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Achtes Kapitel

Katzenjammer

Ich konnte meinem Vater nicht Unrecht geben, wenn er meinte, daß nun die Nadel meine einzige Hoffnung sei und daß ich viel verlorene Zeit einzuholen hätte.

Um diese Zeit – bald nach dem Krieg – kam eine Unruhe neuer Art über mich. Ich sah eines Morgens, noch ungekämmt, zum Fenster hinaus oder wollte hinaussehen; denn ich kam nicht recht dazu, ich fuhr wie vom Blitz getroffen zurück in die Stube: vor einer städtischen Modepuppe (wie man in Hinterwinkel gesagt haben würde) mit lächerlich glockenförmig gebauschtem Rock und Ärmeln, die wie zwei Flügel herunterhingen, und einem grünen Schleierhütchen auf dem Kopf, dessen Blondhaar, von einem schwarzen Netz zusammengehalten, im Nacken hing, kurz von einer Erscheinung im Äußern so seltsam fremd wie im Innersten altbekannt und vertraut – vor Olga Rotermund.

Und bald stand sie vor mir in der Stube. Und ich konnte es noch immer nicht recht glauben, daß sie es auch wirklich sei, so groß war sie geworden und so ... ich fand kein Wort dafür.

Wir schauten uns auch beide nur so von der Seite an, fast mit peinlicher Scheu und Verlegenheit.

Erst mit der Zeit fand ich die alte Vertrautheit wieder. Olga hatte von meinen Kriegserlebnissen gehört, und ich mußte ihr erzählen. Und sie hörte zu mit großen erstaunten Augen – wie in den alten Zeiten auf dem Kahlenbuckel oder den Heiligenäckern am Rand des Salmischen Gehölzes, wenn ich von dem schwarzen oder veilchenblauen Skarabäus oder dem smaragdgrünen Goldschmied selbstgedichtete Märchen berichtete. Ich merkte zum Glück nicht, daß das angehende Fräulein aus der Hauptstadt von Zeit zu Zeit über meine allzu hinterwinklerische Sprache lächeln mußte. Ich sah nur, wie es in ihren frommen blauen Augen leuchtete; ich fühlte, daß ich bewundert wurde.

Nun war ich erst stolz auf meine großen Erlebnisse.

Die Olga ihrerseits erzählte mir von ihren Studien. Sie war Schülerin eines Instituts, das unter der unmittelbaren Fürsorge der Königin stand und für eine Musteranstalt galt. Das ehemalige Dorfkind hatte in der kurzen Zeit erstaunlich viel gelernt.

Zwar was sie mir Französisches vorlas, verstand ich nicht; aber in meinem französischen Walter Scott (den ich noch immer fleißig studierte) konnte sie nicht wie ich zusammenhängend übersetzen. Sie lachte jedoch über mich und erklärte mir, daß ich kein Wort richtig ausspräche, daß man mich unmöglich verstehen könne, worüber mich eine große Traurigkeit anfiel, als ob ich ein Examen zu bestehen gehabt hätte.

Olga bemerkte, wie ich unglücklich wurde, und gab sich Mühe, mich nicht mehr auszulachen. Sie sprach mir einzelne Silben und Worte vor und versicherte, daß ich sie richtig nachspräche. Sie sagte, daß sie froh wäre, wenn sie soviel Französisch könnte wie ich; meine Aussprache sei nur deshalb unrichtig, weil mir niemand die Sache recht vorgesprochen habe. Von selber könne man so etwas nicht lernen.

Solche kluge Reden führte das zwölf- bis dreizehnjährige Mädchen. Ich aber machte mir dabei die traurigsten Gedanken. Ein ungeheurer Neid stieg abermals in mir auf, wenn man das bittere Gefühl meines Nichtsbewußtseins so nennen muß.

In einem anderen Sinn wurde mir doch auch unendlich wohl bei der ehemaligen Gespielin. Wir lachten viel miteinander, indem wir unsere Erinnerungen von früher durchgingen, unsere kindischen Vorstellungen von Königsschlössern und »Göten« und Königinnen darin.

Die kleine Olga – eigentlich gar nicht mehr klein – war Meisterin im Lachen. Ihre Gelehrsamkeit hinderte sie nicht im geringsten daran. Ich sah das Mädchen oft mit komischer Verwunderung an. Sie schien mir bald dieselbe geblieben zu sein wie ehemals, bald wieder wollte sie mir als eine ganz andere vorkommen, die ich nie gekannt hatte, was wohl hauptsächlich von den städtischen Modekleidern kam, diesem rundum weiß- und grüngestreiften Rock, der an seinem untern Saum ein förmliches Rad bildete, und diesen hängenden Flügeln an den Armen und diesem kecken Hütchen mit dem grünen Schleier, welches alles meinem Hinterwinkler Herzen gar nicht gefiel und doch imponierte.

