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Zehntes Kapitel

Ein richtiges Abenteuer und auch keins

Das Fräulein Theodosie hatte mit Herrn Urban einen Vergnügungsausflug geplant, dessen Ziel eine berühmte Tropfsteinhöhle im Gebirge bildete, die Grotte d'Osselles. Im letzten Augenblick schien es ihr plötzlich einzufallen, ihren neugewonnenen deutschen Freund zur Teilnahme an der Partie aufzufordern. Selbstverständlich, daß Alexander diese Einladung nicht abschlug.

Der Herr Urban sagte bei dieser Gelegenheit sein »Sehr erfreut!« mit dem verbindlichsten Lächeln von der Welt. Nur warf er gleichzeitig dem Fräulein heimlich einen Blick zu, der selbst dem unerfahrenen Alexander auffiel.

Auf dem Wege zum Bahnhof erinnerte sich dieser Herr Urban auf einmal, daß er noch einen kleinen Geschäftsgang zu machen habe, wozu nach seiner Meinung die Zeit gerade noch reichte. Er bat die beiden, ihren Weg fortzusetzen, am Bahnhof wollte er sie wieder treffen.

»Sie werden sehen, er läßt uns im Stich«, sagte Theodosie beim Weitergehen.

»Warum sollte er?«

»Ihn hat es geärgert, daß ich Sie eingeladen, aber wenn er nicht kommt, tant pis, so gehen wir allein.«

Er kam in der Tat nicht, und Alexander und Theodosie fuhren ohne ihn ab. In ungefähr einer halben Stunde hielt der Zug auf der Station Osselles. Das Fräulein von Montmerle und ihr Begleiter waren die zwei einzigen Personen, die an dem Orte ausstiegen. Die Haltestelle lag einsam auf der Höhe über dem Fluß. Dorfschaften schienen auf den Hochflächen in stundenweiter Entfernung entweder nicht vorhanden oder waren hinter kleinen Gehölzen versteckt, die da und dort dunkle Kleckse bildeten inmitten goldener Weizenfluren; nur aus beträchtlicher Entfernung sah von bergartigen Erhöhungen ein mittelalterliches, noch ummauertes Landstädtchen wie ein in blauen Duft gemaltes Bild herüber.

Das der Station den Namen leihende kleine Dörfchen Osselles wurde den beiden Wanderern erst sichtbar, nachdem sie auf einem wenig befahrenen Hohlweg einige hundert Schritte zurückgelegt hatten und nun auf steil abfallender Steige in das Flußtal hinunterschritten. Die aus kaum mehr als einem Dutzend Häuser und einem elenden Kirchlein bestehende Ansiedlung, wofür die französische Sprache den heimelig klingenden Namen Hameau hat, lag in einem sonnigen Winkel des engen, felsenumschlungenen Tals. An den Häusern von Osselles sah Alexander von Hinterwinkel zum ersten Male französische Dörflichkeit. Die massiven, jedes Schmuckes entbehrenden Steinmauern, woraus die Häuser bestanden, hatten etwas Schwerfälliges, etwas Düsteres und Dumpfes gegen die hölzernen Bauernhäuser seiner Heimat. Statt der langen Reihen blinkender Fenster, die daheim mit schimmernden Linnen verhängt, mit Levkoje, Geranien und Gelbveigelein bestellt zu sein pflegten, gewahrte Alexander hier nur einzelne unregelmäßige, unsymmetrisch verteilte Löcher.

Eines der Häuser, an denen sie vorüberkamen, schien ein Wirtshaus zu sein: es trug über der Tür eine schwarze Tafel mit krakelig geschriebener, weißer Inschrift, also lautend: Mme. Louise Louvegarde Vve. loge les voyageurs, und Alexander ahnte nicht, daß er in dem finstern Hause mit der unbeholfenen Aufschrift bald ein Abenteuer erleben werde, wie er sich nie eines geträumt, obwohl er doch in dieser Tätigkeit – des Abenteuer-Träumens – sein Leben lang nicht faul gewesen.

