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Achtes Kapitel

Der Bendel und der Saam oder die ersten schmerzlichen Zuckungen eines Herzchens

Zu Ostern bei meinem Übertritt in die zweite Klasse unserer Hochschule war ich von meinem Vater mit einem neuen Gewand versehen worden, das mich leider von allen andern Knaben des Dorfes allzusehr unterschied.

Diese steckten in schweren Wämsen von grobem, unverwüstlichem Zwillich, ich aber trug ein leichtes Kittelchen aus blaukarriertem Kattun, so leicht, daß es von mir wegzufliegen drohte, wenn nur ein leiser Luftzug ging, weshalb es geraten schien, das Zeug noch ganz besonders an meinem Körperchen zu befestigen. Dazu wäre ein Gürtel das beste Mittel gewesen. Doch ein richtiger Gürtel kostete zuviel Geld.

Mutter Regina half sich auf andere Weise. Ein dunkelblaues Band tat dieselben Dienste. Die Gute nähte dieses Band auf dem Zeug fest, das sie im Rücken fältelte. Dadurch wurde der Kittel zur Bluse. Das Band selbst wurde in der Nabelgegend mit einer Schleife zusammengebunden.

Schon das Gewand wurde mit scheelen Augen angesehen. Diese Bluse wich zu sehr ab vom Herkömmlichen. Sie wurde als eine Beleidigung empfunden. Denn anders sein als die andern, das heißt immer die andern beleidigen und fordert mit Recht diese zur Rache heraus. Der arme Schneiderbub sah aber in seiner Bluse fast aus wie ein Herrensöhnchen. Oder er wollte so aussehen, wie man meinte.

Einen solchen Hochmut durfte man nicht aufkommen lassen, und kein Spott erschien giftig genug, um dagegen anzukämpfen.

Wohl trug noch einer in der Schule andere Kleider als die Bauernbuben, nämlich der kleine, zierliche Artur Blankenhorn, der Sohn des Krämers Siegmund Blankenhorn. Aber wenn man eben Artur Blankenhorn hieß, dann hatte man, so schien es, ein Recht zu aller Art Ausnahme und Auszeichnung. Und außerdem war Arturs Kleid in seiner Art solid und das meine schmeckte nach Bettelhaftigkeit. Und statt des Bandes trug er einen wahrhaftigen Gürtel.

Aber, wenn das auch nicht so gewesen wäre: Artur hegte in sich das sichere Gefühl, vornehmer zu sein als die andern, er trug sein Kleid mit dem stolzesten Selbstbewußtsein. Und also imponierte er. Aber der arme Lexel, wo hätte der ein Selbstbewußtsein hernehmen sollen? Denn daß das eine Sache ist, die oft schon für ein wenig Geld gekauft werden kann, wußte er nicht und hätte ihm auch gar nichts genützt.

Besonders reizte an meinem Anzuge der vordringliche blaue »Bendel« die Spottlust. Und bald rief man mich nur noch mit diesem Namen. Ich hieß nicht mehr der Xander, der Lexel, ich hieß auf einmal der Bendel, und der Name hing mir lange Zeit an.

Ich hieß jedoch nicht nur der Bendel, ich hieß auch der Saam. Zu den Namenlosen habe ich also damals nicht gehört.

Saam aber, das war in der Sprache von Hinterwinkel soviel wie »Saum«. Der Bendel an meiner Bluse war nämlich ein Saumbendel oder Tuchsaum, denn solche Tuchsäume haben die Schneider immer vorrätig. Ich trug bei gutem Wetter auch Schuhe, die aus solchen Säumen geflochten waren. Man hieß sie Bendelschuhe, ursprünglich, weil sie aus einem Geflecht von Bendeln bestanden, und dann, weil der »Bendel« sie ausschließlich trug, ein nexus causalis, wie man sieht, der jener Schlange, die sich selber in den Schwanz beißt, auf ein Haar ähnlich sieht. Und wahrhaftig, so kleine Dorfkinder können in ihrem Denken ebenso spitzfindig und verzwickt sein wie die größten und berühmtesten Philosophen.

