Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel

Wie der Boden immer brenzeliger wird, und des Philosophen Abschiedsrede

Ja, Alexander Schmälzle hatte sich das Wiedersehen anders ausgemalt, und er fühlte sich von dem, was er hier in zwei Stunden zu sehen und zu hören bekommen, so erschüttert, daß er noch am ganzen Körper bebte, als ihn das Fräulein von Montmerle längst verlassen hatte.

Er hatte sich gut sagen, daß seine Freundin im Grund unschuldig sei an den wüsten Zuständen und Verhältnissen in ihrer Familie; ihm graute nun einmal vor diesem Haus und seinen Bewohnern, und eine unsägliche Angst befiel ihn bei dem Gedanken an den andern Morgen.

Aber warum diesen Morgen erst abwarten? Er war ja in Frankreich, und so konnte nichts natürlicher sein, als hier sich französisch zu verabschieden. Zum Glück hatte er sein Gepäck in St. Feréol gelassen.

Aber man hatte die Haustür geschlossen, er hatte es selber gehört. Was tun? Nun, sein Schlafzimmer lag ja zu ebener Erde und das Hoftor war unverschließbar. Und kurz entschlossen, und nachdem er an seiner Tür gehorcht, ob auch alles still sei im Hause, stieg Alexander aus dem Fenster, und leise und verstohlen, wie ein Dieb in der Nacht, verließ er das unheimliche Haus und machte sich im hellen Mondschein auf den Weg nach St. Feréol.

Gegen zehn Uhr in der Nacht kam er dort an und ließ sich im ersten besten Hotel ein Zimmer geben. Seine Erschütterung hatte sich schon unterwegs gelegt, und er schlief jetzt den Schlaf der Unschuld bis in den hellen Morgen hinein. Er frühstückte dann noch im Hotel nach echt französischer Art mit einer großen Bulle Milchkaffee und einem Viertel Weißbrot.

Das Hotel war still, wie ausgestorben. Nur von der Straße her hörte man ungewöhnlichen Lärm. Als Alexander das Haus verließ, um sich nach dem nahen Bahnhof zu begeben, wurde es ihm doch plötzlich bange bei dem, was er sah und hörte.

Ganze Truppen jüngeres Volk beiderlei Geschlechts zogen, Fahnen und Blumensträuße schwenkend, durch die Straßen. Sie sangen die Marseillaise, und zwischen dem Singen stießen sie begeisterte Vivatrufe aller Art aus, die wie ein Echo von allen Seiten her widerhallten.

Alexander hatte zum Glück nur wenige hundert Schritte zum Bahnhof. In der Vorhalle stieß er plötzlich auf einen älteren Herrn mit glattrasiertem, fleischigem Gesicht und tadellosem schwarzen Anzug.

Der junge Deutsche fuhr ordentlich zurück.

»Ums Himmels willen,« rief Herr Tissot, »wo kommen denn Sie her, Herr Alexander, und wo wollen Sie hin?«

Alexander stotterte etwas. Er war zu überrascht von der unvorhergesehenen Begegnung.

»Aber Sie wissen am Ende noch gar nicht ...«

»Was?« fragte Alexander ein wenig wie geistesabwesend.

»Richtig«, rief Herr Tissot. »Die ganze Welt weiß es seit zwei Stunden: Nur dieser junge Deutsche weiß noch nichts davon. Was hat Ihnen nur so völlig Augen und Ohren verstopft? Nun, ich weiß es ja, Sie sind ein Träumer. Also, der Krieg ist erklärt.«

Herr Tissot mußte lächeln.

»Sie scheinen sich aber gar nicht zu verwundern. Was geht das Sie auch an, nicht wahr? Ein wenig doch. Sie wollten nach La Renardière. Diese Reise werden Sie jetzt besser für später aufschieben ...

