Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5

König Karl IV. von Spanien mit seiner Familie
Gemälde. Madrid, Prado

Die sterblichen Reste Carlos' des Dritten wurden mit großem Pomp beigesetzt, von dem dunklen Marmorsarkophag umschlossen, der seit zwei Jahrhunderten wartete, kamen sie in der Herrschergruft des Escorial zu ruhen, in der Nische, die seit dem Tod des vorangegangenen Königs an der Reihe war. Sie glichen sich alle ganz genau, diese dunklen Marmorsarkophage des Escorial, nur die, die einen Inhalt hatten, unterschieden sich durch den in Goldbuchstaben eingemeißelten Namen: Carlos der Erste, der als Kaiser der Fünfte hieß, Felipe der Zweite, Felipe der Dritte und weiter, weiter bis auf Carlos den Dritten. Und nun erwuchs der nächsten Nische, dem nächsten Sarkophag, die seit zwei Jahrhunderten warteten, ihr ungeschriebenes und ungesprochenes Recht, das wie das schicksalsgraue Zerrbild eines Thronfolgerechtes war: das Recht auf den einbalsamierten Leichnam Carlos' des Vierten, des nunmehr gekrönten. So wird sich ein Glied ums andere in die Kette fügen, bis kein spanischer König mehr sein wird.

 

Es war noch kurz vor dem Tode des alten Königs gewesen, daß Francisco den Auftrag bekam, für die Gemächer, die der damalige Prinz von Asturien im Escorial zu bewohnen pflegte, Wandteppiche eigenen Entwurfs aus den Erzeugnissen der königlichen Weberei auszusuchen, und das Glück hatte, mit zwei Jagdszenen aufwarten zu können. Das wußte Don Carlos zu schätzen: als die bevorstehende Krönung Anlaß zu Gunstbezeigungen bot und Graf Floridablanca an diese Verdienste des stellvertretenden Direktors der Akademie San Fernando erinnerte (dem er noch immer das Honorar für sein Porträt schuldete), wurde die gnädige Ernennung zum königlichen Kammermaler vollzogen. Der Graf war übrigens seinerseits durch einen devoten Besuch des Ersten Kammermalers zu seinem Vorschlag bestimmt worden: Da keine Gefahr der Überflügelung mehr bestand, war des kränklichen Don Francisco Bayeu milde gewordener Familiensinn dem Schwager zu allen Stellungen zweiten Ranges gerne behilflich.

Als der Erhöhte das Dekret in Händen hielt und ihn so der Name Don Francisco Goya von zwei Titeln umrankt anblickte, schoß es ihm in alle übermütige Freude hinein durch den Kopf: Hier fehlt noch etwas, hier muß sich noch etwas ändern, damit diese Schranzen und Oberschranzen mich als ihresgleichen anerkennen. Warum geht mir das erst jetzt auf? Bei allen Märtyrern! Im Elternhaus ist mehr als einmal von adligen Ahnen die Rede gewesen – warum habe ich mich nie darum gekümmert? Dem muß und muß man nachgehen können ... Er überlegte und fand, da komme nur einer als Helfer in Frage: der eine, der in den Familienverhältnissen der Umgegend von Zaragoza am besten Bescheid wußte und zu den die Kirchenbücher verwaltenden Geistlichen brauchbare Beziehungen unterhielt: der gute Martin Zapater.

Noch in der gleichen Stunde schrieb er ihm einen Brief.

»Stelle genealogische Nachforschungen an«, bat er ihn, »und sorge unter allen Umständen dafür, daß ich mich als Hidalgo entpuppe. Was das ritterliche Herz und das vornehme Benehmen anlangt, werde ich dir keine Schande machen. Um die Wahrheit zu sagen: ich verdiene viel Geld und gebe auch viel aus, einmal, weil mir das Freude macht, und sodann, weil ich hier sehr bekannt bin. Statt meines zweirädrigen Karrens, der ja wirklich ein Prachtstück war, habe ich mir jetzt einen mit vier Rädern erstanden. Ich bin gespannt, was man bei euch darüber sagt.« Und damit der Jugendfreund keinen Anstoß nehme an so viel Vornehmheit, schloß er den Brief als der unveränderte und unveränderliche Francho: »Hast du noch alle Zähne? Trägst du einen Bart und eine Brille? Wächst deine Nase gut? Verstehst du auch noch stramm das Wasser abzuschlagen? – Mich, der ich an der Last meiner dreiundvierzig Jahre schwer trage, würdest du kaum mehr erkennen, höchstens an der Stumpfnase. Gute Nacht, Friede auf Erden und Wohlgefallen in Ewigkeit, Amen.«

Die Königskrönung, der Francisco sein neues Amt verdankte, sollte in Madrid volle acht Tage lang durch Hof- und Volksfestlichkeiten begangen werden. Wer dachte noch an jenen dunklen, wartenden Sarg? Großer Pomp wurde vorbereitet. Don Carlos unterschrieb den Befehl zur Einberufung der Cortes, um die sich seit drei Jahrzehnten niemand mehr gekümmert hatte, zur Ausführung einer Zeremonie, der Huldigung an den neuen Prinzen von Asturien, mochten sie recht sein. Viel Geld wurde ausgeworfen. In den Hauptstraßen besserte man die Häuser aus oder gab ihnen neue Fassaden, man baute Triumphbogen, Säulenhallen und was sonst noch Aufzügen und Empfängen den gebührenden großartigen Rahmen geben konnte.

