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9

Von Javier ist ein Brief aus Paris gekommen.

»Deine Empfehlung an den spanischen Gesandten«, schreibt er dem Vater, »hat ihre besondere Wirkung getan: sie hat mir die Erlaubnis verschafft, der Krönung des Kaisers in Notre-Dame beizuwohnen. Man hat mich wie eine Respektsperson behandelt und mir einen Platz in ziemlicher Nähe des Hochaltars angewiesen. Ich konnte die Züge des Kaisers deutlich unterscheiden, er gleicht mehr einem Künstler als einem General. Die Kaiserin, obschon sie als nicht mehr jung gilt, ist von interessanter Schönheit, man sagt, sie sei eine Spanierin aus den Kolonien.

Der Papst kam eigens zur Krönung von Rom nach Paris gereist. Sein Thronsessel war zur Seite des Hochaltars aufgestellt, doch habe ich sein Gesicht infolge ungünstigen Lichts nicht so recht gesehen, gekleidet war er inmitten all der Farbenpracht ganz in Weiß.

Es hat sich das Merkwürdige ereignet, daß der Kaiser sich die Krone selbst aufs Haupt setzte und ebenso der Kaiserin, oder vielmehr waren es gar keine Kronen, sondern goldene Lorbeerkränze, wodurch Napoleon noch mehr einen Fürsten der Dichter vorzustellen schien. Dem Papst blieb nichts überlassen, als die beiden Gekrönten nachträglich zu segnen. Den Parisern hat das sehr gefallen.

Ich habe auch hier von der Nähe bedeutender Gemälde schon allerlei Nutzen gezogen. Um den Kurier noch zu erreichen, muß ich indes für heute schließen.«

Die Zeitungen, denkt Francisco, haben von dieser Geste nichts berichtet. In der Wirkung heroisch, in der Gesinnung ungeniert, libertinisch, wäre sie nach Cayetanas Herzen gewesen, die diesen Bonaparte bewundert hat. Solch einem Streich hätte sich ihre Art geradezu verwandt fühlen müssen ...

Die Briefe Javiers bedeuten immer ein Ereignis. Sie bringen eine Handvoll großer Welt herein. Und ein wenig Wärme. Nur dies geht niemals so recht klar aus ihnen hervor: welche Entwicklung des Sohnes künstlerische Bestrebungen nehmen.

Die Zusammenkünfte mit den Freunden sind seltener geworden und rufen mehr und mehr ein Nachgefühl von Leere in ihm hervor. Er hat mitunter eine ganz fremdartige Empfindung in ihrer Gegenwart: daß er mit ihnen gar nicht in der gleichen Welt lebe und sie untereinander auch nicht, sondern jeder in seiner eigenen – daß sich diese Welten zwar gegenseitig durchdringen, aber doch so, daß der eine die des andern gar nicht richtig wahrnimmt: einander schneidende Glasglocken, an denen sich nur heruntertasten läßt, von innen und von außen – daß kaum mehr eine Möglichkeit bestehe, sich gegenseitig auch nur die Hand zu reichen. Vielleicht springen diese Gläser einmal wieder. Aber jetzt sind sie da. Wozu also überhaupt Zusammenkünfte verabreden, wenn man doch nichts voneinander weiß? Der Freund in der Ferne aber, der gute, anhängliche Mensch, mit dem man sich aus der gemeinsamen Jugend heraus in allerlei lustigen Dummheiten noch verstanden hat, Martín Zapater, ist plötzlich gestorben. Wenn die Jugendfreunde weggehen, fängt man an, alt zu werden ...

Er hält auch mit der Arbeit zurück – aus dem Gefühl heraus, daß sich abermals etwas Neues vorbereitet. Was das Amt, der Hof, das Geldverdienen mit sich bringt, füllt die Tage lässig aus, ohne den großen Auftrieb der leidenschaftlichen Idee. Für den Augenblick freilich sind die Maleraugen immer in ihren Gegenstand verliebt, fassen ihn mit Feuer – obschon diese Gegenstände beliebige Damen und Herren der aristokratischen Gesellschaft sind. Auch die Majestäten hat er wieder und wieder zu porträtieren, und als neues Objekt kommt der Prinz von Asturien dazu.

