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Zweiter Teil
Weltgeschichte in Hinterwinkel

 

Erstes Kapitel

Das mit einer Zeitung anhebt und mit einer Predigt schließt

Der Steuerperäquator Heinzelmann war am 13. Juni gestorben und am 15. begraben worden. Am andern Tag, 16. Juni, saß ich, die Stunde des Mittagessens erwartend, mit gekreuzten Beinen auf dem Arbeitstische des Vaters, der auswärts schneiderte. Vor mir, auf meinen Knien, lag der neue Uniformrock des Polizeidieners Gartumb von Hinterwinkel. Dem stolzen Kleidungsstücke aus zweierlei Tuch fehlten, damit es in schöner Vollendung prange, nur noch die großen gelben Messingknöpfe. Diese sollte ich annähen.

Aber meine Hände lagen einstweilen müßig im Schoß. Und ich sah durch das offene Fenster, zwischen den hochroten Geranienblüten hindurch, nach dem Hause unseres Nachbars drüben, des Gerbers, der mit einem Zeitungsblatt in der Hand vor seiner Tür stand und zwei jungen Bauern etwas vorlas.

Der Herr Nachbar hielt für sich keine Zeitung, er mußte sie beim Ochsenwirt mitgenommen haben, wo er die zahlreichen täglichen Schoppen zu trinken pflegte, deren er bedurfte; denn die Gerber sind allezeit durstige Leute, weil sich ihnen der feine Lohenstaub in die Kehle setzt und immer hinuntergespült sein will.

Diesmal schien der Meister Appel noch einen Krug mehr als sonst getrunken zu haben. Sein Gesicht leuchtete noch röter als gewöhnlich, und seine braunen Arme mit zurückgewickelten Hemdärmeln fuchtelten mit großer Heftigkeit. Er hatte auch den einen Zipfel seiner safrangelben Schürze in den Gürtel hinaufgesteckt, und er rauchte statt seiner kurzen Pfeife eine Zigarre, zwei Umstände, die bei ihm auf eine außergewöhnliche Stimmung hinzudeuten pflegten.

Nachdem der Meister die Lesung beendet hatte, schien er deren Inhalt den beiden Hörern zu erläutern. Am häufigsten und zugleich am lautesten klang dabei das Wort »Preußen« an mein Ohr.

Meine Neugierde wurde durch diesen Namen nicht besonders erregt, ich verband damit nur sehr undeutliche Vorstellungen. Bei unserm Schulmeister Langbein hatten wir darüber nichts erfahren. Auch in meinen lateinischen Stunden beim Pfarrer war er nicht vorgekommen. Nur vom Vater wußte ich, daß man damit ein deutsches Land und Volk bezeichnete. Auch hatte mir der Vater früher, in der Kinderzeit, allerlei Geschichten von einem berühmten König der Preußen erzählt, den man den Alten Fritz oder auch den Großen Kurfürsten nannte, und den mein Vater sehr bewunderte, weil er einen ehemaligen Schneidergesellen zum General hatte. So wenigstens erzählte es mein Vater. Und den Alten Fritz und seinen Schneidergeneral hatte er mit eigenen Augen gesehen, nämlich wie sie in Kupfer abgegossen sind in der großen Stadt Berlin, der Hauptstadt der Preußen, wo mein Vater im Anfang der fünfziger Jahre sieben Wochen in Arbeit gestanden hatte.

Unterdessen kamen über die Brücke andere Männer mit ihren Frauen und Töchtern. Sie kamen von der Heumahd und trugen Sensen und Heugabeln auf ihren Schultern. Der Gerber rief ihnen schon von weitem zu. Und diesmal verstand ich das Wort »Krieg«.

Die Ankömmlinge stutzten.

Ich aber schnellte vom Tisch empor, und ehe man drei zählen konnte, stand ich drüben im Haufen der Bauern.

Ein tolles Durcheinanderreden schlug da an mein Ohr.