Dann hatten sie Osselles im Rücken und wanderten auf sanftem Wiesenpfade dahin. Ihr Weg näherte sich bald den schilfreichen Ufern des Flusses, bald den hohen, schroffen Felswänden der Talgrenze, die entweder in weißer, glänzender Nacktheit aufragten oder sich von Föhren und Buschwerk bedeckt zeigten.

Es war kurz vor der Heumahd und das Tal lag in menschenferner, schweigsamer Einsamkeit. Die steilen, weltabschließenden Wände ringsum mit ihren wilden Rosengehegen und blühenden Weißdorndickichten, durch die keines Menschen Fuß zu dringen imstande schien, die dazwischen sich dehnenden Wiesen und darüberhin millionenfaches Geleucht und Gefunkel von Blumenkelchen, daraus unzählige Sommerfalter lichtberauscht taumelnd emportauchten wie aus Zauberbann zur Freiheit sich losringende Blumenseelen, und hier und dort zwischen dem Schilf, einem schlaftrunken aufnickenden Auge vergleichbar, das Hervorblinken der tiefdunkelgrünen Flut des träg dahinschleichenden Flusses, drin weiße Wasserlilien wie heraufgestreckte Nixenhände feucht schimmerten: diese ganze Szenerie deuchte Alexander zugleich fremd und heimelig, erschien ihm wie eine vergrößerte, verschönerte, erhöhte Landschaft der Heimat.

Ein leises Flüstern und Raunen im Schilf, ein eigentümlicher Plätscherton, von Zeit zu Zeit durch einen Fisch veranlaßt, der geheimnisvoll aus dem reglosen dunkelgrünen Wasser aufschnellte und in der Sonne funkelte wie ein von neckender Nixe heraufgeworfenes Silberstück; das Zirpen der Grillen und das leise, unbestimmte Summen unendlicher Käfer-, Mücken- und Bienenvölker; der Gesang einer Grasmücke auf schwankendem Halm; hie und da der Pfiff eines kreisenden Gabelweihs oder der Kolkruf eines hoch hinsegelnden Edelraben: Dies waren die einzigen Stimmlaute der Welt, durch die die beiden dahinzogen, vielleicht mit dem unbestimmten dunklen Gefühl in der Brust, in einen Zauberkreis eingetreten zu sein, vor welchem alle einschränkenden Gesetze der Menschenwelt zurückbleiben mußten, jedenfalls aber mit dem beseligenden Bewußtsein des gemeinsamen Besitzes einer außerordentlichen Gegenwart, die in einem erhöhten Gefühle leicht zur Ewigkeit wird.

Einmal stand hart am Flußufer ein einsamer Ahorn, und Theodosie schlug vor, unter seinem Schutze eine kurze Rast zu halten. Aus der kurzen wurde eine lange.

Und hier in dieser heiligen Einsamkeit, in dieser Stunde des ersten vollen Vertrauens nannte Alexander der forschenden Freundin auch Olgas Namen. Er sprach von der alten Kameradin als derjenigen Mädchenerscheinung, die zuerst in ihm ein traumhaft knospendes Ahnen dessen in ihm erweckt, was ihm jetzt so lebendig in Sinn und Seele blühte. Er sprach von ihr wie von einem lieblichen, durch später daraufgefallenen Reif und Schnee zwar etwas verdorbenen, aber unter der Decke doch fortlebenden und fortblühenden Erinnerungsblümchen.

Theodosie schien an dem armen deutschen Vergißmeinnichtchen mit seinem kindlich-frommen Blauaugenschimmer kein Mißfallen zu haben. Sie dachte sich dieses Blümchen aber keineswegs als lebendig, sondern als vertrocknet und vergilbt im Lebensbuche liegend, auf einem Blatt, über das längst weitergeblättert ist, auf das man nie wieder zurückkommen wird. Doch hütete sie sich sehr, dies auszusprechen.

Dem Freund aber war's ganz heimelig zumute. Das Gedächtnis des früheren so unschuldigen Verhältnisses erschien ihm wie eine Weihe des gegenwärtigen, er fühlte sich unendlich glücklich und würde noch lange an keinen Aufbruch gedacht haben, wenn nicht Theodosie endlich daran erinnert hätte.