Zu den genannten Ostern kam auch Olga Rotermund in die Schule, und so war nichts natürlicher, als daß wir meistens den Weg zusammen machten. Auch auf dem Heimwege gingen wir wieder Seite an Seite, und bald wurden wir beide wegen dieser treuen Kameradschaft viel geneckt.

Auf dem genannten Heimweg gab es nun einen Punkt, wo wir beide uns von den übrigen Weggenossen zu trennen pflegten, nämlich an der Stelle, wo der sogenannte Bäckensteg über den Bach führte. Die andern überschritten diesen Steg; Olga und ich aber schlugen einen Pfad ein, der zwischen dem Bach und den Dorfgärten hinführte bis zu der hochbogigen Steinbrücke, auf der wir zu unserer Wohnung gelangten.

Es war ein schöner, reizvoller Weg, besonders im Sommer, wenn rechter Hand die nickenden Bohnenblüten den Kindern das Gesicht streiften, während links am Bachrand, zwischen hohen, blumigen Stauden, die Früchte wildwachsender Stachelbeeren und Johannisbeertrauben sich zu röten anfingen. Auch schwarze Johannisbeeren wuchsen dazwischen mit einem so seltsamen Geschmack, mit einem fast berauschenden Duft.

Und noch freudigere Überraschungen erlebten wir in der vorgerückten Jahreszeit auf unserem gemeinsamen Pfad, wenn uns aus den Gärten heraus, von überragenden Ästen, bald ein rotbäckiger Apfel, bald eine goldgelbe Birne, bald eine blaue Königspflaume vor die Füße fiel. Wir genossen das freie Geschenk mit unvermindertem Behagen, auch wenn wir einen noch so dicken Wurm in der lachenden Frucht entdeckten. Mit einem abgebrochenen Zweiglein oder auch mit dem schnalzenden Finger entfernten die Näscher den unwillkommenen Festteilnehmer, und ohne die geringste pessimistische Anwandlung bissen wir herzhaft weiter ein, jetzt die Olga, dann ich, und so abwechselnd. Nur selten verteilten wir die Beute auf einmal.

Auch im Winter bereitete uns der Weg große Freude. Da bekam der Bach einen zackigen Eisrand, und weiße Duftflocken hingen am Gesträuch, daß es aussah wie verzuckert.

Aber manchmal schmollte die blonde Olga mit mir, ich wußte nicht warum. Dann ließ sie mich meinen Gartenweg allein gehen und ging mit den andern über den Bäckensteg, obgleich sie damit einen weiten Umweg machte.

Und die andern triumphierten. Und sie machten in ihrer Sprache Spottverse auf den »Bendel«.

Sie machten auch die Melodie dazu, sie sangen:

Der Bendel und der Saam,
Die gehn minnanner haam,
Der Saam und der Bendel,
Die kriege auch kei Händel.

Und nun weiß man ja allgemein, wie es mit der Dichterei zu gehen pflegt. Es ist leicht, gar keine Strophe zu machen, aber es ist schier unmöglich, wenn man einmal angefangen hat, nur eine einzige zu machen. Erst gar, wenn die Melodie dazukommt. So eine Melodie ist die reinste Gebärmutter von immer neuen Strophen. Und so machten auch diese Dorfkinder im Schoß der Melodie zu ihrer ersten Strophe bald eine zweite, eine dritte, eine vierte usw., nur hatten alle denselben Sinn, wie sie eben auch aus derselben Melodie geboren waren.

Eine lautete:

Der Lexel und der Xandr
Gehn ganz allein mitnandr,
Der Xander und der Lexel
Essen's ganz Jahr Kraut und Häcksel.

Und alle sang die blonde Olga lustig mit, denn sie schmollte nicht einmal, sie schmollte öfter mit Alexander, der doch niemals wußte, warum; ja, sie soll selber die besten Strophen von sich aus erfunden haben.

Das war bitter für Alexander Schmälzle.


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