»Jesses, wenn nur die Russen nicht kommen!«

»Die Preußen sind auch nicht weit davon her, die werden uns schön kahl fressen.«

»Sie sollen's bleibenlassen; wir jagen sie hin, wo sie hergekommen sind.«

»Aber die Preußen mit dem Zündnadelgewehr, wenn die uns nur nicht heimleuchten.«

»Was will Preußen gegen Oesterreich, gegen Oesterreich und Bayern und Württemberg – und Hessen und Sachsen und Hannover. Preußen muß verlieren. Und wenn es schlimm geht, ist auch noch der Napoleon da. Und sind die Franzosen da. Die lassen uns nicht von den Preußen einsacken.«

»Jesses, die Franzosen. Wollen denn die Franzosen kommen? Von denen erzählt man sich gar nichts Gutes.«

»Lieber Franzosen als Preußen.«

»Wir brauchen die einen nicht und brauchen die andern nicht, sie können beide daheim bleiben.«

»Ihr müßt es ihnen halt nur sagen, Blessevogt.«

»Was wollen denn die hungrigen Preußen?«

»Sattessen wollen sie sich bei uns; habt ihr's noch nicht gemerkt? Und unsern Wein wollen sie trinken.«

»Schleswig-Holstein wollen sie in die Tasche stecken, die Langfinger, und das will Osterreich nicht leiden.«

»Was ist denn das, Schleswig-Holstein?«

»Schleswig-Holstein meerumschlungen – Schleswig-Holstein stammverwandt!«

»Was geht uns Schleswig-Holstein an?«

»Was uns das angeht? Wenn man dem Teufel den Finger gibt, nimmt er die ganze Hand. Zuerst geht's an Schleswig-Holstein und dann an uns. Oesterreich soll aus Deutschland hinausgeworfen werden, und uns macht man dann nach und nach preußisch. Wenn euch das nichts angeht!«

»Wenn nur die Franzosen nicht kommen.«

»Unser König ist ein Freund von Napoleon, die Franzosen tun uns nichts, die hauen nur die Preußen.«

»Wenn nur mein Jörmichel nicht grad' bei den Soldaten wär'.«

»Ja, müssen denn unsere Soldaten auch in den Krieg? Großer Gott, da schießen die Preußen meinen Anton tot.«

»Jesses, und mein Bernerd, der bei den Dragonern in Ludwigsburg steht.«

Mehrere Weiber brachen in lautes Heulen aus.

Der Polizeidiener Gartumb näherte sich der Gruppe. Alle sahen sich mit erschrockenen Gesichtern um.

Der schnauzbärtige Mann im bunten Rock machte ein furchtbar ernstes Gesicht. Mit militärisch straffer Haltung blieb er vor dem Volkshaufen stehn. Von mehreren Zetteln in seiner Hand brachte er einen seiner Brille nahe, und indem er fast die Stimme eines Feldherrn annahm, las er: »Lienhard Reichenbühler.«

Damit streckte er den Zettel einem jungen Burschen entgegen, der einen Blick darauf warf und erblaßte.

Lienhard war ein zurückgezogener Mensch, ein wenig Mutterkind, nicht ganz und gar Bauer; er betrieb neben der Landwirtschaft ein kleines Töpfergeschäft, er war eine Art Künstler.

»Johann Peter Mütsch,« las der obrigkeitliche Bote unterdessen weiter.