Francisco hegt eine fast körperliche Abneigung gegen ihn, obschon es der Infant an Höflichkeit nicht fehlen läßt. Über die äußeren Formen verfügt er. Und – geistesschwach ist er nicht, das können, nein: das sollten ihm selbst seine Feinde nicht nachsagen. Francisco ist verblüfft, als sich eine Welle von Hofklatsch zu ihm heranwälzt, die auf ihrem Kamm als trüben Schaum die Nachricht trägt, Fernando zeige im intimen Kreis deutliche Anzeichen von Geistesschwäche. Dahinter steckt etwas, und die Widersacher Manuel Godoys flüstern sich die Deutung des Rätsels bald genug zu: er und die Königin haben das Gerücht ausgestreut, um Fernandos Ausschluß von der Thronfolge betreiben zu können. Gelänge dieser Ausschluß, so wäre im Fall von Carlos' Tod das wichtigste Hindernis beseitigt, das einer förmlichen Ehe der Königin mit Manuel und seiner Ausrufung zum König von Spanien im Wege stünde. Vorläufig freilich lebt Carlos und zeigt außer etwas Herzasthma keine Symptome körperlicher Beeinträchtigung. Aber auch diese Schwierigkeit ließe sich ordnen – die Widersacher scheuen sich nicht, den beiden solche Gedanken zu unterschieben. Was Manuels Gattin anlangt, so liegt sie im Sterben, in den wenigen Jahren dieser Ehe sind ihre Kräfte einfach zerfallen, wie kann es anders sein, als daß ein zartes Geschöpf sich an der Atmosphäre dieses brutalen Menschen vergiftet?

Gleichzeitig kommt ans Licht, daß dies gar nicht der erste Plan gegen Fernando ist. Genau so durchsichtig war der frühere: die Königin hat Carlos zu der testamentarischen Bestimmung gedrängt, daß Fernando erst mit dreißig Jahren großjährig werden solle. Der König gab nach, doch der Rat von Kastilien, dessen Zustimmung notwendig erschien, um das Testament wirksam zu machen, erklärte die Cortes für zuständig. Die aber berief man schon lange nicht mehr ein. Es waren wohl die Kreise des Rats, aus denen das Geheimnis jetzt nachträglich durchsickerte.

Was Manuel und Maria Luise zusammenhält, ist nur noch Machtgier und Habsucht. Der Friedensfürst ist jetzt neununddreißig Jahre alt, die Königin vierundfünfzig, sie muß sich mit einer Abkühlung der Liebesbeziehungen nun wirklich abfinden. Manuel hat eine gesellschaftlich anerkannte Freundin, die Gräfin Castillo-Fiel, und veranstaltet Feste in ihrem Haus und dem seinigen, er wohnt in Cayetanas Palast und ist sehr vergnügungssüchtig geworden: während sich der Hof in Aranjuez und El Pardo befindet, nimmt sich Manuel die Freiheit, jede zweite Woche in der Hauptstadt zu verbringen.

Aus dem Taumel der Vergnügungen heraus greift er mit täppischen Händen in die Räder der großen Politik, ist geschmeichelt, als sich Napoleons Gesandter bei ihm um Spaniens Bundesgenossenschaft gegen England bemüht. So stürzt er das Land in einen neuen Krieg, der dem Seehandel aufhelfen soll, in Wahrheit aber mit der völligen Vernichtung der spanischen Flotte bei Trafalgar endet.

Francisco ist Gast bei Manuels Festen, ein stummer Beobachter, der sich hinter seine Schwerhörigkeit verschanzt und doch mehr hört, als die Leute meinen. Und ist Zeuge einer aufregenden Szene, die mit voller Deutlichkeit zeigt, daß das spanische Volk noch immer den Ministerpräsidenten allein für die allgemeine Not und die nationalen Unglücksfälle verantwortlich macht, daß es ihn haßt und sich mit diesem Haß hervorwagt.

