbrochenen dumpfen Stimmengewirr hervor. Die Beklemmung, die Francisco unter dem Eindruck dieser Laute fühlte, wäre noch schlimmer gewesen, wenn ihn nicht selbst jetzt die Genugtuung, daß er sie überhaupt höre, erleichtert hätte. Die Gänge rochen nach Menschendunst.

Bavi, der sich auskannte, führte ihn in einen großen Keller, den ein Aufseher öffnete. Wieder solch ein heilloses Verließ! – war der erste Gedanke beim Eintreten – die Kranken, die Gefangenen, die Irren, alle sperrt man in unterirdische Gewölbe, um vor ihnen sicher zu sein ... Sie blieben in der Nähe der Tür stehen.

Mindestens vierzig Männer befanden sich in dem vollkommen kahlen Raum. Einige lagen oder kauerten auf dem Boden, andere drückten sich in dunkle Ecken, eine Anzahl ging aufgeregt umher. Nicht einer war normal gekleidet, niemand schien die Kranken daran zu hindern, sich ein ihren Wahnideen entsprechendes Kostüm zurechtzumachen, das freilich bei den meisten nur aus wenigen Fetzen bestand, mehrere waren nackt. Nur wenige schwiegen.

Francisco unterschied bald einige der seltsamsten, erschütterndsten Gestalten und beobachtete sie. Bavi gab ihm Erklärungen. Beide Besucher blieben vorläufig unbemerkt.

Ein am Boden Sitzender, mit einem Lendenschurz bekleidet, trug um den Hals ein Band, von dem eine Spielkarte auf die muskulöse Brust niederhing, und auf dem Kopf ein aus Draht gebogenes Gestell, das einer Mitra glich. Er verdrehte gräßlich die Augen, hob segnend die Rechte und sprach dazu die Trümmer religiöser Formeln.

Sein Nachbar, der gleichfalls am Boden sitzend an einem Pfeiler lehnte, trug ein paar Karten wohl desselben Spiels als Krone um sein dichtes schwarzes Haupthaar gebunden, ein Stück Holz diente ihm als Szepter. Er gab bleichen, elenden Gesichts singende Rufe von sich, aus denen sich ergab, daß er sich für Spaniens König hielt.

Um die beiden und dann wieder um andere Gruppen bewegte sich mit stampfenden Schritten und Fechtgebärden ein nackter Jüngling, der sich einen alten Offiziersdreispitz über den Kopf gestülpt hatte, und erzählte mit brüllender Stimme kriegerische Heldentaten, auf die niemand hörte. Es hatte den Anschein, als gebe er sich diesen Kraftübungen schon stundenlang hin, es ging immer weiter, ohne daß er erlahmte.

Ein anderer mühte und mühte sich, an seinem Kopf ein paar Kuhhörner zu befestigen. Neben ihm stöhnte und schluchzte eine Gruppe Betender, sie knieten, warfen sich zur Erde, schlugen sich die Brust. Es war das grauenhafte Zerrbild eines Ringens um die Nähe Gottes.

Wie tief und wild ist die Sehnsucht dieser Menschen, die Schranken des Erdendaseins zu durchbrechen, ging es Francisco durch den Sinn. Ihr Kampf ist leer, irr, aussichtslos, sie steigern sich nur immer abgründiger in Krankheit und Verzweiflung hinein. Wären sie gesund – niemals könnten sie so viel Kraft und Inbrunst aufbringen. Das ist die auf die Spitze getriebene Tragik des Menschenschicksals. Dies alles, was hier geschieht, offenbart dem, der Augen hat, der Schicksale nacktes Gerippe. Ist denn, wer in der Welt draußen, in der von ihrer Gesundheit überzeugten Welt, als König gilt, wirklich mehr König als dieser arme Teufel, der nur sich selbst dafür hält? Der gesalbte Bischof mehr Bischof? Der goldbetreßte General mehr General?

Jetzt bemerkte einer der Betenden den Mönch, ging auf ihn zu und rief: »Hilf uns Christus anrufen, ehrwürdiger Vater!«

Bavi zeichnete das Kreuz in die Luft wie in beschwörender Abwehr, während der Aufseher den Kranken beiseite schob, der nun eine hohle und blecherne Lache aufschlug.

Francisco sah den Mönch fragend an.

»Es ist nicht Christus, den sie anrufen«, kam die Antwort. »Gott hat ihnen die Fähigkeit genommen, etwas von ihm zu wissen. In Wahrheit ist es der Teufel, zu dem sie beten.«

Francisco konnte seinen Zweifel nicht unterdrücken.