Schließlich standen die alten und neuen Gebäude im fröhlichen Schmuck von Fahnen, Wimpeln, Blumen, Girlanden und von zahllosen bunten Öllampen, die die Feststimmung in die Nächte hineintrugen. Schaulustiges, heiter erregtes Volk strömte unaufhörlich durch die Straßen, an den Infanten, Granden, Prälaten, Generalen, Höflingen, die in geschlossenen Aufmärschen oder in vereinzelten Karossen zerstreut als prächtig kostümierte Schauspieler der Komödie auftraten, ergötzte es sich ebenso harmlos wie an den vielfarbigen Kulissen. Daß dieses Geld besser den Armen gegeben wäre, wurde nur von fanatischen Nörglern in den verborgensten Winkeln getuschelt, an der Oberfläche bildeten höchstens diejenigen eine Partei der Unzufriedenen, die bei der öffentlichen Verteilung von Wein und Braten infolge ihrer eigenen Ungeschicklichkeit zu kurz gekommen waren. Selbst die Tatsache, daß der durch Unruhen, die in Barcelona wegen einer Steigerung des Brotpreises ausgebrochen waren, nervös gewordene Ministerrat in der Nähe der Hauptstadt Truppen konzentriert hatte, kümmerte kaum jemanden. Man war im ersten Augenblick etwas gekränkt über solches Mißtrauen, aber dann gewann die Lust, zu feiern, völlig die Oberhand.

Nein – in Madrid hätte sich in dieser gesegneten Woche kein Haufe zum Sturm auf das Staatsgefängnis zusammenfinden können. Die vor etlichen Monaten eingetroffene Nachricht, daß in Paris dergleichen geschehen sei und ein Parlament kleiner Bürger sich die Rechte einer Nationalversammlung anmaße, hatte keine Wirkung getan oder doch nur die einer vorübergehenden Kräuselung des Wasserspiegels. Auch bei Hof konnte man sich angesichts des treuen und anhänglichen spanischen Volkes abwartend verhalten. Der Vetter in Frankreich würde zur gegebenen Stunde die Zügel sicherlich wieder straffer anziehen ... Vorsichtshalber verbot Don Carlos dem Offizierskorps, das in Spanien zu allen Zeiten als ein Herd politischer Neuerungssucht galt, von den Pariser Vorgängen überhaupt zu sprechen ...

Mehr als von der Auffahrt zur Krönung selbst bekam die Menge von dem Festzug zu sehen, der sich am zweiten Tag zur Kirche San Jerónimo bewegte. In Gewändern aus der Zeit Felipes des Zweiten, dessen Staatskarossen im Zug mitfuhren, huldigten die Spitzen des Adels und mit ihnen die der Geistlichkeit dem Prinzen von Asturien. Man tat sich in allen Bürgerhäusern wichtig mit den Zahlen: zwei Erzbischöfe und zehn Bischöfe, einundfünfzig Granden und dreißig Titel von Kastilien schwuren dem Thronfolger, dem sechsjährigen Knaben Fernando, Treue. Dem Eid der Großen schloß sich der der Cortes an, die sich aus den Vertretern von siebenunddreißig Städten zusammensetzten. Als sie so vorüberzogen, sah ihnen niemand an, wie erbittert sie untereinander um die Reihenfolge ihres Auftritts gekämpft hatten.

Maria Luise, Königin von Spanien
Gemälde. Madrid, Privatbesitz

Dann kam der Teil der Festlichkeiten, der dem Volk über alles andere ging: auf dem Marktplatz, in einer ungeheuren Arena also, gab es Stierkämpfe in großem Stil. Gestern hatten nach alter Sitte zwei Hidalgos, unterstützt von geübten Picadores, Capeadores und Banderilleros, den Degen geführt. Heute sollte der neuen, populären Gewohnheit Rechnung getragen werden: man erwartete berühmte Matadore. Zwar waren die um drei Seiten des Platzes errichteten Tribünen zum großen Teil für den Hof reserviert, aber außer dem, was übrigblieb, gab es auf der vierten, der Sonnenseite, eine Schräge für reichliche Stehplätze, und wer gar in den umliegenden Häusern wohnte oder Verwandte hatte, dem standen an den Fenstern und auf den Balkonen die glänzendsten und bequemsten Plätze zur Verfügung. Man schätzte, daß jeder Corrida vierzigtausend Zuschauer anwohnen konnten.

 

Francisco verfügte über eine Loge. Er erwartete mit Pepa und den Gästen die Ankunft des Königspaares und den Beginn des Schauspiels – in ausgezeichneter Laune. Der junge Dichter Leandro de Moratin war da, Verfasser erfolgreicher Komödien, der Kunstschriftsteller José Ceán Bermúdez mit seiner Gattin, der Schauspieler Isidro Maiquez, der Maler Agustin Esteve, genannt der Kapaun, Genosse römischer Tage. Und da Francisco nicht ungern seinen Verwandten zum Bewußtsein brachte, was er bei Hofe galt, hatte er als ihren Vertreter Vetter Pablo geladen, den Raben vom Magistrat.

