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Sechstes Kapitel

Ein Philosoph muß einem Mönchlein aus der Verlegenheit helfen

Die beiden ließen gerade die Vorstadt hinter sich, an deren Ende das Haus der Marienbrüder lag, und schritten dem Pont Saint-Amour entgegen, da kam plötzlich Alexanders neuer Freund von der Seite her auf sie zu.

»Das ist der Herr von gestern«, flüsterte Alexander seinem Vetter zu. Vetter Pankraz kannte den Exminister. Er ging auf ihn zu und grüßte sehr untertänig. Der Franzose aber wunderte sich, seinen Geographielehrer in dieser Gesellschaft zu treffen.

»Denken Sie, Herr Tissot, was für eine hirnverrückte Geschichte das ist«, begann Monsieur Chemellecelé. »Dieser junge Mann da, mein Vetter, könnte in seinem Vaterland Professor sein, aber das verschmäht er und hat in seinem jugendlichen Übermut, um die Vergnügungen und Freiheiten der Großstadt zu genießen, den abenteuerlichen Plan gefaßt, hier zu leben und mit Musikunterricht sein Brot zu verdienen. Ich habe ihm alle Schwierigkeiten vor Augen gestellt und ihn aufgefordert, unverzüglich umzukehren. Umsonst; der junge Tollkopf, den eine kleine Erbschaft zu jucken scheint, will einmal lieber ein vagabundierender Musikant und Künstler sein, wie er es nennt, als im ruhigen und sorgenlosen Genuß eines sicheren bürgerlichen Amtes leben.«

Voll Befremden hörte Alexander diese aus Wahrheit und Lüge gemischten Worte. Er wollte sich dagegen verteidigen. Aber Herr Tissot ließ ihm keine Zeit.

»Ich tadle Sie nicht, mein Herr,« sagte er freundlich; »wenn Sie Künstlerberuf in sich spüren, brauchen Sie das Leben einer großen Stadt. Man könnte sogar sagen, Sie müßten nach Paris gehen, und das werden Sie später auch tun ...«

Alexander wuchs förmlich in die Höhe, während der Franzose so sprach.

»Sie suchen ein Zimmer zu mieten,« fuhr der Franzose fort, indem er nachdenklich vor sich hinsah; »ich hätte vielleicht eine Stube für Sie, wenn Sie keine großen Ansprüche machen, wenigstens für die ersten Wochen; später könnte ich Ihnen auch etwas Besseres geben.«

Alexander versicherte, daß ihm das bescheidenste Stübchen genügte, und Herr Tissot erklärte sich bereit, sofort mit ihm nach seiner Wohnung zu gehen. Herrn Chemellecelé aber fiel ein, daß ihn seine Pflicht in die Anstalt zurückrufe, und mit schlecht verhehlter Freude, den Vetter los zu sein, nahm er Abschied.

Während die beiden über den Pont Saint-Amour dem schwarzen Tor zuschritten, erkundigte sich Herr Tissot endlich nach dem Namen seines Begleiters.

»Alexander Schmälzle«, antwortete dieser stolz.

»Che – che ... je vous demande pardon, monsieur.«

»Schmälzle«, wiederholte Alexander.

Der Franzose sah ihn in peinlicher Verzweiflung an. Er schien seine Verständnislosigkeit als eine große Unhöflichkeit gegen den Gast zu empfinden. Was sollte da Alexander machen? Chemellecelé mochte er nicht genannt sein: erstens, weil er Schmälzle hieß, zweitens, weil man seinen Vetter Pankraz so nannte, für den er sich nicht begeistern konnte. Er entschuldigte sich deshalb höflich, einen so unaussprechlichen Namen zu haben, und bat den Franzosen, ihn kurz Alexander zu nennen. Seitdem hieß er: Monsieur Alexandre.

»Nous voici«, sagte sein Begleiter und deutete auf eine offenstehende Haustür.

Alexander machte überraschte Augen. Er hätte die Wohnung seines Exministers nicht in einer Straße vermutet, wie die war, wo man sich befand.

Es war eine Arbeiterstraße, unsäglich schmutzig, sehr eng, mit dem Gossenstein in der Mitte, von unappetitlichen Gemüsegewölben und Spezereiläden garniert, das Pflaster voll ungewaschener halbnackter Kinder.

Und der Straße entsprach das Haus, in das sie eintraten. Dieser enge nackte Flur, diese beschmutzten Kalkwände, diese schmalen Stiegen, es sah nicht einladend aus.

Zwei schmutzigbleiche Kinder, die auf der Treppe herumrutschten, ein abgehärmtes, mit Lumpen behängtes junges Weib unter einer halboffenen Tür, ein zittriger Greis, der vor ihnen die Treppe emporkeuchte, ein Kretin mit sichelkrummen Beinen und entsetzlichem Wasserkopf: an solchen Geschöpfen kamen sie vorüber.

Finstere Befürchtungen stiegen in dem jungen Deutschen auf. Sein ehemaliger Exminister erschien ihm in diesem Augenblicke wenig vertrauenerweckend, trotz schwarzem Rock und untadeligem Zylinder, trotz dem roten Band im Knopfloch. Alexander erinnerte sich an das eigentümliche Lächeln des Monsieur Chemellecelé, wie er sich so eilig aus dem Staube machte. Auch dessen erlogene Bemerkung über seine Erbschaft fiel ihm ein. Hätte Alexander nicht den Vortritt gehabt, er wäre über Hals und Kopf die Stiegen wieder hinunter und auf und davon gestürzt. Doch als Herr Tissot endlich vor einer Tür stehenblieb, war es ein sauberer Glasverschlag mit schneeweißen Vorhängen hinter den Scheiben. Sie traten in einen dunkeln Vorraum mit schweren altmodischen Schränken aus Eichenholz an der Wand. Durch eine Glastür sah man in ein lichtes, geräumiges Gemach.