Nun sahen sie bald in der Ferne die einsame Mühle, wo sie den Schlüssel zur Höhle, die nötigen Fackeln und einen Führer bekommen sollten. Sie beschleunigten ihre Schritte, der Gedanke an das bevorstehende außerordentliche Schauspiel und vielleicht noch eine andere Empfindung versetzte beide in eine gewisse Aufregung.

In der Mühle mußten sie gegen die herabtropfende Feuchtigkeit der Höhle eigens zu dem Zwecke bereitgehaltene schwarze Kapuzenmäntel anlegen, in denen sie höchst komisch aussahen, so daß sie in ein lustiges Lachen ausbrachen, als sie sich gegenseitig in dieser Vermummung betrachteten. Theodosies Gesicht sah entzückend unter der Kapuze hervor; es schien soviel schmaler und zarter als gewöhnlich, um ihren frischen Mund lag ein schelmischer Ausdruck, ihre blitzenden Augen sprachen von einer übermütigen, unternehmungslustigen Heiterkeit.

Auf dem Wege zur Höhle berichtete der zum Führer mitgegebene Gesell, ein kaum viereinhalb Fuß hoher dienstbarer Geist der Mühle, daß sie die Höhle für dieses Jahr einweihten als die ersten Besucher in diesem Sommer. Wirklich war der Eingang, den sie in einem schwachen Viertelstündchen nach kurzem, aber steilem Emporklettern an den felsigen Talwandungen erreichten, von umstehendem Wacholder- und Weißdorngestrüpp so verwachsen, daß der Zwerg Mühe hatte, die Tür freizubekommen.

Man mußte den Eingang eigentlich einen Einschlupf nennen, nicht nur in Hinsicht auf den dornverwachsenen Zugang, sondern auch auf die Größe der Öffnung selber, die nur schlüpfend oder kriechend, Kopf oder Bein voran, wie man es nach seiner Individualität gerade vorzog, passiert werden konnte. In der Nähe kletterten kräutersuchende Ziegen, ihr Hirte saß auf einem Felsblock; er schien ein Trottel zu sein, ein halb Blödsinniger, der den Fremden grüßend zunickte, wobei ein wahrhaft beängstigendes Grinsen über sein Gesicht lief, als sei er der böse Geist des Gebirges und die Wanderer im Begriff, in seine Schlinge zu fallen.

Sie hatten die Fackeln angezündet, und der führende Knirps schlüpfte voraus, das Fräulein von Montmerle und Alexander folgten. Beim Fackellicht sich umblickend, gewahrten sie sich in einer engen Felsspalte mit ziemlich hochgelegenem, nicht gerade leicht zu erreichendem Loch, durch das man ebenfalls hindurch mußte.

Auch hier kroch ihnen der Führer voran. Wie er in dem engen Felsloch ihren Augen entschwand, glichen die zuletzt nachgezogenen dünnen Beinchen zwei kahlen grauen Rattenschwänzen.

Alexander neigte sich zu Theodosiens Ohr und fragte leis: »Würdest du auch allein mit dem Zwerge durch die Höhlen gehen?« Es war scherzhaft gesprochen, aber er fühlte, wie ein frostiges Erschauern ihr durch die Glieder ging.

Droben in der Spalte sah jetzt der Gnom, durch den roten Fackelschein phantastisch beleuchtet, freundlich herunter mit der Aufforderung, ihm zu folgen.

Dann aber waren sie selber glücklich durchgekrochen, und im ersten Augenblick wußten sie sich vor Erstaunen nicht zu fassen. Sie standen in einer weiten Halle, an die sich ein gewundener labyrinthartiger Gang anschloß. Gewaltige Säulen und Pfeilerbündel schienen die Gewölbe zu tragen, die, den rötlichen Schein der Fackeln zurückwerfend, mit den Millionen daranhängenden Tropfen wie von unzähligen Diamanten und Rubinen funkelten.

