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Dreizehntes Kapitel

Die Botschaft der Hanne Strohmelker

Die Eröffnungen des Herrn Steuerperäquators hinderten nicht, daß ich gerade um diese Zeit täglich meine Geißen und Gänse auf die Weide treiben mußte. Ja, ich tat dies sogar durchaus nicht ungern. Ich tat es jetzt mit befriedigterem und freudigerem Gefühl als lange nicht; denn:

Das Spiel des Lebens sieht sich heiter an,
Wenn man den sichern Schatz im Busen trägt,

wie die gespensterhaft zarte Thekla so schön deklamiert.

Und gerade drei Tage später war's und ich lagerte mit meiner Herde draußen am Saum des Salmischen Gehölzes bei den Heiligenäckern. Es hieß das Salmische Gehölz, weil dieser Wald und die sich daran anschließende Flur einst dem Fürsten von Salm-Gottmannsdorf gehört hatten. Doch waren die Fürstlich-Salmischen Güter in dieser Gegend längst alle verkauft worden und das Salmische Gehölz mit dem Hof Brunnacker war in den Besitz der Grafen von Zeppelin-Aschenhausen übergegangen.

Dieses Salmische Gehölz war ein Birkenwäldchen, und die schönen weißen Bäume mit den fast bläulichen Blättern standen in einer vorspringenden Ecke des Waldes nur sparsam und bildeten einen wahrhaft zauberisch anmutenden lichten Hain. Nur wenig ganz alte Birken ragten hier auf, von denen jede einzelne, eben weil sie so lose auseinandergerückt waren, sich zu einem recht knorrigen und eigenartigen Individuum ausgebildet hatte.

Immer habe ich diesen Ort, mit seinem historischen Namen nach dem Fürsten von Salm, über alles geliebt, und wenn ich heut daran zurückdenke, ist es mir fast, als ob sich damals in meiner Vorliebe so etwas wie eine Vorahnung künftiger Erlebnisse ausgesprochen hätte.

Unter einer der schönsten von diesen alten Birken, die etwas überhing und ihr schlankes dünnes Reisig fast wie eine Trauerweide niederhängen ließ, lag ich jetzt langhin ausgestreckt, und während meine Tiere ihre Nahrung suchen mochten, wo sie sie fanden, die Gänse auf den angrenzenden brachliegenden Heiligenäckern und die Geißen an den Hecken des Waldrandes, war ich ganz vertieft in einen Band von Walter Scott; denn Otto Heinzelmann hatte mir eine Anzahl dieser Bücher schon vor einiger Zeit geschenkt. Es waren meist unzusammenhängende Bände, Gott mochte wissen, wo die fehlenden hingeraten waren; aber ich ließ mich durch diesen Übelstand nicht irremachen, meine Phantasie ersetzte das Fehlende und oft merkte ich die Lücken gar nicht.

Von meiner Kenntnis der französischen Sprache, wie ich sie mir in Gesellschaft des Finzer bei unserem Pfarrer Barthelmeyer erworben hatte, wird sich niemand einen übertriebenen Begriff machen. Um so mehr wird man sich wundern, wenn ich nachträglich sage, daß mein Walter Scott keine deutsche, sondern eine französische Übersetzung war.

»Wenn du Lust dazu hast, magst du dich da hineinfressen wie die Maus in den Käse,« hatte Otto Heinzelmann gesagt, »dabei mußt du Französisch lernen, ein Wörterbuch liegt auch bei meinen Schmökern, und das kann dir noch sehr nützlich sein; denn wenn du einmal ein berühmter Virtuose wirst und in Paris auftrittst, da wäre es doch dumm, wenn du dann mit deinen schönen Verehrerinnen nicht sprechen könntest und dastehen müßtest wie ein Stockfisch.«

Es war das eine der Reden, wie sie der Steuerperäquator von Zeit zu Zeit an mich richtete und wovon ich soviel verstand als wenn es spanisch gewesen wäre. Das ist nicht verwunderlich, aber sehr könnte es verwundern, daß tatsächlich ein Stückchen von der närrischen Rede sich bald darauf und närrisch genug erfüllt hat.

Ich aber »fraß« mich wirklich in meinen Walter Scott hinein.

Wer in einer neuen Sprache liest, der erlebt von Wort zu Wort neue Überraschungen und Aufregungen. Für ihn haben die Wörter an sich schon Interesse, ganz abgesehen von ihrem Sinn und ihrer Bedeutung. Das Gewöhnlichste wird interessant, wenn es uns in einer neuen Sprache entgegentritt. Die Dialekthanswurste unter unseren heutigen Schreibersleuten wissen was sie tun.

Ich aber las so Außerordentliches wie die Bücher des Sir Walter Scott, und ich las sie als ein Dorfjüngling, in dessen geistigem Leben Bücher der Dichtung keine Alltagsnahrung bildeten, sondern als seltene Leckerbissen empfunden wurden.

