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Fünftes Kapitel

Der Vetter Pankraz

Seit zwei Stunden saß Alexander in der Pförtnerloge des » Collège des frères de Marie«. Der große fette Portier war ein Kerl, dessen Physiognomie Alexander an den Finzer erinnerte. Er schien nur eine einzige Beschäftigung zu haben, nämlich über die Geschichten und Anekdoten eines anderen Bruders breitmäulig zu lachen und aus seiner schwarzen Lackdose alle fünf Minuten eine Prise Tabak zu nehmen.

Von Zeit zu Zeit schritten ernste Männer, einzeln oder zu zweien, in priesterlicher Gewandung, vornehm durch das Vestibül. Und Besuche aus der Stadt erschienen: Damen in reichen Toiletten, hohe Offiziere, Zivilpersonen mit einem roten Bändchen im Knopfloch ihres schwarzen Überrockes. Dann legte der Bruder Pförtner für einen Augenblick eine amtsbewußte, ernste Miene an. Sobald sich die beiden Confratres aber wieder allein sahen, hub auch ihr Geschwätz und Gelächter von neuem an.

Sie schienen von jedem Vorübergehenden eine Geschichte zu wissen. Wiederholt sprachen sie sich flüsternd Worte ins Ohr, und je leiser sie sprachen, desto lauteres Lachen folgte.

Eine blau gekleidete Nonne erschien am Schalter. Der Bruder Pförtner sprach lachend und vertraulich mit ihr. Und sie trat in seine Loge und beteiligte sich am Gespräch der beiden Brüder der Mutter Gottes, ohne daß dies den seitherigen Ton änderte. Es war eine lustige Schwester, alt, klein, gelbfarbig im Gesicht, mit rasierter Oberlippe; sie sprach mehrmals der Dose des Pförtners zu, und der Tabak schien ihr nicht ungewohnt. Auf einmal bemerkte sie Alexander, und indem sie ihn mit ihren stechenden kleinen Augen zu durchbohren drohte, machte sie eine fragende Geste.

»Ein deutscher Bettler oder so etwas«, sagte der Pförtner.

»Was will er denn?«

»Was weiß ich, er scheint stumm zu sein.«

Die Nonne sah den deutschen Bettler mit einem Blick christlichen Mitleids an. »Die armen Deutschen,« sagte sie, »sie sind recht zu beklagen; zu Hause haben sie nichts zu nagen und zu beißen, und in der Fremde achtet man sie geringer als Hunde. In ihrem Lande sollen die Leute Baumrinde und Torf essen statt des Brotes.«

Jemand trat durchs Hauptportal ein und kam auf die Pförtnerloge zu, ein Mann mit einem altmodischen Zylinder, einem langen, schwarzbraunen Tuchrock, der an den Knöpfen herunter, gleich wie die darunter hervorstehende Weste, nicht ganz sauber aussah.

»Ah, voici, Monsieur Chemellecelé«, riefen der Bruder Pförtner und der Bruder Ökonom und die Schwester Eulalia zugleich.

»Gewiß haben Sie alle Taschen voll Neuigkeiten«, wandte sich der geweihte Torhüter an den Eintretenden.

Und wirklich hatte Herr Chemellecelé für jeden eine andere Geschichte, die er mit viel Behaglichkeit und Schmunzeln vortrug. Jedesmal an der interessantesten Stelle zog er aus dem Hinterteil seines Rockes ein ungeheures blaues Taschentuch, schneuzte sich damit sehr geräuschvoll und ließ sich vom Bruder Pförtner eine Prise geben. Auf diese Weise erhöhte er, nach Art aller geschickten Erzähler, die Spannung seiner Zuhörer bis zum Reißen.

Sein gelbbraunes runzliges Gesicht sprach bald von apathischer Stumpfheit, bald von intrigantenhafter Pfiffigkeit.

Er erweckte in Alexander, wie die andern, den Eindruck unsäglicher Gemeinheit.

*

Hier eine Parenthese.

Indem ich, Ich, Alexander Schmälzle, dieses Kapitel nachträglich durchlese, kommt mich ein Bedenken an. Denn was ich da niedergeschrieben habe, wirkt fast so, als ob der ehemals so fromme und katholisch gläubige Hinterwinkler im Handumdrehen zu einem protestantischen Nationalliberalen geworden wäre, also gewissermaßen zu einer Art von Grafen Hoensbroech, der in diesen Tagen allen Philistern des Geistes so ungeheuer imponiert hat. Mit so einem, trotz seines vornehmen Titels, möchte der Lexel aus Hinterwinkel nicht verwechselt werden. In dem Herrn Ex-Unterlehrer aus Hopfingen war es, seiner eingebildeten Gelehrsamkeit zum Trotz, gerade die Frömmigkeit und kirchliche Gläubigkeit, die sich in ihm empörte beim Anblick dieser priesterlichen Welt, die sich ihm so unheilig darstellte, und die er sich doch ganz anders gedacht hatte.