Ganz in Verwunderung getaucht, standen Alexander und Theodosie neben dem zwerghaften Führer in dem kurzen Mäntelchen, beide selber in befremdende phantastische Vermummung gehüllt. Aus den Winkeln fauchten Fledermäuse auf und schwirrten ihnen am Gesicht vorüber; in atemloser Erregtheit, wie zählend, horchten sie auf den melancholischen Tropfenfall in der Ferne, wo ein schwarzes, faules Gewässer einen letzten schwachen Widerschein ihrer Fackeln aufwarf.

»Wir wollen nicht mehr hinaus«, flüsterte Alexander, und in der dunkeln Empfindung seines trunkenen Herzens war es ihm seltsam ernst mit diesem Wort, als ob ein leisfernes Ahnen in ihm aufdämmerte, daß ihm das warme Leben an seiner Seite in der Welt dort oben, die ihm nicht gehörte, durch unbegriffene Gewalten wieder entrissen werden könnte.

»Willst du, Theodosie?« flüsterte er wieder.

»Es müßte schön sein«, raunte sie an sein Ohr.

»Du willigst ein?« fragte er aufgeregt von neuem.

»Ja«, antwortete Theodosie wie im Traum.

Sie mußten endlich ihrem Führer folgen, der, mit seiner Fackel durch die tausendfältigen Labyrinthe ihnen vorausleuchtend, sie auf schmale Bänke und Stege aufmerksam machte, vor gähnenden Abgründen und Seetiefen warnte, auch dazwischen Märchen und Sagen erzählte, und all die phantastischen Tropfsteingestalten um sie herum mit ihren Namen nannte, als etwa hier den »Reiter ohne Kopf«, dort die »Frau des Loth«, jetzt eine »Teufelskanzel«, dann eine »Geisterorgel«, einen »Napoleonshut«, einen »Mönch mit der Nonne« und andere.

Nach stundenlanger Wanderung näherten sie sich wieder dem Ausgang der Höhle. Als sie durch die letzte in die Vorkammer führende Spalte schlüpften, hörten sie den vorausgegangenen zwergigen Knappen erschreckende Töne ausstoßen, und bald erfuhren sie auch deren Veranlassung. Sie war eine sehr seltsame und bedenkliche. Im ersten Augenblick wollten die Übermütigen sie gar nicht glauben und lachten, aber bald konnten sie nicht mehr zweifeln: die Tür zum Eingang der Höhle war verschlossen.

Da standen sie und schauten sich an. Alexanders phantastische, vielleicht frevelhafte Wünsche schienen in Erfüllung zu gehen. Sie lachten aber nicht mehr.

Ihre Lage gewann für sie immer mehr ein bedenkliches Aussehen; denn wenn auch der kinderhafte Gedanke, als ob die Müllersleute eine Art Menschenfresser oder sonstige Ungeheuer seien, die die Höhlenbesucher zum Abschlachten einschlössen, nicht ernstlich in Betracht kam, so war doch das absolut Unerklärliche und Rätselhafte an der Tatsache immerhin noch unheimlich genug. Übrig blieb nichts, als in Geduld zu harren, wie sich das Mysterium aufhellen möchte.

Da die Vorkammer nur eine enge Felsspalte bildete und der gleichzeitige Aufenthalt dreier Personen darin nur in ermüdendster Stellung möglich fiel, ermunterte Alexander die Freundin, wieder in die hohe Halle zurückzukehren.

»Hast du Angst?« fragte er mit vor Erregung zitternder Stimme.

»Ohne dich müßte ich vergehen,« war ihre Antwort, »so ist mir nicht bang.«

Sie ließen sich in der ersten Halle auf einer Art Steinbank nieder, und das Fräulein von Montmerle, wie ein Kind, das sich vor der Finsternis fürchtet, schmiegte sich enger an den Freund an; er hielt stumm ihre Hand, sie damit gleichsam noch besonders von seiner Gegenwart zu versichern.