»Stellen Sie sich vor, ein Priester würde wirklich in Gemeinschaft von Narren religiöse Handlungen vornehmen! Er würde die heilige Religion und sich selbst beschmutzen.«

»Trotzdem erscheint mir die Verweigerung geistlicher Hilfe an Menschen, die sie verlangen, hart – besonders hart im Mund des Todeskämpfers.«

»In manchen Fällen ist es möglich, ihnen in der Sterbestunde beizustehen. Auch kann man für sie beten. Wenn Ihnen so viel an dieser Hilfe gelegen ist, können auch Sie für diese Kranken bitten.«

Ich habe ihn gereizt, dachte Francisco. Noch nie hat er so mit mir geredet.

Und es kam nochmals, verstärkt: »Es wäre ein schöner Erfolg unserer Zusammenkünfte, wenn Sie sich zu solch einem Gebet entschließen würden.«

Francisco konnte sich mit diesem erstaunlich salbungsvollen Satz nicht mehr beschäftigen, denn unversehens drängte sich wieder ein Kranker an ihn und Bavi heran.

Es war ein stattlicher Mann, dessen halbwegs gepflegter wallender weißer Bart von der Unreinlichkeit und Zerschlissenheit seines übrigen Aufzugs seltsam abstach. Die Besonderheit seines Kostüms bestand in einem Federschmuck, den er sich nach Art indianischer Häuptlinge um die Stirn gebunden hatte. Er war von einer Schar Getreuer umgeben, denen er immer von neuem die Hand zum Kuß bot. »Ich bin Moses«, schrie er, »der die Zehn Gebote von Gott empfangen hat. Ich verlange, daß ihr mir huldigt, statt das Goldene Kalb anzubeten.«

Der Aufseher erhob drohend den Stab. Der vermeintliche Moses wich zurück und rief zugleich gellend zur Buße auf. Seine Anhänger warfen sich flach auf den Boden und leckten mit der Zunge den Staub von den Steinplatten. Es war ein furchtbarer Anblick. Inzwischen aber hatte der abgewiesene Beter seine Genossen aufgewiegelt und forderte nun an ihrer Spitze den Mönch von neuem mit flammenden Augen auf, den Gebetsübungen vorzustehen.

»Sie werden unruhig«, sagte Bavi und zog Francisco zur Tür hinaus, die der Aufseher sogleich schloß.

»Bleiben sie auch bei Nacht hier unten?« fragte Francisco den Mann.

»Nur ein Teil, Euer Gnaden, sie werden in mehrere Räume verteilt. Für die, die unten bleiben, wird am Abend Stroh aufgeschüttet. Einige, die nachts keine Ruhe geben, kommen in Einzelzellen. Wir haben auch tobsüchtige Narren, die werden Tag und Nacht in der Zelle gehalten. Sie sind gefährlich, und in Fesseln kommen nur die allerschlimmsten – man ist bei uns sehr mild. Aber besuchen kann man keinen von denen, sie haben viel Kraft, und die Gefesselten spucken. Ein Tier ist besser als sie.«

Francisco gab ihm beim Gehen eine Münze.

»Sie sehen bleich und niedergeschlagen aus«, sagte Bavi, während sie hinausgingen, »vielleicht war es doch zuviel für Ihre Konstitution. Bedenken Sie, daß solche Dinge um kein Haar besser oder schlimmer werden, ob Sie sich davon bewegen lassen oder nicht.«

Francisco schwieg.

Bavi machte, es war eine Stunde vor Mittag, den Vorschlag, ein Glas Manzanilla zu nehmen. Francisco war froh, daß er einen Grund zur Ablehnung hatte: Repräsentationspflicht in der Akademie. Der König, der anläßlich der Rückkehr Godoys einige Tage in Madrid war, hatte auf halb zwölf Uhr seinen Besuch angesagt.

Der Todeskämpfer schlug sich in eine Gasse.

Der königliche Kammermaler stieg in seinen Wagen, fuhr nach Haus, legte Hoftracht an, fuhr wieder ab.

Da der Direktor der Akademie der Edlen Künste San Fernando, Don Francisco Bayeu y Subias, vor etlichen Wochen einem Gallenleiden erlegen und der Posten noch nicht wieder besetzt war, stand der Schwager des Verstorbenen, Don Francisco de Goya y Lucientes, in seiner Eigenschaft als stellvertretender Direktor an der Spitze der Kommission, die den König am Wagenschlag zu empfangen hatte.

Ein Zweck des königlichen Besuchs war nicht angegeben worden, man vermutete, daß Don Carlos, der das Haus noch niemals betreten hatte, die Gemäldegalerie zu betrachten oder wenigstens zu durchwandern beabsichtigte, um so mehr, als sich darin auch einige Porträts aus der Reihe seiner Ahnen befanden.