Pepa trug ein Kleid aus schwerer gelber Seide und den schwarzen Spitzenschleier, den der hohe, auf ihr rötliches Haar aufgesteckte Prunkkamm hielt. Ihr schmales und schmallippiges Gesicht war blaß, ihre Haltung aufrecht und sicher, kühl und eigensinnig blickten ihre schönen grauen Augen. Franciscos Anzug paßte sich jener Mode an, die ihr Vorbild an den Stutzertypen des Madrider Volks, den Majos, nahm und Wert auf Brokatweste, Seidenmantel, Spitzenkrawatte, Filigranknöpfe legte. Sie brachte einen seltsamen Kreislauf zum Ausdruck: während der Majo dem Aristokraten die Manieren abguckte und, um es ihm gewiß gleichzutun, alles übertrieb, war die ganze gute Gesellschaft plötzlich von der Laune besessen, sich nach Art der Majos und Majas zu tragen. Man hatte keine eigenen Ideen mehr, erklärte sich, ohne es recht zu wissen, lächelnd für bankrott und erneuerte, wenn nicht das Blut, so doch die Art sich zu gehaben aus Quellen, die man mit mehr oder weniger Grund für gesund hielt.

Zahlreich mischten ringsum die Majokostüme ihre Buntheit mit der der Hof-, Gesandten- und Offiziersuniformen, leuchtender, nur von dünnen schwarzen und weißen Mantillas gedämpft, boten sich die Mieder, weiten Röcke und Schals der Damen dar, rotgelbrote Fahnentücher und kostbare Teppiche hingen über die Estraden und über die Balkone der Häuser und schlugen alles an Farbenglanz. Ganze Chöre von Stimmen schwirrten. Ringsum rauschten die Fächer mit pompösem Ton auf und zu, bewegt von den ihre Geschicklichkeit lässig verbergenden Händen der Frauen und Mädchen.

Fanfaren. Vom Rufen und Händeklatschen der Zehntausende empfangen, betreten Don Carlos und Doña Maria Luisa und unmittelbar nach ihnen die übrigen Mitglieder des Herrscherhauses Spanien-Bourbon die große, mit dem Königswappen geschmückte Loge.

Neue Fanfaren. Ein Tor geht auf. Vom berittenen Alguacil geführt, zieht die Cuadrilla der Toreros ein: Männer in knapper Kleidung, voran die Matadore mit entblößtem Degen, dann die Banderilleros mit den kurzen bunt umwickelten Spießen, die Capeadores mit den Purpurmänteln, zu Pferd die Picadores mit ihren Lanzen, hinter ihnen das bunte Maultiergespann, das die getöteten Stiere aus der Arena schleifen wird.

Huldigung vor dem Königspaar, Umzug durch den Sand des Kampfplatzes und nochmals Fanfaren. Während sich die für den Beginn der Angriffe auf den ersten Stier bestimmten Toreros in der Arena verteilen, hält der Alguacil nochmals mit gezogenem Hut vor der königlichen Loge, Don Carlos selbst wirft ihm den von einem Kammerherrn auf rotem Samtkissen dargebotenen Schlüssel herab, mit dem sogleich der Stierzwinger geöffnet wird.

Ein schwerer andalusischer Stier rast aus seinem dunklen Verlies in die Helle und schlitzt sogleich in dumpfer Wildheit einem Pferd mit den Hörnern den Leib auf. Einem zweiten, einem dritten. Die Picadores haben ihn mit den Lanzen in die Sehnen des Genicks getroffen, aber sie stürzen mit den Gäulen, arbeiten sich unter ihnen hervor, während schon die Capeadores die gefährlichen Mantelspiele beginnen, an die der schwerfällige Stier nun seine Kräfte wendet.

Vierzigtausend Madrilenen kümmern sich um nichts mehr in der Welt als um die Finten der Mantelschwinger und um die Hörnerstöße, mit denen der Stier seine Wut in die von den Purpurtüchern trügerisch drapierte Leere verpufft.

In Franciscos Loge nimmt man ebensoviel Anteil wie auf irgendeinem anderen Platz. Der Gastgeber erläutert die Feinheiten oder Fehler gewisser Bewegungen. Pepa blickt hochmütig und lächelt etwas kühl, wenn Francisco sehr lebhaft wird, aber dann können auch ihre Augen in Momenten hoher Spannung das leidenschaftliche Mitgehen nicht verleugnen. Die müden Züge bekommen den eigenartigen Reiz einer unnahbaren Frau, aus der plötzlich Flammen hervorschießen.

Der gefeierte Matador Costillares, ein anmaßend blickender junger Mensch mit grausam-lüsternem Mund, läßt sich selbst herbei, dem Stier das erste Paar widerhakiger Spieße in den Nacken zu stoßen. Sie gehen nicht tief, haben nur – diesmal und immer – die Aufgabe, den Stier durch Blutverlust und Schmerzen langsam zu schwächen. Francisco kritisiert den Stoß. Isidro Maíquez lächelt: »Aha – Hillo-Partei!« Denn die regelmäßigen Besucher der Corridas sind in zwei Lager gespalten: hie Hillo, hie Costillares. Isidro gibt seinen drei Worten etwas Schimmerndes und weiß, daß er schön aussieht.

»Wollen Sie mir eine Bemerkung erlauben, Don Isidro«, mischt sich der Vetter Pablo ein, »Partei oder nicht – die Bewegungen, mit denen die Banderillas gegeben wurden, waren ohne Stil, mit so viel Aufwand von Pathos versetzt man vielleicht den Todesstoß, aber nicht solche Kleinigkeiten.« Seine Stimme krächzt, und die schwarzen Rockschöße hängen ihm vom Stuhl wie Rabenflügel.