Kurz nach dem Eintreffen der Nachricht von jener Niederlage zur See betritt Manuel während eines Stiergefechtes seine Loge. Obwohl die Madrilenen leidenschaftlich den Bewegungen folgen, die der Matador Romero mit dem Scharlachmantel vor den Hörnern des mit acht Banderillas bespickten zornigen, blutenden, schnaubenden Stieres ausführt, als handle es sich um einen eleganten Dressurakt, werden sie des verhaßten Machthabers sofort gewahr und beginnen wie auf Verabredung ein höllisches Pfeifkonzert.

Romero erschrickt, begreift nicht, durch welche Ungeschicklichkeit er die Unzufriedenheit des Publikums erweckt haben könnte, denkt, es handle sich um Ungeduld. Ohne sich Zeit zu nehmen, den Tod des Stieres öffentlich einer bevorzugten Persönlichkeit zu weihen, bohrt er ihm den Degen mit sicherem Stoß durch den Rücken ins Herz. Das mächtige, schöne Tier zittert und stürzt zusammen. Der Matador erwartet für diese Meisterleistung des Mordens eine Beifallssalve. Aber der Pfeifchor dauert mit unverminderter Stärke an.

Romero schaut sich um und begreift. Auch Godoy beginnt zu begreifen. Er starrt in die Arena hinunter, als bemerke er von dem Lärm überhaupt nichts. Doch ist sein Gesicht blaß, sein Blick bös. Der Adjutant, der links von ihm sitzt, ist sehr bleich. Er weiß noch besser als Godoy, daß dieses Volk sich in ungeheurer Erregung befinden muß, wenn es im Stierzirkus von einem guten Stoß, einem beliebten Matador keine Notiz mehr nimmt.

Das Pfeifen setzt sich fort wie ein Sturmwind, der nicht abreißt, steigert sich zu einzelnen heftigen Stößen. Godoy flüstert mit seinem Adjutanten, der sich sogleich erhebt und die Loge verläßt. Unmittelbar darauf betritt ein Lakai die Königsloge, in der sich nur der Prinz von Asturien, auch er mit einem Adjutanten, befindet, und ruft den Offizier heraus. Als der zurückkommt und in untertäniger Haltung mit Fernando flüstert, antwortet ihm der Prinz spöttischen harten Gesichts mit mehrmaligem Kopfschütteln. Die Zuschauer dämpfen die Begleitmusik, wie um großmütig die Verhandlungen zu ermöglichen; nun wird wieder in Godoys Loge verhandelt. Es kommt zum großen Effekt: Manuel gibt nach und geht hinaus, verfolgt vom Orkan der Pfeifer.

Dann aber erheben sich alle – es scheint noch immer, als stehe die Menge ringsum unter einem einzigen Willen – und klatschen der Königsloge zugewandt in die Hände. Denn Hunderte, Tausende haben verstanden, um was das Spiel der Pantomime ging: Godoy wollte die Corrida abbrechen, vielleicht den Zirkus militärisch räumen lassen, Fernando aber, ohne den er nicht vorzugehen wagte, verweigerte die Zustimmung.

Der Infant lächelt, verbeugt sich, und das Schauspiel nimmt seinen Fortgang.

Anderntags aber finden die verdutzten Madrilenen an den Mauern ein königliches Manifest angeschlagen, das unter heftigen Angriffen auf die »barbarische und blutige Sitte« für ganz Spanien die Abhaltung weiterer Stierkämpfe verbietet. Der König, gewohnt, sich Godoys Vorschlägen blindlings zu unterwerfen, hat sich leicht von der politischen Gefährlichkeit großer Menschenansammlungen überzeugen lassen und spielt nun auf dem Papier den Tierfreund.

Eine Welle der Erbitterung geht durch das Land. In Franciscos Kreis prophezeit man einstimmig eine Volkserhebung gegen Godoy. Zahllose andere Gruppen tuscheln das gleiche. Und eine von diesen Gruppen ist sehr gewichtig: Fernando und sein Beichtvater Escoiquiz.