Die Fackeln hatte Alexander in einen Riß am Boden aufgesteckt. Ihr rotes Licht erhellte die Finsternis nicht bis zu ihrem völligen Verschwinden, sondern schien sie nur mit lichten Fäden zu durchweben und sichtbarer zu machen. Dagegen warf die Wasserlage, über welcher die Fackeln glommen, Feuerschein, wie aus unendlicher Tiefe herauf, wie von dem Glast und Glanz versunkener Schätze.

In mattfeuchtem Schimmer standen die zopfigen Tropfsteinsäulen und an der Decke quirlte und wölkte sich der fahle Qualm der Fackeln und lockte mit seiner beizenden Durchdringlichkeit aufs neue die huschenden Fledermäuse aus ihren Löchern.

In Alexander verschwand bald nach der ersten Überraschung jedes beunruhigende Gefühl. Das außerordentliche Erlebnis erfüllte ihn im Gegenteil mit immer größerer Genugtuung, es war ein Erlebnis ganz in seinem Sinne. Er konnte Theodosie nicht begreifen, die erst in kindischer Furchtsamkeit leis zu weinen schien und dann in auffallender Weise immer schweigsamer wurde, zuletzt ganz verstummte, wovon denn, wie es so geht, auch der Freund nach und nach angesteckt wurde. Er fand sich darein; denn sollte er auch die Stimme der Freundin nicht vernehmen, so fühlte er doch deutlich ihre innige körperliche Nähe, und die Stummheit erhöhte die Stimmungsgewalt der Situation.

Er für sich mochte ganz gern so lang als möglich in dieser Weise verweilen.

Das Erlöschen der Fackeln, worauf die schwärzeste Finsternis sie einhüllte, änderte hierin nichts, nur daß die geängstigte Freundin an seiner Seite nun noch öfter seine Hand drückte und immer leiser lispelte, wenn sie von Zeit zu Zeit versicherte, wie glücklich sie sei, ihn neben sich zu wissen.

»Wir wollen uns etwas erzählen,« meinte Alexander, »so verginge die Zeit uns angenehmer.«

»O nein,« bat sie mit bangem Flüstern, »die Worte klingen so schauerlich, das Echo macht mir Angst, nein, nicht reden.«

Eine geraume Zeit – sie hätten beide sie nicht zu schätzen gewußt – verging so, dann hörten sie plötzlich dumpfe Stimmenlaute, dann heftiges Gepolter und das Geräusch eines umgedrehten Schlüssels, sie sollten also erlöst werden.

Sie fanden vor der Höhle die dicke Müllerin, die aus Rührung fast weinte, als sie die Eingesperrten vergnügt und wohlbehalten aus dem Grabe steigen sah, dann bat sie flehentlichst um Entschuldigung, sie sei unschuldig, ihr Ziegenhirt, ein schwachsinniger armer Teufel, habe die Tür verschlossen, man wisse nicht aus Bosheit oder Dummheit, doch sei das letztere wahrscheinlicher.

Nachdem Alexander und Theodosie in der Mühle ihre Vermummungen abgestreift, den Führer belohnt und von den angebotenen Erfrischungen ein Geringes angenommen halten, machten sie sich, während es bereits zu dämmern begann, auf die Rückreise.

Theodosie blieb auch jetzt schweigsam; auf die Gesprächsanknüpfungen ihres Begleiters antwortete sie einsilbig und zerstreut.

Es wurde unterdessen sehr spät, und gleichzeitig, während vor ihnen die dunkle Hand der Nacht den zurückgelassenen letzten Dämmerschein der untergegangenen Sonne am Himmel hinwegwischte, stieg hinter ihnen der Vollmond über die Föhren der Talkrönung herauf und goß, indem er ihnen die eigenen Schatten gespensterhaft vor die Füße warf, sein bleiches Lichtgeriesel um die weißen Felsen jenseits des Flusses, um die Schilfrispen des Ufers.

In dem andern Lichte schien indessen das ganze Tal ein anderes, ein fremdes.

Die leichten Nebelstreifen über dem Fluß, vom Mondschein durchrieselt, glichen in der Ferne weißlichen Segeln von gespenstisch auf dem schwarzen Strom hinziehenden Geisterschiffen.