Der Hannpeter nahm die Nachricht anders auf. »Hurra!« rief er, »hätt' nit glaubt, daß 's Ernst is; nun aber nix als drauflos, und mach mir kein so Gesicht, Linert, im Krieg geht's luschtig zu.«

»Holla, du nimmscht's Maul groß voll, du Tagdieb, du Nixnutzer,« rief der Blessenvogt, sein Dienstherr, »aber wer soll denn mein Heu machen und meine Ernt' schneiden?«

»Macht Euch keine Sorgen, wir reiten mit den Gäulen drüber, dann ist sie schon g'schnitten«, rief der Knecht übermütig. »Jedenfalls gräm' ich mich nicht, daß ich sie nicht zu schneiden brauch'. Und Euer hartbacken schimmelig Brot, Blessenvogt, gönn' ich Euch auch. Allzuweit nach Preußen 'nein, wo der Pumpernickel wächst, kommen wir Schwaben doch nicht und unterwegs gibt's Besseres.«

Das Durcheinanderschreien hatte aufgehört, seitdem der Krieg in so bestimmten Zeichen an die Leute herangetreten war.

Ziemlich kleinlaut ging alles auseinander.

*

Am andern Tage hielten die Einberufenen im »Goldenen Ochsen« einen Abschiedstrunk. Ich mußte natürlich dabei sein. Auch der Pfarrer Barthelmeyer war erschienen. Er hielt eine Ansprache an die neuen Krieger. Von ihm hörte ich zum erstenmal das Wort Bruderkrieg. Aber unsere Soldaten durften mit Gottvertrauen in den Kampf ziehen, ihre Sache war eine heilige Sache; sie verteidigten nicht nur ihren König und ihr Vaterland, sie retteten auch ihre heilige Religion.

Am besten ließ sich der Herr Hannpeter den Abschiedstrunk schmecken. Er gab deutlich zu erkennen, daß es ihm ziemlich gleichgültig sei, was er verteidige, wenn er nur gegen Sichel und Sense den Säbel umtauschen durfte.

Sein Wesen steckte die andern an. Und als sie dann aufbrachen und, von der Schuljugend begleitet, zum Dorf hinauszogen, just an unserm Häuschen vorbei, über die hohe steingewölbte Haselbachbrücke, da sangen sie mit lauten Stimmen:

Morgenrot, Morgenrot,
Leuchtest mir zum frühen Tod.

Auch der Lienhard sang frohgemut mit. Ich lehnte am Brückengeländer und winkte ihm zu. Er tat mir so leid, weil ich seine Mutter unter einer benachbarten Haustür stehn und laut schluchzen sah.

Da dachte ich nicht, daß ich allein ihn noch einmal wiedersehen würde.

Das schöne Morgenrotlied war zu Ende, und ich hörte von ferne den Hannpeter mit machtvoller Stimme einen andern, derberen Gesang anstimmen, der seinem Geschmack mehr zusagte:

Und es kann ja nicht immer so bleiben
Hier unter dem wechselnden Mond,
Und der Krieg muß den Frieden vertreiben,
Und im Kriege wird's keiner verschont ...

So brüllten sie, und die einfache arme Melodie mußte sich in ihren Kehlen mit tausend willkürlichen und abenteuerlichen Schnörkeln verzieren lassen:

Und im Krie – ge wird's kei – ner verri – schont.

Ich dachte immer noch an den bleichen Lienhard. Er war, wiewohl älter, eine Art Freund von mir. Ich hatte ihn oft in seiner Töpferwerkstatt besucht. Mit Erstaunen hatte ich dann immer der Drehscheibe zugeschaut, die so schnell lief, daß das Auge ihr nicht folgen konnte. Und wie ein Wunder war es mir stets erschienen, wenn bei so schwindliger Drehung, unter der Hand des Töpfers, der feuchte Tonklumpen auf der Scheibe seine Gestalt veränderte, wenn er in die Höhe wuchs, sich aushöhlte, sich bald bauchig weitete, bald halsartig einschnürte, wenn seine Form und Bildung immer deutlicher wurde, bis die Scheibe stillstand und das fertige Gefäß nur mit einem Draht vom Scheibenrand abgeschnitten zu werden brauchte. Ich konnte nie begreifen, wie es möglich sei, so etwas zu lernen.

Die zur Fahne Gerufenen waren längst über alle Berge, ich dachte noch immer an den Künstler Lienhard Reichenbühler.