 

Die Luft wird stickig. Aber bald scheint es wieder, daß niemand den Mut hat zu handeln, daß aus dem allgemeinen Elend, der Armut, dem Sinken und Sinken der Papiergeldfetzen nichts als allgemeine Ermattung und stumpfe Gleichgültigkeit erwächst. Man flüstert sich inhaltslose Heimlichkeiten zu: etwas bereite sich vor, wichtige Dinge werden geschehen.

Die Hauptpersonen selbst spielen freilich weiter, aber hinter dicht geschlossenem Vorhang.

Manuel steht durch einen Mittelsmann mit dem Kaiser von Frankreich in Verhandlung über nichts Geringeres als einen neuen Überfall auf Portugal: die europäischen und amerikanischen Gebiete des Königreichs sollen zwischen Spanien und Frankreich aufgeteilt werden, Spanien gegen militärische Beteiligung gar den Löwenanteil, Carlos den Titel eines Kaisers von Indien erhalten. In einem geschickten Augenblick mischt der Unterhändler die eigenen Wünsche Manuels ein, der sich reif zum Königtum fühlt und ungeduldig wird, daß die Dinge in Spanien noch nicht soweit sind, Napoleon ist freigebig mit Kronen. Und wirklich verspricht man ihm die Erhebung zum König von Südportugal.

Aber gerade jetzt, da Manuel selbst von Spanien wegstrebt und geneigt ist, die spanische Thronfolge ihren natürlichen Gang gehen zu lassen, fühlt sich Fernando durch die Besorgnis beschwert, seine Mutter und ihr Liebhaber könnten mit ihrem Plan, ihn zu entmündigen, Ernst machen. Er sieht sich nach wirksamer Hilfe um, Escoiquiz rät ihm, sich an – Napoleon zu wenden. Da des Infanten Gattin Maria Antonia – auf Franciscos großem Bourbonenbild wendet sie sich von Fernando ab – im Wochenbett gestorben ist, kann er das, was er von Napoleon will, in die Bitte um eine Frau kleiden. So scheint es vor allem um dieser künftigen Kronprinzessin und Königin willen zu geschehen, daß der Vertrauensmann dem Kaiser die weitere Bitte unterbreitet, er möge von König Carlos die Kaltstellung des spanischen Ministerpräsidenten verlangen, der seine, des Prinzen, angestammte Thronrechte bedrohe.

Der französische Gesandte in Madrid hält Fernando mit Ausflüchten hin. Doch er und sein Ratgeber glauben wirklich den Kaiser hinter sich zu haben und beschließen zu handeln. Es kommt zu einer Verschwörung mit geheimen Zusammenkünften, an denen unter dem Vorsitz des Infanten hohe Offiziere, ein Minister und einige Hofleute teilnehmen. Das wirkliche Haupt ist Escoiquiz, der sich aber als Geistlicher nicht exponieren will und nur mit Fernando persönlich verhandelt. Manuel Godoy soll gewaltsam gestürzt, vor ein Kriegsgericht gestellt und zum mindesten des Landes verwiesen werden, die Königin will man aus den politischen Geschäften ausschalten, nötigenfalls unter Anweisung eines Wohnsitzes fern von den Hofresidenzen.

Doch der Plan wird verraten – in der entstellten Form, Fernando trachte seinem Vater nach dem Leben.

Carlos gerät außer sich und befiehlt, soweit er sie kennt, die Teilnehmer zu verhaften, Escoiquiz ist nicht darunter, wohl aber der Prinz. Den läßt er sich von zwei Offizieren vorführen und brüllt ihn an wie einen Stallknecht.

Gespreizt und stämmig steht Fernando und erwidert mit einer kühlen, verächtlichen Grimasse.

»Mach ein anderes Gesicht!« schreit der Vater.

Der Infant rührt sich nicht.

Der König greift in seinen Vorrat von Schimpfworten, muß sich aber schließlich zu der sachlichen Frage bequemen, ob Fernando bekenne, sich gegen Krone und Regierung verschworen zu haben.

