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Zwölftes Kapitel

Richard Wagner als normannisches Gespenst

Über ein Jahr nach Alexanders Abreise in die Normandie, da saß einmal eines Morgens Herr Metzger (sprich Metschär), der Organist von St. Paul, in seinem sonnigen Wohnzimmer, dessen mit weißem Mull verhängte Fenster auf den gotischen Chor der Kirche hinausgingen. Das runde schwarze Käppchen, das er auch in der Kirche während des Dienstes zu tragen pflegte, saß ihm weit nach hinten geschoben auf dem Kopfe, was bei ihm auf besonders gute Laune deutete, und auf dem glattrasierten, fast priesterlichen Gesicht lag ein eigentümlich schelmischer Ausdruck. Seine kleine Frau, eine geborene Elsässerin, zu dieser Stunde in weißer Schürze und einem Spitzenhäubchen mit schwarzen Samtbändern auf der ergrauenden Frisur, hatte ihm sein Frühstück vorgesetzt, eine große Bulle gelben Milchkaffee mit eingebrocktem Weizenbrot.

Während der Meister dieses echt französische Frühstück mit einem Suppenlöffel langsam sich in den Mund schöpfte, las er einen Brief, und je länger er las, um so mehr fröhliche Schalkhaftigkeit sprach sich aus auf dem glatten, blassen Antlitz. Der Brief war in einem fast komisch ungeschickten oder auch, wenn man will, in einem gewissen genial-kühnen Französisch geschrieben, das eigentlich nur insofern Französisch genannt werden konnte, als es eben aus französischen Wörtern bestand. In freier und sozusagen korrigierter Übersetzung lautete das Schreiben also:

Schloß Tasselot b. Barfleur, den 21. Oktober 1869.

Verehrter Herr und Meister, denn Sie Freund zu heißen, wiewohl Sie selber mich immer so genannt haben, verbietet mir die Ehrfurcht, die ich für Sie empfinde, wovon Sie überzeugt sein werden, ebenso wie von meiner aufrichtigen Dankbarkeit gegen Sie, wenngleich es den Anschein vom Gegenteil haben könnte, da ich erst nach so langer Zeit einmal von mir hören lasse. Aber ich darf Sie versichern, daß kein Tag dieser langen Zeit vergangen ist, ohne daß ich Ihrer aufs lebhafteste gedacht habe.

Denn unvergessen und unvergeßlich sei mir die Stunde, wo Sie mir auf Ihrer wunderbaren Orgel die Präludien von Bach vorspielten und manchmal etwas von Gluck, von dem Sie sagten, daß seine Musik, wenn sie auch zu heidnischen Theaterstücken gemacht wäre, doch heiliger und christlicher sei als so viele Kirchenmusik aus dem letzten Jahrhundert.

Nur schäme ich mich zu denken, wie unwissend ich Ihnen gegenüber war, so daß ich mich heute nur wundern muß, wie Sie es fertigbrachten, mich nicht zu verachten, sondern mir im Gegenteil soviel Gutes erzeigen mochten.

Gottlob bin ich nicht mehr ganz derselbe, und ich darf sagen, ohne großsprecherisch zu werden, daß ich in den siebzehn Monaten hier mehr gelernt habe als vorher in siebzehn Jahren. Meine Verpflichtungen im Hause des Herrn Marquis nehmen mich täglich nur wenig Stunden in Anspruch und alle übrige Zeit kann ich zu eigenem Studium verwenden.

Darüber muß ich Ihnen einiges sagen. Kennen Sie den Musiker Piccini? Er war ein Italiener, hat aber in Paris gelebt. Von diesem Meister fand ich in der Bibliothek des Herrn Marquis die Klavierauszüge von gut einem Dutzend Opern, und wenn das auch keine Musik ist wie die von Gluck oder Bach, und ich auch in meiner Unwissenheit ihren letzten Wert dahingestellt sein lasse, so finde ich sie doch für mich ganz entzückend, so daß ich täglich aus diesen Heften spiele und oft sechs bis sieben Stunden nicht von dem Flügel loskomme.

Ich weiß aber dennoch, daß dieser Piccini, dieser Neapolitaner, ein Todfeind war von unserem großen Gluck. Ja, sehen Sie, so gelehrt bin ich bereits.

Denn ich habe in der genannten Bibliothek des Herrn Marquis zwei merkwürdige Bücher aufgestöbert, aus denen ich nun ersehe, daß die Musik unseres großen Gluck nur von Paris aus, wo sie gesiegt hat trotz der mächtigen feindseligen Partei des Piccini, sich die ganze Welt erobert hat. Wahrlich, man muß vor den Franzosen Respekt haben.

Ist Ihnen zufällig der Name des Herrn Lenelle aus Paris bekannt? Er ist, wie mir meine Schüler sagten, Mitglied der Akademie und Professor der Musikgeschichte am Kaiserlichen Konservatorium. Mit diesem berühmten Franzosen, der seit drei Wochen bei uns zu Gaste ist, hatte ich gestern ein merkwürdiges Gespräch.