»Unser Eßzimmer«, sagte Herr Tissot. »Es ist den ganzen Tag leer und steht zu Ihrer freien Verfügung, wenn Sie bei uns wohnen.«

Dann öffnete Tissot in dem dunkeln Vorraum zwischen zwei Schränken mit rostschwarzen Eisenbeschlägen eine neue Tür und ließ Alexander vorantreten. Ein Schreibtisch voll unendlichen Papieren ohne sonderliche Ordnung, ein alter, mit Leder ausgeschlagener Sessel und rings an der Wand herumgehende, vollbesetzte Bücherschränke fielen dem jungen Mann zuerst in die Augen.

»Mein Reich,« sagte Tissot, »wo ich aber selten zu treffen bin, da ich die Mobilität liebe. Hier meine Bibliothek. Die Bücher mögen Ihnen vielleicht hie und da nützlich sein.«

Alexander zitterte vor heimlichem Entzücken bei diesen Worten. Das unerwartete Auffinden einer so reinlichen und ruhig behaglichen Welt, hoch über so viel Lärm und Schmutz und Verkommenheit hatte fast etwas Märchenhaftes für Alexanders aufgeregte Phantasie, und er würde kaum überrascht gewesen sein, wenn plötzlich eine Fee bei verschlossener Tür hereingetreten wäre und durch ihr Erscheinen alles umher in goldiges Licht getaucht hätte.

»Sie sollen nun auch gleich sehen, was ich für Sie bestimmt habe«, erklärte Tissot weiter. »Ich bitte Sie um Entschuldigung, Ihnen nichts Besseres anbieten zu können, aber betrachten Sie meine Stube ganz als die Ihrige.«

Sie kehrten in das Wohnzimmer zurück und gelangten von hier in einen kurzen, hellen Gang, eine Art Galerie, mit Glasverschlägen gegen den Hof. Hier schloß Tissot seitlich eine Tür auf.

Alexander stand gerade im Begriff, in das geöffnete Zimmer einzutreten, als er eine andere Tür, am Ende der Galerie, sich leise öffnen und darauf blitzschnell wieder schließen sah. Der Augenblick aber hatte genügt, ihn eine schlanke weibliche Gestalt in langem weißen Kleide erkennen zu lassen. War er wirklich in den Bereich einer Fee geraten? Herr Tissot schien nichts gesehen noch gehört zu haben.

Alexanders Stube hatte einen eigentümlichen Vorzug; eine Tür führte von ihr hinaus auf das ebene Dach des Hauses.

Da droben stand jetzt Alexander. Rings um ihn standen Giebel und Firste und fremdartige breite Kamine, die wie in ungeheuren dicken Orgelpfeifen endeten. Und Türme jeden Stils und Zeitalters, und Palastzinnen und Wetterfahnen schossen um ihn herauf, und weiter, den Horizont abschließend, die vielgestaltigen nackten Felsberge der Landschaft. Von unten aber, wie aus nebelüberdeckter unterweltlicher Tiefe herauf, klangen die verhallenden tausendfältigen Stimmen des brandenden Menschenozeans.

Herr Tissot hatte ihm einen Gang durch die Stadt vorgeschlagen. Aber Alexander hatte es abgelehnt, unter dem Vorwand, an seine Eltern schreiben zu wollen. Er konnte nicht schreiben. Er stand auf seiner Dachzinne, alles in ihm war aufgeregt.

Das Stadtbild, von den goldenen Lichtern der Sonne durchzuckt und durchblitzt, schien ihm von seinem stillen Plätzchen aus fast eine neckische, trügerische Vorspiegelung. Es war ihm wie ein Traum, als säße er am Bodenkammerfenster zu Hinterwinkel und sähe über Bach und Wiese und Pappeln hinweg hinüber zum Kahlenbuckel, während das Auge seines Geistes in fremde ferne Welten hineinsah. Nun war's umgekehrt geworden. Wie konnte er da anders als an Wunder glauben und auf Wunder hoffen und jede gemeine Sorge des Lebens als Ärmlichkeit und Feigheit verachten.

Und etwas Gewaltiges ging in ihm vor, ein neues Erlebnis der Seele, das er erst gar nicht zu fassen vermochte, und das ihm bald eine Seligkeit in die Brust goß, wie er sie vorher nie geahnt. Ja, er hatte schon ähnliches erlebt, aber viel schwächer und verschwommener, als wenn es unwirklich wäre sowohl in ihm wie außer ihm. Diesmal aber war's deutlich wie Worte, nur viel eindringlicher. Die tausendfach sich verschlingenden Linien, die leuchtenden, glühenden und brennenden Farben und die dunkeln Schatten, und alles, was das Licht vor seinen Augen auszumalen schien, Alexander empfand es plötzlich als Ton und Klang in seinem Innern, als Harmonie und Schönheit, darauf er horchen mußte mit dem Ohr seiner Seele, als reiche, flutende Musik, die ihn ganz mit Glück überströmte.


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