Auch Theodosie von Montmerle schien immer mehr wie verändert; verschlossen und kalt schritt sie an der Seite ihres Begleiters. Dieser dagegen trug von dem phantasiebefruchtenden Abenteuer her eine große Erregtheit im Gemüt, die durch Theodosies kalte Schweigsamkeit je länger je höher gesteigert wurde.

Eine Zeitlang schwieg er ebenfalls, dann versuchte er von neuem ein Gespräch anzuknüpfen. Er äußerte lebhaft sein Bedauern, daß ein romantisches und zuletzt so glücklich verlaufenes Erlebnis wie ihre unterweltliche Einsperrung das Fräulein verdrießlich gemacht zu haben scheine, er könne dies nicht begreifen.

»Sie sind ein echter Deutscher, ein Phantast«, war die trockene Antwort des Fräulein von Montmerle.

Und sie wandelten stumm weiter. Nach zwei Stunden sahen sie endlich die Lichter von Osselles in der Ferne blinken.

Da auf einmal blieb Theodosie stehen und blickte ihren Begleiter einige Sekunden lang starr an.

»Wie gescheit!« platzte sie dann heraus und lachte. »Unser Abenteuer scheint noch lange nicht am Ende zu sein. Wir sind alle beide rechte Kinder, die in die Nacht hineinlaufen und nicht denken, daß der Bahnzug längst abgefahren sein muß, der letzte, der auf der Station Osselles hält. Der famose Höhlenarrest, der Sie so entzückt hat, wird nun reizende Folgen haben.«

Sie sprach es fast wie im Hohn.

Alexander mußte gestehen, daß er sich um Eisenbahnfahrpläne nicht gekümmert, sondern die Sorge dafür seiner Dame überlassen hatte, wie wenig ritterlich dies auch sein mochte. Den beiden blieb also nur die Alternative, entweder unter freiem Himmel oder bei der Witwe Louise Louvegarde qui loge les voyageurs zu übernachten. Alexander stimmte für den Himmel. Theodosie für die Louvegarde, und da man sich in Frankreich befand, wo nach dem Sprichwort die Frau immer recht behält (wie sonst bekanntlich nirgends auf der Welt), wurde nach langem Hinundherreden beschlossen, der weiblich wirtlichen Witwe, wie Richard Wagner gesagt hätte, das gemeinsame Schicksal für die Nacht anzuvertrauen, wenn anders man nicht abgewiesen würde.

Es mochte zwischen elf und Mitternacht sein, als Alexander von Hinterwinkel und Theodosie von Montmerle durch den finstern Hof der stillen, einsamen Dorfherberge einen Weg suchten, denn schon war auch der Mond wieder untergegangen; nirgendwo winkte einladendes Licht und die Suchenden stießen bald rechts, bald links an, ehe sie an eine steinerne geländerlose Treppe gelangten, wo sie sich mühsam hinauftasteten.

Oben führte die offene Haustür in einen stockfinstern Gang, und es wäre unmöglich gewesen, einen Schritt weiter zu tun, hätte Alexander nicht eine Lichtritze in der Finsternis bemerkt. Er tastete auf dieselbe zu und fand glücklicherweise eine Tür, die sich öffnete. Da sahen beide in eine weite, schwach erleuchtete Küche. Am Kamin unter ungeheurem Rauchfang glommen noch ein paar Brände, und neben dem auf dem Küchentisch flackernden Lämpchen saß schlafend eine rotgesichtige dicke, schnurrbärtige Frau – die Witwe Louise Louvegarde.

Da Alexander zögerte, übernahm es das Fräulein von Montmerle, das Monstrum zu wecken. Ein unbestimmter grunzender Ton war das erste Lebenszeichen der nur langsam zu sich selber kommenden Frau.

Nach dieser Einführung konnten die beiden Nachtwandler sich glücklich schätzen, schon fünf Minuten später in der Gaststube und in Erwartung eines Nachtessens vor einem Unschlittlicht, weißgedecktem Tische und sauberen weißen Tellern zu sitzen.