»Gut gesagt, Pablo – der Heldenspieler Don Isidro liebt eben das Heroische.« Francisco sagt es mit freundschaftlichem Spott und fügt ritterlich hinzu: »Jeder deiner Schritte, Isidro, ist mehr wert als hundert der seinigen.«

Während schon ein anderer Banderillero dem Stier gegenübertritt, setzt Pablo die Behandlung des Themas fort, denn es ist ihm wichtig, daß er in diesem Kreis zu Wort kommt: »In der Tat hätte ich mehr Leichtigkeit und Grazie gewünscht, aber – man wird es einem begeisterten Leser der Schriften Voltaires nicht verübeln, wenn er die ganze Frage doch im Grunde nicht wichtig nimmt.«

Und er findet ein Echo: »Sie sind mein Mann«, sagt Bermúdez, »ich weiß zwar nicht, wie Voltaire über den Stierkampf gedacht hat – wahrscheinlich gar nicht, aber ich finde jedesmal von neuem: es sind barbarische Gewohnheiten, an denen wir Männer und Frauen von Geist hier teilhaben. Sie sind fürs Volk – nein, auch fürs Volk sind sie nicht gut.«

»Der eine findet die Corrida nicht wichtig, der andere barbarisch ... Warum seid ihr eigentlich gekommen? Geht lieber Billard spielen oder laßt euch in ein Nonnenkloster einschließen!« Francisco scherzt, aber er ist doch ein wenig verstimmt.

»Ich bin es meiner gesellschaftlichen Stellung schuldig, hier zu sein«, pariert Bermúdez mit leichter Selbstironie, während gerade der Stier das zweite Paar Spieße eingestoßen bekommt. Das schwere Tier schüttelt sich, schnaubt.

»Ich bin gar kein Verächter«, krächzt der Rabe, »sonst säße ich nicht trotz meiner Magenschmerzen hier, als philosophisch eingestellter Mensch wollte ich nur etwas über den relativen Wichtigkeitsgrad bemerken. Ich würde bedauern, wenn meine Objektivität mißverstanden worden wäre.« Er schaut während dieser Worte so stechenden Blicks in die Arena, als warte er trotz aller Objektivität nur darauf, bis das Opfer liegt. Um dann hinabzuflattern ...

Nach dem dritten Paar Banderillas und einem Trompetenstoß tritt Costillares mit tiefer Verneigung unter die Königsloge und weiht den Tod des Stieres unter dem Beifall derer, die seine Worte verstehen, »der anmutigsten Königin«. Er peitscht das blutende, gehetzte, nur noch auf seine Verteidigung bedachte Tier mit dem Scharlachtuch erneut zum Zorn auf, weicht ihm aus, hält es zum Narren. Als er sicher genug ist, daß es keine unvorhergesehene Bewegung mehr ausführen kann, breitet er das Tuch vor ihm in den Sand, kniet nieder, grüßt höhnisch mit dem Degen. Der Stier steht keuchend wie festgewurzelt. Das Volk applaudiert.

Wieder auf den Füßen, weist der Matador mit der Spitze seiner Waffe auf das Haupt des Stieres als Zeichen, daß er nun angreifen wird. Der Stier behält ihn im Auge, dreht sich in jede Richtung, die der Feind einnimmt. Schließlich kommt Costillares zum Stoß, doch trifft er weder tödlich, noch kann er den zur Hälfte eingedrungenen Degen zurückziehen. Einige pfeifen, aber ihre Kritik wird von Beifall erstickt. Der Matador empfängt einen zweiten Degen. Das Tier mit den geängstigten Augen – das Blut tropft ihm aus dem Maul – ist kein ernsthafter Gegner mehr. Wie viele unter den vierzigtausend sehen seine Leiden? Auch Francisco sieht sie nicht, er sieht nur den fehlerhaften Stoß, empfindet den zweiten, der das Werk vollendet, nicht als Gnadenstoß, sondern als halbwegs kunstgerecht geführt.

In seiner Loge beginnt die Diskussion von neuem. Nur einer der Gäste schweigt wie zuvor, beschränkt sich darauf, jedem Sprechenden unter dem Anschein freundlichen Interesses aufmerksam auf Gesicht und Hände zu schauen: der Komödiendichter Leandro Moratin. Er hat einen feinen schmalen Kopf mit großen dunklen Augen und nicht hoher, doch klarer Stirn. Fast scheint es, als sei er während der Degenstöße erbleicht, doch kommt es Francisco ihm gegenüber nicht in den Sinn zu spotten.

Ein neues Opfer galoppiert in die Arena, ein behendes jüngeres Tier.

Als die Szene der Picadores vorüber ist, vier Pferde grauenhaft verwundet sind, steigt Ramon de la Rosa, ein in Habana geborener Spanier von athletischem Wuchs, auf einen vor der Königsloge aufgestellten Tisch und läßt sich die Beine zusammenbinden. Die Capeadores locken den Stier dort hin, lassen sich von ihm verfolgen. Als er an dem Tisch vorüberläuft, schnellt sich der Kubaner über ihn hinweg, kommt zu Fall, erhebt sich rasch. Ein zweites, ein drittes Mal gelingt der Sprung.

Wieder wird der Stier mit den roten Mänteln beschäftigt. Der Matador, jetzt mit freien Beinen, nähert sich von rückwärts und schwingt sich mit einem mächtigen Satz auf den Rücken des Tieres, faßt es an den Hörnern, reitet. Es schüttelt sich, schlägt aus, doch er sitzt fest, trabt mit ihm durch die Arena. Als der Stier sich zu fügen scheint, läßt sich Ramon eine Gitarre reichen, spielt einen Tanz. Der Stier trägt ihn langsam durch die Runde. Vierzigtausend Madrilenen rasen.