Von dem geheimen Nagen in mir, von dem Gefühl der Ratlosigkeit und Ohnmacht, mein Leben nach dunkeln Wünschen und Ahnungen zu gestalten, schien Olga nichts zu bemerken.

Auch Musik machten wir zusammen. Olga hatte im Klavierspiel merkliche Fortschritte gemacht. Doch trug sie zwar gefällige, aber durchaus nur leichte und unbedeutende Sachen vor, die ich ihr ohne Schwierigkeit nachspielte, worüber sie sich nicht genug verwundern konnte. Aber statt daß diese Wahrnehmung und Anerkennung meiner Fähigkeit mich beglückte, erhöhte sie nur meine Traurigkeit und Bitternis. Ich sagte mir, daß ich eben trotzdem nur ein ungeschickter, verachteter Schneider sei und allem nach auch bleiben werde mein Leben lang.

Alles wäre noch gut gewesen, wenn wir zu Hause gearbeitet hätten. Statt dessen mußte ich mit zu den Bauern ziehen und in jedem Hause andere Sticheleien hören über meine lateinischen und musikalischen Pläne. Man hatte diese schon genug bespöttelt, als noch der Stern der Hoffnung verheißend über ihnen geleuchtet, nun machte man sich um so unbarmherziger darüber her.

Diese Sticheleien der anderen verleideten mir in hohem Grade die Stiche, die ich selber machen sollte. Der ewige Spott machte mich noch widerwilliger, so daß ich sogar dem Hirtenamt, so oft es gehen wollte, vor der Schneiderei den Vorzug gab. Nur trieb ich die Herde nicht selber zusammen, das mußte die Mutter tun. Und dann verlor ich mich mit meinen Geißen in die abgelegensten Gegenden des langrückigen Kahlenbuckels. Die Einöde tat mir wohl. Meine Phantasie gestaltete sie zu einer weltfremden Wildnis und ließ mich Hinterwinkel vergessen. Ich trieb das Spiel meiner Einbildungen so weit, daß ich mir verzweifacht vorkam. Ich dachte mich als den wilden, phantastisch aufgezottelten und bekränzten Hirten des Wüstengebietes, wovon ich gelesen hatte, und zugleich als den halbverhungerten und wegverirrten Wanderer. Und dabei entspannen sich zwischen den beiden »Ich« meiner Einbildungskraft, durch mein drittes eigentliches Ich vermittelt, die närrischesten Zwiegespräche.

Doch bald merkte ich, daß ich mich nur selber anlüge und weder in der Wüste Sahara noch auf dem Karmelgebirge sei, sondern auf dem Kahlenbuckel von Hinterwinkel. Da kam ich mir recht elend und schuftig vor, ein erbarmungswürdiger Feigling, denn sonst würde ich mir ein Herz gefaßt haben und damit auf und davongegangen sein. Ich beneidete den Bock meiner Herde, der so stolz einherging, als ob ihm die Welt gehörte, der nicht das geringste an sich und seinem Zustand auszusetzen fand, auch von Zeit zu Zeit so selbstgefällig meckerte, daß es mir wie ein Stich durchs Herz ging.

Das kriechende und fliegende Getier um mich her, auf das ich sonst wie auf tausend Wunder mit gespanntem Lauschen Obacht gegeben, konnte ich nicht mehr ansehen, ich mußte alles töten, was mir Lebendiges unter die Hände kam. Ich war nahe daran, ein böser Mensch zu werden. Kurz, ich war, ob man darüber lächeln mag oder nicht, ich war mit Gott und der Welt zerfallen. Ich bat den Vater, mir meinen Lehrbrief auszustellen und mich in die Fremde zu schicken.

»In zwei Jahren«, sagte er ruhig.

Auf diese Erklärung erklärte ich trotzig, daß ich heimlich fortgehen werde. Da mußte meine Mutter, die mich nicht mehr begriff, noch mehr weinen.

»Kind, Kind,« rief sie, »weißt du denn, was für gottlose, sündhafte Reden du führst? Hab' acht, daß Gott dich nicht straft; du wirst in deinem Leben noch Fremde genug bekommen, mehr als dir lieb sein wird. Du wirst dann fühlen, wie es tut, wenn man fremd ist, wenn man niemand hat, der einem angehört, der Freude und Kümmernisse mit einem teilt; weinen wirst du dann vor Einsamkeit und Verlassenheit, die das größte Elend sind für die menschliche Kreatur, und wirst bitter deine heutige Torheit bereuen. – Aber daran bist du schuld,« wandte sie sich gegen den Vater, »du hast ihm die Fremdsucht zuerst ins Geblüt gepflanzt und in den Kopf gesetzt.«

Mein Vater verteidigte sich und mich.