Alexander sprach auch ganz lustig über seine Lage, das heißt über die zu erwartende nächtliche auf dem langen Tische, wo man vorher zu Nacht essen wollte; denn die Witwe Louise Louvegarde hatte nur ein einziges Zimmer zur Verfügung. Der tapfere Schwabe schien einen in der Stubenecke schnarchenden Mann, von dem er nichts weiter erkennen konnte als eine rotweißgestreifte Bluse, wie sie daheim die Metzger zu tragen pflegten, gar nicht zu bemerken, um nicht etwa in mitleiderweckender Weise anzudeuten, daß ihn dieses Schnarchen in seinem späteren Schlaf stören könne.

Er hätte, wenn von Theodosie die Rede auf den Schnarcher oder Röchler in der dunkeln Ecke gebracht worden wäre, lustig geschworen, daß er sich keinen lieberen und angenehmeren Schlafkameraden denken könne.

Das Fräulein von Montmerle blieb schweigsam.

Und befremdlich schweigend hielten beide ihre kurze Mahlzeit. Da aber rückte plötzlich Theodosie von Montmerle ihren Stuhl näher an Alexanders Seite, und ihre Hand, die leise zu zittern schien, ergriff die seinige.

»Sie dürfen nicht hier in der Stube bleiben, Alexander,« sagte sie mit weicher Stimme, »es ist unmöglich.«

»Warum denn?« lautete Alexanders hastig abwehrende Erwiderung. Er fürchte sich nicht, das Fräulein dürfe seinetwegen ohne Sorge sein.

Aber Theodosie von Montmerle blieb dabei, den Freund dieser Lage nicht überlassen zu wollen. Das Gastzimmer der Madame Louvegarde enthalte zwei Lagerstätten, Alexander müsse eine davon annehmen, sie habe es fest beschlossen, alle Widerrede sei unnötig.

Alexander, im tiefsten gerührt von soviel Güte, wollte mit einem stummen Händedruck danken.

»Lassen Sie das, mein Herr,« sprach das Fräulein in einem ganz eigentümlichen Tone, »verschieben Sie Ihren Dank auf morgen, ich will hoffen, daß er mir dann noch angenehm sein wird; ich hoffe es für mich und für Sie.«

Sie sprach das letztere mit besonderem Nachdruck und sah den jungen Schwaben dabei bedeutungsvoll an. Für den aber blieben sowohl Wort als Blick gänzlich bedeutungslos; umsonst suchte er ihnen einen Sinn unterzulegen.

»Sie reden geheimnisvoll«, gestand er offenherzig.

Das Fräulein von Montmerle lachte laut und übermütig.

» Tant mieux«, sagte sie dann.

» Tant pis« wäre richtiger, korrigierte der Deutsche ihr Französisch.

»Möglich«, schloß sie lakonisch mit einem Kräuseln der Lippen, das Alexander schon einigemal aufgefallen war und das ihn immer unangenehm berührte, er wußte selber nicht warum.

Die Wirtin führte beide zu dem versprochenen Zimmer.

Vor der Tür hielt das Fräulein von Montmerle einen Augenblick an.

»Ich will Ihnen noch etwas sagen, Herr Alexander,« sprach sie flüsternd, »ich stehe im Begriff, Ihnen ein außerordentliches Vertrauen zu schenken, vielleicht sollte ich nicht. Sie verdanken dieses Vertrauen dem, was ich bei unserm Verweilen in der Unterwelt von Ihnen erfahren habe; hoffentlich haben Sie dort nicht gelogen und halten in der Oberwelt, was Sie in der Nacht der Katakomben versprochen haben.«

Alexander wußte nicht, was er sich bei diesen Worten denken solle.

Die Stube, in die sie nun mit der Wirtin eintraten, zeigte sich ziemlich geräumig, und die beiden Betten, wovon die Witwe Louvegarde gesprochen, standen in zwei entgegengesetzten Ecken.

Die Wirtin war abgetreten.

»Hier, mein Herr,« sagte Theodosie nach der einen Seite deutend, »und gute Nacht!«

Der Herr wollte noch etwas sagen.

»St!« machte sie, »gute Nacht!« Und damit erlosch das Licht in ihrer Hand.