Auch der gefährliche Rücksprung in den Sand läuft gut aus dank der geschickten Ablenkung des Stieres durch einen Capeador. Ramón tritt ab, kehrt auf dem Rücken eines edlen Pferdes zurück, ein Paar Banderillas in den Händen. Beifallsstürme prasseln als Vorschuß nieder.

Der Stier wendet sich gegen das Pferd, das ausweicht, aber nicht flieht. Es ist abgerichtet, scheint nur zu spielen. Als der Stier heftiger angreift, zittert es, versucht sich zu bäumen. Doch es gehorcht dem Reiter.

Die Jagd wird toll. Der Stier ist hinter dem Pferd her, das Pferd hinter dem Stier. Den Zuschauern stockt der Atem, sie sehen das zum erstenmal, und viele, denen die Corrida sonst nur ein erregender Kitzel ist, bangen nun doch um den Reiter, sogar um das Pferd. Zwei Banderillas sitzen schon.

Nach dem dritten Paar, immer unter ohrenbetäubendem Beifall, wird dem Matador sofort der Degen gereicht. Er verlangt dazu die Muleta, das rote Tuch, wirft sie über den Degen und läßt den Stier darunter durchsetzen, unmittelbar am Pferd vorüber. Der Stier ermattet, sucht eine Ruhepause. Sofort stößt der Matador zu. Der Stier steht, zittert, bricht zusammen. Erhält der Sicherheit halber vom Puntillero mit einem Messer den Genickfang.

Das Rasen der Zuschauer hat sich zum Orkan gesteigert. Hüte, Blumen, Früchte, Geldbörsen regnen in die Arena.

Das Königspaar lächelt etwas verlegen, denn es sieht sich völlig vergessen. Und wird vom Oberhofmarschall untertänigst daran erinnert, daß nunmehr eine Pause vorgesehen ist, erhebt sich, hält Cercle.

In einigen Logen des hohen Adels tut man dasselbe.

Francisco begibt sich mit Pepa in den Vorraum der Loge des Duque und der Duquesa de Osuna, in dem zahlreiche Besucher ab- und zugehen. Die Herzogin hat für den erfolgreichen Maler sofort eine Schmeichelei bereit, fragt nach seinem Urteil über Costillares' heutige Leistung, legt ihm nahe, Ramón de la Rosa zu malen, als Banderillero zu Pferd – »Niemand kann das malen als Ihr Gatte, Doña Josefa – beneiden muß man Sie, daß Sie seine Frau sind – und was hat Ihr Kleid für eine herrliche Farbe – wir sehen Sie doch am Sonntag bei unserem kleinen Fest ...« Und dann spricht sie zum nächsten, und Francisco tauscht Worte mit dem Marqués von Mancera und mit Doña Consuelo, der Marquesa, deren Blicke ziemlich unvorsichtig sind und ihn langweilen: sie müßte doch längst gemerkt haben, daß sie ihn nicht mehr interessiert. Und hier eine Verbeugung, dort ein Händedruck ... »Sie waren ja auch in San Jerónimo – man hat da einem Akt von historischer Bedeutung angewohnt ...« Und während Pepa verspätete Glückwünsche zur Ernennung ihres Gatten entgegenzunehmen hat, flüstert dem der Herzog den neuesten, sehr derben Witz ins Ohr. Und als sich an Osuna ein alter, geheimnistuerischer Staatsrat mit den letzten politischen Nachrichten aus Paris herandrängt – »Ich kann nur unter vier Augen sprechen« –, da entfernt sich Francisco mit Pepa, der er ein Zeichen gegeben hat, aus der Gesellschaft.

Die Salons der Herzoginnen von Osuna und von Alba rivalisieren. Francisco hat also guten Anlaß, auf einen Besuch auch in der Loge der Albas zu drängen. Pepa, so gerne sie ihre Zugehörigkeit zur Hofgesellschaft betont, willigt erst nach einigem Widerstand ein. Sie fühlt gegenüber der Herzogin etwas wie Unbehagen oder Abneigung, und der Grund dieser Empfindungen liegt – sie weiß es selbst noch kaum – in der gewissen Art, in der Doña Cayetana einmal in ihrer Gegenwart mit Francisco gesprochen hat, und in seiner Bereitwilligkeit, auf diese Art einzugehen. Josefa Goya y Bayeu ist weiß Gott dergleichen gewöhnt, aber ihre Resignation wandelt sich wieder einmal in Kampf – in einen stillen Kampf mit schwachen Mitteln freilich –, weil sie, die aus Instinkt früh, mitunter auch grundlos Mißtrauische, das Herannahen einer mehr als nur flüchtigen Gefahr zu spüren glaubt ...

Doña Cayetana spielt, während sie das Wort an eine devote alte Dame richtet, bis in die Fingerspitzen bewußt mit zwei Banderillas, die die Farben der Albas tragen, Blau und Gelb. Ihre Augen, an den Mitteilungen der Devoten durchaus beteiligt, sehen zugleich die Tür und jeden Eintretenden. Sie nickt aus der Entfernung Pepa fast kameradschaftlich zu. Francisco kann den Blick, wenn er sich nichts vormachen will, nicht auf sich beziehen.