Ein Kammerherr, mit anderen seidenen und vergoldeten Würdenträgern von einer Hofkutsche wie von einem Füllhorn ausgeschüttet, traf, die Richtigkeit jener Vermutung bestätigend, eilige Anordnungen. Und schon entstieg auch der König, ein wenig schwerfällig, einer achtspännigen Galakalesche. Seine großen Ordenssterne reflektierten das Sonnenlicht wie Spiegelglas und blendeten die ihn unterwürfig Empfangenden – ein unerwartetes Hindernis, das freilich Anlaß war, sich noch tiefer zu verbeugen.

Alles ging so ziemlich, wie es vorauszusehen war. Der stellvertretende Direktor führte den erlauchten Gast, Mariano Maella, jener Kammermaler mit dem Kindergesicht, und der alte Manuel Alvarez folgten mit den Höflingen in gemessenem Abstand, die übrigen Mitglieder der Akademie blieben im großen Sitzungssaal versammelt, den der König vorläufig nur kurz durchschritten hatte. Don Carlos interessierte sich, das erkannte Francisco schnell, nur für die Bilder großen Flächeninhalts, außerdem für die Porträts seiner verblichenen Vorgänger und Verwandten ohne Rücksicht auf das Format. Vor diesen gab er mehrmals selbst in gnädigster Stimmung kurze Erläuterungen über ihre hauptsächlichsten Kriege, stets mit genauer Jahreszahl, und fügte – dies nun zur Überraschung der Umstehenden – zweimal die Worte bei: »Sie haben zuviel Krieg geführt, ich bin froh, daß wir jetzt zum Frieden gekommen sind.«

Dann geschah die zweite Überraschung.

Als Don Carlos in den großen Sitzungssaal zurückgekehrt war, hielt er angesichts des Häufleins von Malern, Bildhauern, Architekten die Schritte an. Ein Höfling überreichte ihm kniend eine Mappe aus rotem Leder. Der König klappte sie auf und verlas daraus, Francisco zugewandt, diese Ansprache, rücksichtsvollerweise wieder mit dröhnender Stimme:

»Meine Herren! Ich überreiche der Königlichen Akademie der Edlen Künste, die sich nach unserem großen, heiligen Vorgänger San Fernando nennt, einige Zeichnungen zum Geschenk. Sie sind Erzeugnisse meiner Muße und mögen hinter den in diesem Hause aufbewahrten berühmten Meisterwerken nicht unbeträchtlich zurückstehen, aber sie bedeuten einen Tribut, mit dem ich die edlen Künste ehren will. Sie sollen allen denen, die mich schätzen, als Ansporn dienen und Sie, meine Herren, zu vollendeteren Werken anregen.«

Während er diese Mappe einem Knienden zurückgab, nahm er eine andere, größere in Empfang und legte sie Francisco in die Hände, der die Knie wenigstens zu beugen verpflichtet war.

Er mußte den tiefgefühlten und ehrerbietigen Dank aus dem Stegreif darbringen, aber er kannte die höfischen Formeln. Die Akademie, sagte er, werde es als eine hohe Aufgabe betrachten, dieses Kleinod zu hüten, um so mehr, als alle Kenner wissen, mit welch großem Erfolg Seine Majestät die Zeichenkunst als Liebhaber ausübe.

Dabei wußte er selbst nur aus einer Äußerung Maellas, daß sich Don Carlos neuerdings gelegentlich die abendliche Langeweile mit Papier und Stift vertreibe.

Sein Amt führte ihn nochmals an den königlichen Wagenschlag.

Als er in den Saal zurückkehrte, fand er die festlich gekleideten Mitglieder der Akademie schon damit beschäftigt, sich gegenseitig die Blätter aus der Hand zu reißen. Einige konnten ihre spöttische Miene nicht im Zaum halten, aber zu sprechen wagte keiner, weil sie einander doch nicht ganz trauten.

Die Zeichnungen stellten Hasen, Hirsche und andere jagdbare Tiere in steifen und unnatürlichen Stellungen dar. Francisco erinnerte sich eines Jagdwerks, mit dessen Illustrationen sie deutliche Verwandtschaft aufwiesen.

Wenn ich konsequent sein wollte, lachte er in sich hinein, müßte ich auch hier feststellen, daß der, der sich irrtümlich für einen guten Zeichner hält, es um gar nicht soviel weniger ist als einer, den die Welt dafür anerkannt. Als zum Beispiel ich...


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