Was sagen Sie, Sie kommen schon von La Renardière? Ei! Das ist schade. Wahrhaftig. Ich meine, es ist schade, daß Sie nun von unserem schönen Frankreich als Letztes wahrscheinlich recht wenig schöne Eindrücke mit nach Hause nehmen. Freilich ist es Ihre Schuld. Waren Sie denn eingeladen? Nun, sehen Sie. Wo man nicht eingeladen ist, soll man keinen Besuch machen. Soviel Takt muß ein Mensch haben. Aber Sie sind ein Deutscher. Oh, diese Deutschen, Ihre Landsleute. Sogar Ihr alter König, der graue Guillaume, ist grad' wie Sie. Möcht' uns auch gern einen Besuch machen und hat ihn doch niemand geladen. Pardon.

Und nun müssen Sie leider für den Augenblick einzig darauf bedacht sein, so gut es gehen will, über die Grenze zu kommen. Ich habe in Nancy zu tun. In einer Viertelstunde geht ein Zug. Fahren Sie mit mir dorthin, von dort wird es am ehesten möglich sein, einen Anschluß nach Kehl zu erreichen.«

Alexander war es zufrieden, und wahrhaftig, er hatte allen Grund, dem immer liebenswürdigen Exnotar für seine abermalige Hilfsbereitschaft in Rat und Tat dankbar zu sein.

»Nun,« sprach Herr Tissot, als sie im Zug untergebracht waren, »erinnern Sie sich noch, was ich Ihnen ehemals über unseren Philosophen Fourier und seine Phasen von Weltglück gesagt habe. Von der Phase der Einheit habe ich Ihnen gesprochen und wie nahe sie bevorstehe. Erinnern Sie sich? Nun denn, bewundern Sie, wie richtig Fourier gerechnet hat. Denn nur darum mußte dieser Krieg jetzt ausbrechen, um wie ein notwendiges luftreinigendes Gewitter den goldenen Tag der Zukunft, die Phase der Einheit herauszuführen zum Glück der Menschheit.

Und selbstverständlich sind wir, die wir den Philosophen-Propheten Fourier aus uns erzeugt haben, sind wir Franzosen dazu berufen, den Absichten des ewigen Weltschicksals als erste entgegenzukommen und alles wegzuräumen, was diesen Absichten widerstrebt, auch diejenigen, wie sie es verdienen, zu züchtigen, die sich in blinder Verstocktheit der ungeahnten Evolution des Weltgeistes zu widersetzen die Vermessenheit haben.

Sie, mein junger Freund, als guter deutscher Protestant, kennen wohl die Bibel. In diesem etwas wirren Buch, voll der tollsten Widersprüche, steht der Satz, der uns mehr als jeder andere befremden muß; er lautet: ›Widerstehe nicht dem Bösen.‹ Nun, in der bösen alten Zeit, für die das geschrieben wurde, mag es gegolten haben. Heut aber, bei der Annäherung des Tausendjährigen Reiches, wovon schon die älteste Menschheit ahnend träumte, das heißt des Reiches und der Herrschaft menschlicher Güte und ewiger Versöhnung, heute gilt das Wort: Widerstehe nicht dem Guten. Wehe, wer es überhört. Wehe dem alten schwachsinnigen König von Preußen, der nicht wußte, was er tat, als er sich herausnahm, Frankreich den Krieg zu erklären ...«

In diesem Sinne sprach Herr Tissot noch lange weiter.

Zuletzt aber, auf dem Bahnhof zu Nancy, vor dem fast häßlichen Lärm der Wirklichkeit, verstummte die Philosophie.

Um so rührender war Herr Tissot bemüht, den jungen Deutschen in den richtigen Zug zu befördern, der ihn bei Kehl über den Rhein bringen sollte, wenn anders die Bahnbrücke dort noch nicht gesprengt war.

Wirklich gelang es Alexander durch Herrn Tissots Hilfe, eine Fahrkarte und zuletzt auch einen Stehplatz in einem offenen Frachtwagen, der sonst zum Transport von Vieh diente, zu erhalten, und er war jetzt selbst um diese Beförderung noch froh; denn die gar nicht liebliche Melodie, mit der im Bahnhof zu Nancy die Rufe: » Vive la guerre! à bas les Prussiens! A Berlin! A Berlin!« ausgestoßen wurden, mußte sogar einem so weltfremden Träumer wie diesen Alexander aus Hinterwinkel allmählich unheimlich werden.


 << zurück weiter >>