Eines jener Werke, wovon ich sprach, führt den Titel: Mémoires pour servir à l'histoire de la revolution operée dans la musique par Monsieur le chevalier de Gluck. Par l'abbé Gaspard Michel Leblond.

In diesem Buche las ich gestern auf einer Bank im Schloßpark, als Herr Lenelle zu mir herantrat und mich fragte, indem er sich höflich entschuldigte, in was für eine Lektüre ich da so vertieft sei.

»Nun,« meinte Herr Lenelle, »das ist ja nun wieder einmal eine höchst zeitgemäße Sache.«

Und als ich ihn verwundert und verständnislos anschaute:

»Sie stimmen mir nicht bei?« fuhr er höflich fort. »Aber wie lagen denn damals die Dinge? Genau wie heut. Herr Piccini vertrat die ältere Musik, die italienische Musik, die lyrische Musik, kurz, die Musik als solche, eine Musik, die gefällt, weil sie einfach schön ist und sonst nichts. Ihr Landsmann aber, der Herr Ritter von Gluck, brachte eine neue Musik auf, eine Musik des Ausdrucks, eine leidenschaftliche, eine dramatische Musik. Weder in seinem Deutschland, noch in Italien wäre er so bald sieghaft damit durchgedrungen, dazu brauchte er Frankreich, brauchte er Paris. Nur hier konnte er für immer als Sieger aus dem Kampfe hervorgehen, und zwar, um ganz deutlich zu sein, nicht wegen der hohen und unsterblichen Bedeutung seiner Musik ist er so sieghaft durchgedrungen, sondern dieser Musik zum Trotz. In Wahrheit war es der Dramatiker in ihm, der gesiegt hat. Und heute mit Herrn Wagner steht es nicht anders. Verstehen Sie jetzt, was ich meinte?«

Ich Armer verstand gar nichts. Ich weiß auch nicht, ob Herr Lenelle mir das auf dem Gesichte las oder nicht. Jedenfalls ließ er sich dadurch nicht abschrecken.

»Herr Wagner,« fuhr er fort, »der in noch erhöhtem Maße als Herr von Gluck die expressive, die dramatische Musik, die Musik der großen leidenschaftlichen Gebärde heute vertritt, er hat vor dreißig Jahren eine unverzeihliche Dummheit begangen. Er ließ damals in Paris eine seiner ersten Opern aufführen, und es ist richtig, er wurde schlecht empfangen. Aber er hätte vor den faulen Eiern des vornehmen Pariser Pöbels nicht so schnell Reißaus nehmen sollen. Das war, verzeihen Sie, fast eine Feigheit von ihm. Oder sagen wir, er hat die Pariser und die Franzosen überhaupt eben schlecht gekannt. Dennoch hätte er aus dem Buche da, das Sie so andächtig lesen, sich belehren und überzeugen können, daß er, trotz der faulen Eier, der richtige Mann war für meine geehrten Landsleute. Diese sind, im strengen Sinn des Wortes, verstehen Sie, nur wenig musikalisch, wie ich sie beurteile. Wenigstens ist, um nicht zuviel zu sagen, das rein Musikalische, das streng Musikalische, kurz, die Musik als Form nicht ihre starke Leidenschaft. Um so leichter, um so heftiger entflammen sie für jede Art Pathos, für jede Art des dramatischen Ausdrucks, der dramatischen Gebärde mit und ohne Musik. Ihr Herr Wagner war ihr Mann. Sie wollten es sich nur nicht gleich eingestehen. Und Herr Wagner mißverstand sie zu seinem Unglück. Ein wenig mehr Ausdauer, vielleicht nur ein oder zwei Monate noch und ganz Paris wäre vor ihm als seinem Gott auf den Knien gelegen, wenn nicht gar auf dem Bauche. Denn die Pariser werfen immer den heut mit faulen Eiern, den sie morgen anbeten werden. Aber Paris ist die Welt. Vor dreißig Jahren schon hätte Herr Wagner sich durch Paris die Welt erobern können, während er nun in seinem Vaterland noch heut mitten im erbitterten Kampfe steht, so daß ihm zuletzt wahrscheinlich doch nichts übrigbleiben wird, als zum zweitenmal nach Paris zu kommen, wovon er so verächtlich spricht, wie man mir sagt, aber es ist wohl nicht sein Ernst. Er braucht Paris, wie es jeder braucht, der nicht nur für seine Provinz oder für sein Vaterland, der für die ganze Welt ein Großer zu werden berufen ist. Haben Sie acht, wir werden es noch erleben.«

So Herr Lenelle. Ich habe mich wohl gehütet, in Worten zu verraten, daß ich nicht im geringsten weiß, wer dieser Herr Wagner ist. Wissen Sie es? Doch sollen Sie nicht meinen, daß dies eine Anfrage sei, denn eine Antwort von Ihnen zu erwarten wäre zu unbescheiden

von Ihrem dankbaren Schüler
Alexander Schmälzle.