Er bleibt stehen und beobachtet die spielenden Hände. Sie sind schlank, langfingrig, nach vorne sich verjüngend, doch nicht mager, sondern mit einer Andeutung zarter Fülle. Wie müßte eine Liebkosung dieser Hände erregen ... Nun scheinen sie ihm zwei nackte Körper, die einander suchen, locken, fliehen, berühren. Niemand außer mir, denkt er, sieht dieses schöne, schamlose Schauspiel, so wie es ist. Ob sie weiß, daß ich es sehe? Vorsichtig hebt er den Blick zu ihrem Gesicht. Sie schaut, ihm abgewandt, einem General auf die linke Epaulette ...

Es ist wieder dasselbe Kommen und Gehen, derselbe flüchtige Austausch von krampfhaft-erfreuten Begrüßungen, kleinen Frivolitäten, wichtig vorgebrachten Nichtigkeiten. Aber die Leere und Konvention solchen Tuns erhält in dieser ungehemmteren Atmosphäre durch die wirklich fröhliche Laune einiger Menschen oder auch durch gute, ernsthafte Bemerkungen anderer ihre erfreulicheren Akzente. Es ist nicht nur, daß die Diener Champagner reichen, wer unter den Besuchern nicht gallig, ausgedörrt, von böswilliger Klatschsucht angefressen ist, läßt sich von der aparten Herzogin willig den Ton vorschreiben – so gut eben jeder ihrem Wunsch zu folgen vermag, daß ihrem Haus um jeden Preis die Langeweile ferngehalten werde. Denn selbst dieser nüchterne, in eine Festtribüne hineingezimmerte Raum ist ihr Haus.

Auch die Gesellschaft mischt sich bunter als bei den Osunas. Mitten unter den Granden steht Costillares, der den ersten Stier dieser Corrida getötet hat, und betastet vorübergehende Edeldamen von oben bis unten mit seinen durstigen Blicken. Francisco begrüßt seinen einstigen Brotherrn Pepe Hillo, der die Vierzig überschritten hat, ein Alter, in dem die meisten Matadore nicht mehr in die Arena steigen, doch er ist frisch und gelenkig und fühlt sich als das Haupt der klassischen Schule. Gemessen reichen sich die beiden die Hand: da ihnen bekannt ist, daß man von jener Episode weiß, stellen sie sich, als wissen sie nichts davon. Pepe wird einem späteren Stier entgegentreten.

Dort drüben aber unterhält sich niemand anders als der junge Dichter Juan Esteve, Bruder des Malers. Ein alter Kammerherr, der ihn erkennt, faßt entsetzt nach dem Degengriff und rückt, um innerlich einen Trennungsstrich zu ziehen, seine Orden zurecht, einen um den andern. Juan hat nämlich die Herzoginnen von Alba und von Osuna in satirischen Versen verspottet und ist auf Betreiben des Herzogs von Osuna mit Gefängnis bestraft, auf das der Herzogin von Alba aber anläßlich der Königskrönung – die Neuigkeit spricht sich soeben erst herum – nach kurzer Haft begnadigt worden. Und nun läßt er sich also in ihren Kreis ziehen ...

Doña Cayetana weist Pepa, nur ihr und nicht Francisco, die Banderillas (»eine Aufmerksamkeit unseres Costillares«), legt den Arm um ihre Schulter und zeigt ihr einen spaßhaften Gast: einen entfernten Vetter ihres Gatten, den kleinen Landjunker Don Godofredo Ermenegildo Beruete y Villafranca, einen älteren Herrn schon, der, sie erzählt es, dem wundervollen Grundsatz huldigt, Bürgerliche niemals eines Wortes zu würdigen, wenn er eine Verständigung durchaus nicht vermeiden kann, bedient er sich der Zeichensprache. »Ist er nicht wie ein satter Storch, dem es Mühe macht, sich in den Stelzgelenken zu wiegen?« fragt sie. Und nun redet ihn wahrhaftig Juan Esteve an. Don Godofredo verzieht das Gesicht, reckt sich hoch – »wie wenn er«, sagt die Herzogin, »einen im Schlund steckengebliebenen Frosch vollends in den Magen hinunterpressen müßte« –, legt langsam einen Zeigefinger auf den Mund, wendet dem Frager den Rücken und entfernt sich gravitätisch.

Cayetana sagt dem verblüfften Esteve ein erklärendes Wort, kommt zurück, während Fanfaren die Fortsetzung der Stierkämpfe ankündigen, und lädt Pepa ein, für die nächsten Stiere in der herzoglichen Loge zu bleiben: »Sie und Ihr Gatte.«

Der Marqués von Villafranca, ihr melancholischer Gemahl, fügt einen höflichen Satz bei, und ein Diener wird ausgesandt, um die beiden bei ihren eigenen Gästen zu entschuldigen.

Die Loge liegt der königlichen so nahe, daß man sich nicht setzen kann, ehe die Gekrönten darin vorangegangen sind. Carlos wie Maria Luisa sehen müde, gelangweilt, ja geradezu ungnädig aus. Fernando, der Thronfolgerknabe, blickt sehr hochmütig.

In der Arena ist wieder Costillares an der Reihe. Auch diesmal stößt er selbst dem Stier das erste Paar Banderillas in den Nacken. Sie sind blaugelb, genau wie die, die er der Herzogin geschenkt hat. Dabei ritzt ihn das Hörn des Stieres am rechten Arm, der Ärmel ist zerrissen, niemand weiß, ob mehr geschehen ist, doch scheint der Torero aus der Fassung gebracht, vielleicht sogar einer Ohnmacht nahe. Die Situation ist gespannt, einem Capeador gelingt es, die Aufmerksamkeit des Stieres abzulenken. In diesem Augenblick eilt Pepe Hillo, Costillares' Rivale, der auch als sein Feind gilt, herbei, faßt ihn um die Schulter und führt ihn unter großem Applaus aus der Arena.