»Nein,« sprach er, »der Grund liegt darin, daß ich kein richtiger Hinterwinkler bin, und so ist es auch der Alexander nicht.«

Vater Jakob betrachtete nachdenklich seinen Ring.

»Wer weiß,« fuhr er fort, »wo meine unerkannte Mutter herstammte. Das liegt im Blut, mir und dem Alexander. Wir sind hier fremden Ursprungs, und es freut mich, daß der Alexander das so stark fühlt.«

Er sprach nicht genau diese Worte, die ihm wohl nicht zur Verfügung standen, aber er meinte es so, und ich verstand ihn. Er war ja mein Vater, wir waren ein und derselbe, nur in verschiedenem Alter. So trugen wir auch ein und denselben Glauben in der Seele. Ich erwartete ein Wunder und er glaubte an seinen Ring.

Das Ende des Gesprächs hatte ich von der Kammer her mit angehört. Ich hätte aufjauchzen mögen hinter meiner Kammertür über diese Rede meines Vaters.

Einen Augenblick stand ich im Begriff, hinauszustürzen und unter Dankestränen meinem Vater um den Hals zu fallen. Es wäre in unserer Familienpraxis eine unerhörte Gefühlsäußerung gewesen, aber dem Zustand meines Innern hätte ein so außerordentliches Tun vollkommen entsprochen. Ich folgte dem Impuls nicht; ich schämte mich und hielt mich in Sitte und Herkommen.

So ist der Mensch, und ich war ohnedies nur ein armer Schneiderlehrling.

Ich schlich mich von der Kammer in die Küche und von dort durch die Hintertür ins Freie.

Ich ließ mich diesmal nicht von den engen Grenzen der Landspitze oder Halbinsel, auf die unsere Hintertür hinausging, festhalten; mit einem kühnen Anlauf übersprang ich den weidenumsäumten Haselbach und setzte auf das Festland, die freien Wiesen, hinüber. Und auf dem abgemähten Rasen, wo häufchenweise die blassen Zeitlosen hervorbrachen, die man in Hinterwinkel »Nackte Fräulein« nennt, schlenderte ich das Tal hinauf, pfadlos in der Nähe des Baches. Der späte Herbstabend war kühl und die Dünste der Wiesen, von der Kälte niedergedrückt, lagen wie ein weißes Linnen über dem Rasen, wie um die zarten nackten Spätblumen vor dem Erfrieren zu schützen, so daß einmal ein fahlblauer Reiher, der in einiger Entfernung dem Bach entstieg, ganz gespenstisch wirkte, weil seine langen Stelzbeine nach unten im Nebel verschwanden, in dem er wie schwimmend sich bewegte. Und so ragten auch die Pappeln den Bach hinauf wie fußlos über dem weißen Leilaken empor mit den wenigen übriggebliebenen goldenen und zum Teil schwarzen Blättern.

Ich selber, langsam vor mich hinschlendernd, müßte für einen Beobachter, von unsrer Brücke her, wie ein schwankendes schwarzes Phantom über den Nebeln geschwebt haben. Aber in meinem Innern war's mehr als lebendig und das Herz klopfte mir mit großem Ungestüm in dem hohen Bewußtsein, einen Vater zu besitzen, auf den ich stolz sein könnte.

Dieses Vaters wollte ich würdig sein. Und in Anwendung einer seltsamen Logik glaubte ich dies am vollkommensten durch Ungehorsam zu erreichen; ich wollte ohne seine Erlaubnis, die ich nicht erhalten konnte, in die Fremde gehen. Während ich, obwohl die Nacht hereinbrach, in Wiesen und Feld hinausstreifte, malte ich mir die Einzelheiten meines großen Planes in Gedanken aus. Natürlich würde ich gleich in die Residenz gehen und dort Arbeit suchen, wenn auch beim schlechtesten Winkelschneider. Aber durch unermüdlichen Fleiß würde ich voran und zu besseren Meistern kommen. Olga und ihre Göte besuchte ich einstweilen nicht, aber ich trachtete sie zu sehen und freute mich darauf, wenn ich eines Tages in seinen Kleidern vor sie hintreten würde ...

Mein heldenhafter Plan blieb unausgeführt. Und das kam wie folgt.


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