Statt jeder Antwort wirft der Prinz einen stummen Blick auf die beiden Offiziere.

Carlos gibt nach, indem er sie wütend hinausweist, als haben sie seinen Befehlen zuwidergehandelt, und wiederholt seine Frage.

»Nein!«

»Was, du Lümmel, du hast die Frechheit, abzuleugnen, eine Verschwörung gegen mich, deine Mutter und den Príncipe de la Paz angezettelt zu haben?«

»Der Prinz von Asturien fühlt sich der spanischen Krone nahe genug, um jede Beschimpfung, von wem immer sie komme, zurückzuweisen. Ich nehme an, Sire, daß Sie die Worte Lümmel und Frechheit und was dergleichen vorher schon gefallen ist, an eine andere Person richten wollten.«

»Halt 's Maul«, würgt Carlos mit hochrotem Kopf hervor, »oder ich ohrfeige dich.« So etwas scheint ihm in peinlichen Situationen immer die nächstliegende Lösung.

Fernando sieht ihm wieder sehr kühl und verächtlich in die Augen und schüchtert damit Carlos doch so weit ein, daß er mit etwas ruhigerer Stimme ein Geständnis verlangt.

»Ich habe nichts zu gestehen.«

In diesem Augenblick bewegt sich eine Draperie: die Königin schnellt hervor. Scharf und schrill ruft sie: »Du wirst als Staatsverbrecher erschossen, wenn du nicht gestehst.« Gegen Manuel hat sie einmal eine ähnliche Drohung ausgestoßen.

Er schaut sie spöttisch von oben bis unten an, ehe er antwortet: »Das Urteil über mich spricht glücklicherweise nicht die Königin. Wenigstens würde das den Gesetzen zuwiderlaufen.«

Sie läßt sich nicht aus der Fassung bringen. Mit einer lauernden Langsamkeit, die schon im voraus die Rache zu kosten scheint, kommen die Worte heraus: »Du wirst mich auf den Knien um Gnade anflehen.«

»Ich wüßte nicht, was den künftigen König von Spanien mehr entwürdigte.« Verächtlicher, anmaßender kann kein Gesicht aussehen als das seine, während er diese Worte spricht, sein starkes Kinn schiebt sich noch um eine Linie weiter vor, als sei es bereit, seine Feinde körperlich zu zermalmen.

»Gut gesagt«, pariert sie den Stoß, »denn du wirst niemals König von Spanien werden.«

Er schießt einen bösen Blick nach ihr und erwidert mit kaltem Hohn: »Vielleicht möchte es wirklich überlegenswert sein, sich von einem Thron fernzuhalten, den Sie beschmutzt haben, Madame!«

Jetzt fährt Carlos dazwischen und dringt nach weiterem Wortwechsel mit erhobener Faust auf den Infanten ein. Der fällt ihm mit seinen schweren Händen in den Arm. Sie ringen. Die Königin ruft um Hilfe, und die beiden Offiziere stürzen herein.

Fernando wird in das Zimmer des Schlosses zurückgeführt, das ihm vorläufig als Gefängnis bestimmt ist. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hat, verändert sich seine Miene vollkommen. Vor seinen Eltern hat er die Rolle sicherer Überlegenheit, die Escoiquiz für jede wie immer geartete Lage hundertmal von ihm gefordert hat, mit Beherrschung gespielt – wenn auch unter Beimischung einer Dosis von Frechheit, die der Lehrer vielleicht mißbilligt hätte. Jetzt überfällt ihn die graue Angst, seine Züge werden feig und schlaff.

Am Hof erzählt man sich flüsternd und die Wirklichkeit noch übertreibend von dieser dramatischen Szene, auch Francisco erfährt davon. Und sieht staunend die Königin und Manuel zu ihrem großen Schlag ausholen, den Carlos, von seinem Dämon gezwungen, ihnen führen hilft: ein feierliches königliches Dekret schließt Fernando wegen eines Anschlags auf das Leben des Königs von der Thronfolge aus und verhängt über ihn eine vorläufig unbegrenzte Festungshaft. Die Würde des Thronfolgers wird auf den Infanten Don Carlos übertragen, was ganz Madrid für eine leere Form hält: man wartet geradezu auf die Nachricht eines plötzlichen Todes des Königs.