Der Ausgang ist so gelegen, daß ein paar Schritte genügen, die Loge der Herzogin von Alba zu erreichen. Cayetana schickt sofort einen Diener, die beiden Matadore treten ein und zeigen sich dem Publikum, das in sein Händeklatschen Hochrufe auf Pepe Hillo, Costillares und die Herzogin mischt. Francisco kann sich nicht verhehlen, daß er, soweit die Ehrung Cayetana gilt, so etwas wie freudigen Stolz empfindet. Das gekrönte Paar nebenan sieht sich wieder vergessen.

Ein Arzt stellt bei Costillares eine belanglose Verwundung fest, verbietet ihm aber die Fortsetzung seines Auftretens. Cayetana läßt ihn neben sich Platz nehmen.

In der Arena übersteigern sich die Waghalsigkeiten.

Der Matador Alarcon fährt im Wagen ein und schirrt vor der Königsloge das Pferd aus. Ein Stier wird losgelassen, dem ein Strick an den Hörnern befestigt ist. Während ihn Capeadore beschäftigen, ergreift Alarcon den Strick und spannt das völlig verblüffte Tier mit eisernem Griff vor seinen Wagen, dann springt er auf und kutschiert das Fuhrwerk um den weiten Kreis. Ein zweiter Stier. Hinter ihm Ramón de la Rosa zu Pferd mit der Lanze. Auch Alarcon ergreift eine Lanze und treibt sein Fuhrwerk auf das Opfer zu. Es wird von beiden mehrmals am Nacken verwundet und erhält in den gequälten Rücken allmählich vier Banderillas gestoßen – in großen Pausen, denn der von zwei Seiten angegriffene Stier ist scharf auf der Hut, und beide Matadore müssen auf die Bewegungen zweier Stiere achten. Es ist eine Kombination von Gefahrmöglichkeiten, die ein halbdutzendmal an der Katastrophe hart vorüberführt.

Aber das Opfer fällt. Würde auch fallen, wenn es sich seiner beiden Peiniger entledigte, denn dann käme ein dritter, vierter, fünfter Peiniger. Es gibt für den Stier keinen Ausweg aus dem Todesurteil. Dazu ist er herangezüchtet worden, um öffentlich, gemartert zuvor, durch das Schwert zu sterben.

Ramón stößt ihn wieder vom Rücken des geängstigten Pferdes aus nieder.

Alarcon springt ab, durchhaut die Stricke des Zugstieres und tritt nun diesem – eine ungewohnte Kühnheit – nicht mit dem Mantel, der Lanze, den Banderillas, sondern sogleich mit dem Degen gegenüber.

Aber auch dieses Opfer fällt, ohne daß der Henker Schaden nimmt. Zwei Stiere werden vom Maultiergespann abgeschleppt. Über solch ausgiebiger Schlächterei rast die Menge: Lastträger, Straßenhändler, Handwerker, Kaufleute, Bauern, Finanzleute, Schreiber, Soldaten, Grundbesitzer, Beamte, Künstler, Richter, Hofleute, Granden, Infanten. Auf den obersten dieser Leiterstufen ist man ein klein wenig zurückhaltender mit dem Rasen, doch ohne sich aus der Einheit der Begeisterung herausstehlen zu wollen, hier sind auch mehr Frauen dazwischen. Von allen Ständen fehlt nur der geistliche – bis auf den einen Priester oder Mönch, der unten in der improvisierten Kapelle jeden Torero vor dem Eintritt in die Arena segnet und dann verstohlen aus einem Versteck zuschaut.

Francisco sitzt zwei Reihen hinter Doña Cayetana und sieht über ihrer Stuhllehne nur das krause Haar und den von meergrüner Seide umgebenen Rückenausschnitt. Sie hat die meiste Zeit geschwiegen, nur mitunter eine Frage an Costillares gerichtet. Wie unangenehm vertraulich doch jedesmal der Torero antwortet.

Nur um das Wort an die Duquesa richten zu können, bittet Francisco sie um die Erlaubnis, sich jetzt seinen Gästen zur Verfügung stellen zu dürfen. Sie wendet sich zurück, nickt – es scheint ihm fast, als nicke sie belustigt – und bittet Pepa zu bleiben.

Bermudez spöttelt über den Hofdienst, als Francisco zurückkommt, hört aber auf, als er eine etwas grämliche Miene sieht. Seine Frau fragt nach dem Kleid der Herzogin, Agustin Esteve, der bisher nur die Miene stummer Dienstbereitschaft gezeigt hat, nach seinem Bruder. Ein neuer Stier betritt die Arena, groß, mit besonders spitzen Hörnern, prachtvoll und gefährlich anzusehen.

Er galoppiert in die Mitte, stutzt, läuft weiter – und jedermann erwartet nun den gewohnten ersten Akt: das Losstürzen auf die Pferde und roten Mäntel. Den meisten Zuschauern ist es, so sehr sie zuvor mitgerissen waren, doch willkommen, daß nun an Stelle jener verwickelten Künste wieder die einfache Corrida zu Fuß tritt, und Pepe Hillo wird seinen Mann stellen.