*

Begierig war ich, was mein Vater über den Krieg sagen werde.

Beim Abendessen sollte ich's erfahren. Der Meister verwunderte sich nicht über den Mut der Preußen. Gute Soldaten habe Preußen, und gute Generäle, das müsse ihnen der Neid lassen. Und wenn der Alte Fritz noch lebte, und sein General Derfflinger, der ehemalige Schneidergesell, wer weiß. Aber auch so ...

»Was du für scheckiges Zeug red'st,« erwiderte mein Pate Nepomuk Rotermund, der auf den Abend herübergekommen war; »man könnt' meinen, du seiest ein Preußenfreund.«

Ich hätte gar zu gern erfahren, was Schleswig-Holstein sei. Das seltsame Wort, das der Gerber Appel so begeisterungsvoll ausgesprochen hatte, reizte mich durch seinen fremdartigen Klang. Mein Vater wollte mir eben antworten, als der Nachbar Gerber mit lautem

Schleswig-Holstein meerumschlungen,
Schleswig-Holstein stammverwandt,
Wanke nicht, mein Vaterland!

die Tür aufriß und, selber leicht wankend, in die Stube hereinstürmte. Die abermalige geheimnisvolle Deklamation erhöhte nur meine Neugierde. Aber die Unterhaltung gestaltete sich nun zu aufgeregt, als daß ein armer Junge hätte zu Worte kommen können.

Der Tag war ein Samstag. Am andern Morgen, mitten im Gottesdienst, schlugen zum drittenmal die seltsamen Reime an mein Ohr:

Schleswig-Holstein meerumschlungen,
Schleswig-Holstein stammverwandt.

Der Pfarrer Barthelmeyer rief sie von der Kanzel herunter. Und lange sprach er von diesem Schleswig-Holstein. Wir hatten das Land erobert, wir und die Oesterreicher, die Großdeutschen, und gegen den Willen von Preußen. Wir mit unserm Blut hätten Schleswig-Holstein gewonnen. Und die Preußen wollten das Land in die Tasche stecken. Das wolle Oesterreich nicht leiden. Und wir dürften es ebenfalls nicht leiden ...

Aber das sei nicht der wichtigste Punkt. Um Größeres handele es sich. Oesterreich solle aus Deutschland hinaus, damit Preußen allein Herr sei. Dann müßten wir preußisch werden. Seither hätten auch die Katholiken in Deutschland leben dürfen, weil Oesterreich dagewesen sei, der katholische Kaiserstaat. Nach Oesterreichs Beseitigung aber hätten die Katholiken keinen Schutz und Schirm mehr, und es müßte ihnen übel ergehen. Darum seien auch in Schwaben einige Evangelische preußisch gesinnt, einige Katholikenfresser und Dummköpfe. Aber sehr viele seien das nicht. Sogar die Protestanten seien der großen Anzahl nach gegen Preußen, wenn sie uns Katholiken gleich das Unglück gönnten. Aber sie wüßten eben, was sie von den Preußen zu erwarten hätten. Es nütze darum den Preußen nichts, die katholische Religion in Deutschland ausrotten zu wollen; die Evangelischen in Schwaben wollte dennoch nichts von ihnen wissen. Das beweise zur Genüge, welche Gäste diese Preußen seien.

Der Sieg unserer Waffen sei auch gar nicht zweifelhaft. Der Kampf sei zu ungleich. Die Uebermacht sei zu sehr auf unserer Seite.

»Und sie können schon deshalb nicht siegen, weil ihr Krieg ungerecht ist, ein Krieg gegen deutsche Brüder, ein himmelschreiender Bruderkrieg ...«

Dann sprach er noch von einem Kreuzzug, einem heiligen Kreuzzug, was ich nicht verstand.

So lange wie an diesem Sonntag hatte der Pfarrer Barthelmeyer noch nie gepredigt. Und zum erstenmal war ihm niemand dabei eingeschlafen.


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