*

Alexander hatte sich in den Kleidern auf sein Lager gestreckt und grübelte nach, was er wohl in der Höhle gegen Theodosie geäußert haben möchte, worauf ihre Rede vor der Tür bezogen werden könne, aber wie er auch sein Gehirn abquälte, es wollte ihm nichts beifallen; darüber schlief er ein.

Als er aufwachte, lag heller Sonnenschein im Zimmer. Theodosie schien noch zu schlafen. Über der Stuhllehne vor dem Bette hing ihr Kleid von schwarzer Seide, daneben standen die kleinen, zierlichen Halbstiefelchen. Statt des Kleides hatte Theodosie ihren Schal um sich geschlagen, so ruhte sie in anmutiger Lage.

Er erhob sich; er stand mit verhaltenem Atem und betrachtete die Ruhende. Gern hätte er es näher getan, aber er wagte nicht, einen Schritt zu machen; ein nie gekanntes Schauern überfiel ihn.

Einen Augenblick lang blitzte es frevelhaft in ihm auf, es war ihm, als sollte er den Arm küssen, der sich blütenweiß unter der Hülle hervorstreckte; doch bann erschrak er vor diesem Gedanken wie vor einem Verbrechen, und nach kurzem Zaudern erreichte er auf den Spitzen seiner Zehen die Tür, öffnete sie mit ängstlicher Vorsicht und entfernte sich.

In der Gaststube erwartete er Theodosie.

Es dauerte lange, bis sie erschien, und als sie dann kam, begrüßte sie den Freund fast mit Zurückhaltung; sie schien mißvergnügt.

Ob sie nicht gut geschlafen habe.

Sie lachte seltsam.

Was ihm einfalle, sie habe nicht daran gedacht zu schlafen.

Alexander begriff davon abermals nichts, er hatte vortrefflich geschlafen, und die ganze Nacht. Aber vielleicht hatte er geschnarcht und Theodosie dadurch am Schlafen verhindert. Doch dieser Gedanke kam ihm glücklicherweise nicht, so konnte er darüber auch nicht unglücklich werden.

Während des Frühstücks blieb das Fräulein von Montmerle wortkarg; dann äußerte sie plötzlich den Entschluß, auf einen Sprung zum Besuch einer Freundin nach Saint Féréole zu fahren, um erst am Abend in die Stadt zurückzukehren; Alexander möge ihr einstweilen dahin vorausgehen. Den Herren Tissot könne er sagen, daß man sich schon am Abend getrennt habe; dies werde das Kürzeste sein und keine Erklärungen nötig machen.

Beide gingen miteinander zum Bahnhof, wo Theodosie zuerst abfahren sollte. Unterwegs wagte Alexander, auf ihre gestrigen rätselhaften Bemerkungen zurückzukommen; Theodosie werde doch nicht ...

»In ihren Voraussetzungen getäuscht worden sein,« fiel sie ihm kalt lachend in die Rede, »beruhigen Sie sich, Herr Alexander, Sie haben, was Sie mir in der Unterwelt versprochen, hier oben vollkommen gehalten, vollkommen, musterhaft; ich mache Ihnen mein Kompliment, Sie sind ein ritterlicher Deutscher, Herr Alexander.«

Und die schöne Französin lachte ausgelassen mit leisem Durchklingen eines bittern Tones.

So werde sie nun doch aufrichtigen Dank nicht verschmähen.

»Gar nicht nötig!« lautete ihre trockene Erwiderung.

Der Zug fuhr an, sie stieg ein, ohne auch nur noch einmal nach Alexander umzublicken.

In nicht geringer Beunruhigung kam Alexander nach Hause. Etwas wie ein unbestimmter Stachel war von den Eindrücken der letzten Erlebnisse in ihm zurückgeblieben. Daß er Theodosie Veranlassung zur Unzufriedenheit gegeben, fühlte er dunkel, ohne doch zu erraten, worin seine Schuld bestehen sollte. Um so höher beglückte es ihn, Theodosie bei ihrer Zurückkunft liebenswürdiger und zutraulicher zu finden als je.


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