Das Königspaar zum Mißglücken der Verschwörung zu beglückwünschen und zugleich dem neuen Prinzen von Asturien zu huldigen, findet sich der Hof zum Handkuß ein. Franciscos Gedanken, während er nacheinander die drei Handschuhe mit den Lippen berührt, sind unehrerbietig und düster. Er sieht die Maskerade von schwarzen Flügeln überschattet.

Und steigt wieder in seine Dachstube.

Nach Hoffesten und Porträtsitzungen, nach Gängen durch ärmliche Gassen und Gesprächen mit Bettlern, denen er durch reichliche Gaben den Mund geöffnet hat, fühlt er sich hier im Schauturm der Einsamkeit. Dieses Zimmer, das Zuflucht für heimliche Arbeit war und sicherlich wieder sein wird, ist nun Zuflucht für Gedanken geworden, die sich durch keines Freundes und keines Feindes Zwischenruf stören lassen. Für Gedanken, die sich eingraben in die menschlichen Schicksale ringsum und zu den Tiefen steigen voll Entschlossenheit, hinter jeden Nebel der Selbsttäuschung zu leuchten. Sie graben sich ein, fragen und wissen von allen Dunkelheiten, des Lichts vergessend, das über den Abgründen schwebt.

Er sieht die Menschen, die sich mit den schmutzigen Abfällen der Nahrung, der Kleidung und der Genüsse, der Gefühle und der Gedanken bei Blut, Atem und Verstand halten und einzig aus Todesangst das Leben nicht von sich werfen. Sieht jene, die prassen und Schuftigkeiten begehen, ihre Macht rücksichtslos ausnützen, unterdrücken, sich Sklaven schaffen, rauben, morden und noch dazu Gerechtigkeit heucheln. Sieht Große gar an diese Gerechtigkeit glauben, indem sie sich selbst überreden, wer aus dem Vollen schöpfe, aus den von den Untertanen gefüllten Quellen des Staats, und über Heere gebiete, für den gelte ein veränderter Maßstab des Menschseins, der sei erhaben über die gemeinen Gesetze der Moral. Auch die sieht er, die satt, faul und selbstgefällig dazwischen stehen: nach unten, gegen jene, die es zu nichts gebracht haben und darum ihr Los verdienen, schließen sie die Augen und den Geldbeutel oder beschwichtigen den Rest von Gewissen mit Kupfermünzen; nach oben ducken sie sich und reden schön, dem Nachbarn leiten sie das Spülicht der Mißgunst und Klatschsucht ins Haus.

Dies ist Menschenlos, er sieht es, daß jeder stündlich oder täglich die Angst vor irgendeinem Übel, einem Unglück in sich oder hinter dem Rücken fühlt, und trifft es ihn nicht, so werden Frau, Kinder, Freunde davon überfallen. Furchtbare Verflechtungen machen das Glück des einen und das Unglück des andern voneinander abhängig: es ist zwischen den Menschen wie zwischen den Tieren, die davon leben, daß das eine das andere verschlingt. Drängen die Massen zur Freiheit, zum hohen Ziel, das ihr Recht ist, geht es nicht ohne gräßliche Sümpfe von Blut. Sie ermüden, glauben sich angekommen, legen die Waffen beiseite – im selben Augenblick ersteht ihnen ein neuer Zwingherr. Er verspricht ihnen Glück – und jagt ihre Söhne und Brüder in die Schlächtereien des Kriegs. Wieviel geschieht denn auf Erden, das nicht Jammer und Elend als Voraussetzung, Begleitung oder Folge hätte? Und dies hier sind nur die greifbaren Ereignisse, die Gedanken sind nicht mitgezählt. Würden alle feindseligen, verächtlichen, verräterischen Gedanken, die die Menschen auch nur einer einzigen Stadt gegeneinander hegen, in Wirklichkeit verwandelt – eine Hölle von unvorstellbarer Schrecklichkeit entstünde. O wie kläglich gering ist die Gewalt des Guten!