P.S. Der berühmte Herr Lenelle wird nächstens mein Lehrer werden, der Herr Marquis hat mir angezeigt, daß ich im Winter, wo wir auf drei oder vier Monate nach Paris gehen, mehrere Kurse des Kaiserlichen Konservatoriums auf seine Kosten besuchen solle.

P.S.II. Wenn Sie dem Marienbruder Pankraz begegnen, bitte ich, von mir zu grüßen, wenn er sich gleich wenig verwandtschaftlich und landsmannschaftlich gegen mich benommen hat.

Ungefähr zu gleicher Zeit mit diesem Brief schrieb Herr Schmälzle einen andern an seine Eltern nach Hinterwinkel, nicht ohne Bedauern, denselben nicht ebenfalls auf französisch abfassen zu können, da er eben doch wollte, daß er gelesen werde. Folgendes sei daraus hervorgehoben:

»Die gute Mutter war in ihren letzten Briefen so spöttisch, daß man kaum mehr den Mut hat, von sich die bare Wahrheit zu schreiben. Ich weiß aber wohl, woher es kommt. Es hat sie verdrossen, daß ich mich über den Vetter Pankraz, wie ist nur ihr Wort? richtig: despektierlich ausgedrückt habe. Und sie hat mir doch selber, als er mir damals den lumpigen Napoleon verehrt, die Prophezeiung gemacht, ich werde noch erfahren, daß nicht alles Gold sei, was glänzt. Ach ja, und auch ein Marienbruder hat, trotz seiner Marienbruderschaft, nicht immer ein goldenes Herz. Aber die gute Mutter möchte, daß das nicht so sei und darum soll man's nun nicht sagen, wenn es auch hundertmal so ist. Als ob es mit Nicht-Sagen dann auch schon nicht so wäre.

Und weil ich sie nun gekränkt habe mit meinem Sagen, rächt sie sich und zieht alles ins Spöttische, was ich nur schreiben mag. Ja, liebe Mutter, Deine spöttische Art ist nicht immer lieb, und besonders Deine giftigen Reden auf das Fräulein von Montmerle haben mich wirklich gekränkt. Du tust dieser Dame unrecht, und was wirst Du dazu sagen, wenn sie nun etwa eines Tages Deine Schwiegertochter wird?

Also, Du hast mir das Schreiben von meinen Zuständen hier fast ein wenig verleidet; aber der Vater ist da anders, und er wird sicher stolz darauf sein – den Hinterwinklern braucht Ihr's ja nicht zu erzählen –, daß sein Sohn in einem Schloß wohnt, so weitläufig und prachtvoll gebaut, daß gewiß die Königsschlösser zu Stuttgart oder Ludwigsburg, obwohl ich sie nicht gesehen habe, kaum großer und schöner und reicher sein können. Dieses Schloß geht auf einen Garten hinaus, was soll ich erst davon sagen. Die Bilder von weißem Stein darinnen sind nicht zu zählen, und drei springende Brunnen treiben ihr Wasser höher in die Luft als Euer Kirchturm zu Hinterwinkel hoch ist.

Dieser Garten geht allmählich in einen Wald über, der aber auch nicht ein gemeiner Wald, sondern von schönen gewundenen und geraden Wegen durchzogen ist, worauf der weiße Sand täglich sauber geharkt wird. Und wenn man in diesem Wald weitergeht, eine halbe Stunde lang ungefähr, da steht man plötzlich vor einem Abgrund. Weiße Felsen starren lotrecht nicht in die Höhe, sondern in die Tiefe, und in dieser Tiefe drunten liegt weit hinaus – das Meer. Das wahrhaftige große, weite Meer, und so tief liegt es drunten und so weit hinaus blickt man, daß die vielen Segelschiffe darauf, deren sich die Fischer bedienen, aussehen wie kleine weiße Schmetterlinge, die flügelwippend auf einer großen blauen Blume sich wiegen.

Was aber den Vater am meisten verwundern wird: ich bin ein Jäger geworden. Der Herr Marquis von Auberoche hält seit zwei Monaten öfter große Jagden ab, wozu viel vornehme Leute aus den umliegenden Schlössern kommen, ja sogar von Paris, und der Herr Marquis hat ausdrücklich gewünscht, daß ich da auch immer dabei sei und hat mir zu diesem Zweck ein höchst zierliches und feines Gewehr verehrt. Geschossen habe ich damit noch nichts. Es kommt einem nicht viel Wild vor den Schuß, und auf unseren Jagden sieht man allzeit mehr Jäger (und Jägerinnen, denn die Damen gehen auch mit) als Hasen, da in diesem Frankreich auf Weg und Steg alles schießen darf, was will und einen Jagdpaß hat.

In vierzehn Tagen geht's nach Paris, da der Herr Marquis Deputierter ist und im Winter in der Hauptstadt sein muß. Mir hat er gesagt, daß er mich dort auf seine Kosten auf das Kaiserliche Konservatorium schicken wird, und das ist die höchste Hochschule für Musik in ganz Frankreich. Ein berühmter Professor dieser Schule ist gegenwärtig hier zu Besuch, er hat mir gesagt, daß es ihm eine große Ehre sein wird, mich zum Schüler zu bekommen ...«


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