Der Stier läuft weiter, zwischen den von den Picadores herangetriebenen Pferden durch, als seien sie Luft für ihn – unmittelbar auf eine der amphitheatralisch in die Arena absteigenden Tribünen zu. Nichts kann geschehen – es sind ja genügend hohe Barrieren da ...

Nichts könnte geschehen, wenn nicht das unerwartete Verhalten des Stieres – Verräter nennt das Volk ein solches Tier, das nicht in die Falle geht – wenn nicht die Unbotmäßigkeit des Stieres einige Zuschauer, auf die er Richtung nimmt, heftig erschrecken würde. Sie schreien, springen auf, drängen zurück, andere werden angesteckt. Die Picadores sind ratlos, ihre Gäule scheuen, drücken gegen die Rampe. Und plötzlich bricht eine Schranke ein, niemand weiß wie, eine zweite, Bretter splittern – alles im nächsten Bereich des wütenden Stieres, der nur weiterzulaufen braucht, um gegen die vor Entsetzen schon kaum mehr schreienden Menschen anzurennen.

Die bunte Uniform eines zum Ordnungsdienst aufgestellten Soldaten bringt ihrem Träger den furchtbaren Tod. Mehrmals stößt ihm der Stier die Hörner in den Leib. Und wirft mit blitzschnellem Ansturm einen zweiten Soldaten nieder, der dem ersten Hilfe bringen will.

Läßt von beiden ab und trifft einen der Hinausdrängenden in den Rücken, daß er sofort zusammenbricht. Bohrt beide Hörner ein und hebt den schweren Mann mit einem Ruck hoch. Wendet sich langsam um und blickt in die Arena. Schüttelt die Hörner, läßt aber die grausige Last nicht los. Steht unbeweglich, kümmert sich nicht mehr um die Fliehenden.

Carlos und Maria Luisa bleiben sitzen. Gekrönten Häuptern geziemt es, ein Beispiel von Mut zu geben, auch wenn es nur der Mut ist, einen grauenhaften Anblick zu ertragen ... Das Gefolge rührt sich nicht.

Aber das Fest ist aus. Der Stier hat es vorzeitig abgebrochen, hat das Leben und die Qualen von hundert Brüdern gerächt – und sein eigenes Leben, denn es wird auch für ihn keine Rettung geben. Daß diese gegen die menschliche Grausamkeit sich aufbäumende Naturkraft nichts als Gerechtigkeit geübt hat, davon wissen keine zehn.

Moratín ist unter ihnen. Er ist mit Francisco zurückgeblieben, während sich rings auch die völlig gesicherten Plätze leeren und die Menschen einander zurufen, der zuletzt Getötete sei der Alcalde des Dorfes Escorial. Eigentlich ist es ein mildes Urteil, geht es dem Dichter durch den Sinn ... nur drei von vierzigtausend ... aber es steckt noch anderes dahinter ... Er starrt vor sich hin.

Francisco hat ein Skizzenbuch aus der Tasche gerissen und zeichnet mit fliegenden Strichen den Stier, der den Alcalden aufgespießt hält, und die vor ihm Flüchtenden. Für die Herzogin ist keine Gefahr, denkt er dabei. Und für Pepa nicht.

Während er zeichnet, nähert sich Pepe Hillo, der diesmal im Hintergrund ahnungslos seinen Auftritt abgewartet hat, von rückwärts dem noch immer reglos stehenden Stier und stößt ihn nieder.

Gleich hinter ihm hat ein Mönch die Tribüne des Grauens erstiegen, ein hagerer, noch ziemlich junger Mensch: eine populäre Figur, die man den Todeskämpfer nennt. Ist es aller Welt- und Klostergeistlichen Pflicht, den Sterbenden beizustehen, so hat Pater Bavi in dieser Hilfe solche Kraft, um nicht zu sagen Fertigkeit erlangt, daß im gemeinen Madrider Volk niemand seinen Besuch entbehren will, der seine letzte Stunde herankommen fühlt oder zu fühlen glaubt. Es umgibt ihn sogar das Gerücht, er komme ungerufen ... Nun ist er auch hier, kaum ist das Unglück geschehen. Ob er der war, der die Toreros heute zu segnen hatte? Ob er von der Straße kommt? Einerlei – er ist im entscheidenden Augenblick da und findet, während nun auch andere beginnen, sich um die Opfer zu bemühen, wenigstens in dem einen Soldaten noch Lebens- und Bewußtseinsreste. Mit einer Heiterkeit, die zu dem vorgehaltenen Kruzifix einen seltsamen Gegensatz bildet, redet er auf ihn ein ...

»Ich habe alles Geschehene verfolgt«, sagt Moratín, als des Freundes Zeichnung beendet ist, »und weiß so klar und sicher wie selten, daß sich unter der Oberfläche solcher Ereignisse eine unheimliche Triebfeder verbirgt. Eine Summe unglücklicher Einzelheiten greift mit einem Schlag ineinander wie ein wohlvorbereitetes Räderwerk – unter dem dämonischen Zwang einer Entscheidung des Schicksals ... Oder glaubst du hier an Zufall?«

Francisco zuckt schweigend die Achseln.

»Manchmal gelingt es wirklich, durch die Dinge hindurchzuschauen, als seien sie von Glas. Aber wir werden der Gestalt des Schicksalsdämons niemals wirklich ansichtig. Er stellt sich uns nicht. Wahrscheinlich würden wir seinen Anblick auch gar nicht ertragen.«

Francisco schiebt seine Hand unter des Dichters Arm. Langsam gehen sie hinaus.


 << zurück weiter >>