Und jeden, jeden fällt der Tod. Erstünde der Menschheit aber ein Retter-Gott, der das Sterben aus der Welt schaffte – wäre es nicht ein noch viel grauenhafteres Los, ewig auf der Erde zu leben? Jeder ewig zwischen den gleichen Menschen, die er satt und übersatt hat nach fünfzig, hundert, tausend, zehntausend Jahren... Wie würden sie wünschen, voneinander befreit zu werden, wie würden sie gegeneinander anstürmen in der zornigen, verzweifelten Hoffnung, daß die Waffe, mit der sie nach ihm schlagen, dem Bruder doch noch den Tod bringt. Sie würden sich schließlich selbst den Tod wünschen – wenn er wirklich wiederkäme, ihn fürchten, sich von ihm hetzen lassen wie getriebenes Wild vom Jäger... Sterben ist Qual und Leben ist Qual. Als Mensch geboren werden, heißt dem furchtbaren Fluch unentrinnbar verfallen. Und den Wächtern des Fluchs.

Denn es sind Wächter des Fluchs.

Aus ihrem Bereich drang die Dämonenstimme, gegen die die Exorzisten ihre Beschwörungen schleuderten. Drangen die Nebelgestalten jener Nacht, in der er um Cayetana rang. Drangen andere, die von den Phantasien seines Stifts in menschenähnliche Form gebannt worden sind, als westen sie in der Welt der Körper. Jetzt, da der Einsame über das nahe und ferne Leben hinblickt als über ein grausiges Schattenspiel – jetzt sieht er mehr von diesen Wächtern, von diesen siegreichen Truppen des Fürsten der Finsternis, die dafür sorgen, daß keinem Menschen auch nur ein Tropfen aus dem Kelch der Bitternis erlassen werde.

Sie nehmen für ihn Gestalt an. Er sieht sie vorüberschwirren, sich recken über den Häusern, sich unter die Menschen mischen. Sein Schauen, sein Wissen baut ihnen Körper, zwingt sie in furchtbare Formen hinein. Manchmal ist ihm, als habe er Gewalt über sie: die Gewalt, daß sie sich ihm sichtbar machen müssen. Darum erträgt er sie. Darum hält er auch der Frage nach dem Sinn des eigenen Daseins stand.

Er verliert den Lebensmut nicht, es sei denn für Stunden. Die Welt um ihn färbt sich dunkler, aber er denkt nicht daran, sein Dasein gewaltsam aus ihr herauszureißen. Einerlei, ob dieses Dasein Sinn hat oder nicht – wir sind da, wir bleiben da! Wir erkennen die Dinge und ihre Hintergründe in ihrem nackten Grauen, aber wir tragen die Erkenntnis nicht nur als eine Bürde mit uns herum – wir genießen das Bewußtsein, frei zu sein von Selbsttäuschungen. Und es gibt Menschen, deren Dasein Sinn hat: alle die, denen es gelingt, zu bauen, zu schaffen – Menschen des Geistes, Menschen der Kunst.

Wie er damals auf der Paßhöhe in kalter klarer Nacht, in der Nacht des Verhängnisses, sich den Felsen und den Sternen verwandt fühlte, so weiß er jetzt, weiß es als dauernden Besitz, daß sich ihm Quellen geöffnet haben, die nur den Auserwählten Wasser spenden, spürt die Wärme des Künstlerstolzes mitten in seinen Visionen des Grauens: Ich bin, ich schaffe – allem zum Trotz. In solchen Augenblicken denkt er gar nicht an jenes Ziel, das in den Caprichos seine erste Formung gewann, das Aufrütteln und Aufrufen der Menschen – er denkt nur an das Gestaltenkönnen, das Gestaltenmüssen, einerlei, was der Inhalt der Gestaltung sei: Ich kann, und von dem, was ich kann, wird manches bleiben – über diese Zeit hinweg.


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