Er war dennoch im Unrecht. Er hätte bedenken sollen, daß er nicht Priester, sondern eben eine Art Küstervolk vor sich hatte. Was aber ein Küster ist, und ich möchte das Wort im weitesten Sinn verstanden wissen, auch in der Musik und der Kunst überhaupt gibt es Küster, das hat sich längst abgewöhnt, Scheu und Ehrfurcht zu empfinden vor dem Heiligen. Das hantiert ja vom Morgen zum Abend im Heiligtum herum, wie ein Handwerker in seiner Werkstatt, und müßte viel zu tun haben, wenn es nun aus den Schauern der Seele den ganzen Tag nicht herauskommen wollte. Es spürt vielmehr längst keine mehr. Aus reiner Gewohnheit. Eine Amme nennt unser Schiller die Gewohnheit. Und wie hat er recht! Denn leicht wirkt eine Amme schamlos auf den allzu Empfindlichen, da sie unbedenklich zeigt, was andern Frauen peinlich zu verstecken die Wohlanständigkeit gebeut. Deswegen ist die Amme doch unschuldig. Und unschuldig ist alle Gewohnheit. Sie ist nur manchmal dumm. Und oft ist sie ein wenig gewöhnlich. Denn die Ammen, woher nimmt man sie anders als aus dem geringen Volke ...

*

Geraume Zeit verging, ehe der Bruder Chemellecelé den Fremden beachtete.

» Sacre bleu! Den hätt' ich fast vergessen,« rief der Pförtner, »das ist nämlich ein Landsmann von Ihnen, mein lieber Bruder in Maria; was er will, weiß ich nicht.«

»Sie sind ein Deutscher, wie ich höre«, wandte sich Monsieur Chemellecelé französisch an Alexander.

» Je suis de Hinterwinkel«, antwortete dieser und dachte heimlich, ich wollt', ich wäre dort.

Er erhielt keine Antwort und erklärte auf deutsch noch einmal, daß er aus Hinterwinkel gekommen sei und seinen Vetter Pankraz suche, und daß er dem Herrn Chemellecelé sehr dankbar wäre, wenn Herr Chemellecelé ihn zu diesem Vetter führen möchte.

Da mußte Herr Chemellecelé laut herauslachen.

»Es scheint fast, daß ich Ihr Vetter bin«, sagte er deutsch.

Alexander ging ein Licht auf. Schmälzle hieß also auf französisch Chemellecelé ...

Als der junge Deutsche eine halbe Stunde später mit Monsieur Chemellecelé nach der Stadt hineinwanderte, fand er sich in seinem Wissen um drei Erkenntnisse reicher als am Vormittag.

Erstens wußte er, das Collège des freres de Marie werde ihn nicht, wie er gehofft hatte, gegen Erteilung einigen Musikunterrichtes als Hospitanten aufnehmen, bis er eine Stellung gewonnen hätte; zweitens: es sei in dem Lande sehr schwer, ja fast unmöglich, sich als Fremder Unterrichtsstunden in Privathäusern oder Anstalten zu verschaffen, denn wenn die Musiklehrer hier selten seien, so meine man dafür auch nicht, daß in jedem Haus auf einem oder zwei oder drei Klavieren herumgeklimpert und gestümpert werden müßte, wie im lieben Deutschland daheim; die Franzosen seien ein viel materielleres Volk als die Landsleute von Schiller und Goethe und hielten dafür, daß wohl einzelne zu sonst nichts brauchbare Individuen die Kunst pflegen möchten, alle anderen aber die Finger davon lassen und etwas Nützlicheres treiben sollten.

Drittens wußte Alexander, daß sein Vetter Pankraz dafür halte, das Gescheiteste sei, er packte zusammen (trotzdem er noch gar nicht ausgepackt hatte) und fahre schnurgerade nach Hinterwinkel oder Hopfingen zurück.

»Ich versichere Ihnen, daß ich nicht imstande sein werde, Ihnen auch nur eine einzige Unterrichtsstunde in Klavier- oder Violinspiel zu verschaffen«, schloß der Vetter seine lange Rede.

»So werde ich in den Kaffeehäusern aufspielen«, entgegnete Alexander trotzig. »Kunst bringt Gunst, mir ist es nicht leid um mein Brot. Ich will mir die engste Mansarde der Stadt mieten und darin soll mir's im Gefühl der Freiheit wohler sein als Euch in Eurem riesigen Gefängnis.« ...

Alexander wunderte sich selber, wo er den Mut hernahm zu einer derartigen Sprache. In Hinterwinkel oder auch in Hopfingen hätte er einen solchen Ton nie gefunden.

Sein Vetter Pankraz aber verwies ihm die unfromme Rede. Er wolle Alexander nichts Schlimmes wünschen, aber freche und frevelhafte Worte lasse Gott nicht ungestraft hingehen.

Monsieur Chemellecelé sprach in so gebrochenem Deutsch, daß er seinem Vetter Mitleid einflößte. Nicht nur Mitleid. Alexander war entsetzt, daß ein deutscher Mann so seine Muttersprache vergessen könne, gleich einer unwerten schlechten Sache, ohne den geringsten Schmerz darüber zu empfinden.


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