Die zwölf oder fünfzehn Bände des Walter Scott waren nun allerdings kein kleiner Leckerbissen, ich hätte mir leicht den Magen daran verderben können. Aber ich fand ihn in eine harte Schale eingeschlossen und sah mich genötigt, ihn erst Stück für Stück aus seiner Umkrustung herauszuknuppern. Und im Anfange fielen die Stückchen sehr klein aus. Um so besser bekamen sie meiner Verdauung. Oder, um in einem anderen Bild zu reden, ich befand mich in der Lage eines Menschen, der vor das Heidelberger Faß, voll des süßen Weines, gestellt wird, mit einem Teelöffel in der Hand, um den berauschenden Inhalt der Riesentonne zu seinem Genusse auszuschöpfen.

Die Aufgabe konnte entmutigen, trotz aller Verlockungen, die sie bot. Zum Glück besaß mein Teelöffel Märcheneigenschaften. Er wuchs. Er wurde nach und nach ein ordentlicher Suppenlöffel und dann ein Schöpflöffel, bis er sich zuletzt gar in einen Becher verwandelte, aus dem ich in vollen Zügen trank bis zur Berauschung.

Ich brütete bei diesem Vertiefen in den englischen Dichter die wunderbarsten Illusionen in mir aus und nährte sie, und sie wuchsen mir hoch über den Kopf. Die Gestalten des Dichters waren für mich Menschen, nichts als Menschen; ihre soziale Bestimmtheit und Bedingtheit übersah ich, und ich nahm nicht den geringsten Anstand, mich selber in Gedanken an die Stelle all dieser ritterlichen Helden zu setzen und mir einzubilden, daß ich dabei keine schlechtere Figur machte als jene.

Jedem jungen Romanleser ergeht es ähnlich, und das ist, sagen die klugen Leute, eben das Unglück solcher Lektüre; sie macht Phantasten, sie benimmt dem jungen Menschen den gesunden, nüchternen Sinn für die Wirklichkeit des Lebens, mit der er zu rechnen und zu kämpfen hat, sie läßt ihn den festen Boden unter den Füßen verlieren und nach farbigen Wolkenbildern greifen, die ihm unter den Fingern zerrinnen.

Ich nahm aber den Schotten für etwas, das er nicht war, für einen wahren, großen Dichter, vor dem alle Menschen gleich sind in der Kunst, wie sie gleich sein sollen vor Gott – wie es wenigstens das Christentum lehrt. Wäre ich vor meinem Poeten, wenn er noch lebte, hingetreten mit der Zumutung, er solle mich, den Alexander Schmälzle von Hinterwinkel, so wie ich leibte und lebte, als Helden in einen seiner Romane setzen, er möchte ein seltsames Gesicht dazu gemacht haben. Als Stiefelputzer oder Hundejunge eines Helden, wenn du willst, würde Sir Walter Scott geantwortet haben. Und um meine Illusionen wäre es dann geschehen gewesen. Es sollte auch ohnedies bald mit ihnen zu Ende sein.

Vorderhand aber war ich stolz in ihnen, und mitleidig dachte ich, als ich einmal das Buch beiseite legte, an den zierlichen Artur Blankenhorn mit dem allzeit wohlgestrählten und wohlpomadisierten Langhaar, der nun vorübergehend auch fort war von Hinterwinkel und in der Oberamtstadt die Kunst studierte, mit der Miene eines Ministers faule Heringe in schmutziges Zeitungspapier zu wickeln für Hinterwinkler Feinschmecker, was er eben nur in der Oberamtstadt lernen konnte, und an sein Goldenes Buch und meine vergebliche Sehnsucht danach.

Gerade diesen Artur beneidete ich jedoch nicht um seine Fremde. Wird man erraten warum? Er hatte mir eben, durch seine geleckte und geschleckte äußere Person und sein hochmütiges Auftreten bei jeder Gelegenheit, ja nicht zum geringsten durch seine verächtliche Vorenthaltung des Balladenbuches, mehr als alles in Hinterwinkel imponiert und mir einen derartigen Begriff von seiner Vornehmheit beigebracht, daß ich ihn aufrichtig für ein Wesen höherer Art hielt. Und – »die Sterne, die begehrt man nicht, man freut sich ihrer Pracht«.

Und dachte auch zurück an die qualvollen Nachmittage, wo ich hier an derselben Stelle das »Confiteor« lernen wollte und über das quare tristis incedo nicht hinauskam. Ich wußte jetzt soviel Latein, daß ich die Worte verstand, und ich mußte lachen über mein ehemaliges unvernünftiges Treiben.

Denn die Dummheit unseres vergangenen Ichs einzusehen und einzugestehen, kostet uns gar nichts, nur an der Gescheitheit des gegenwärtigen und alljetzigen lieben Ichs mögen wir nicht gern zweifeln.

Wie ich also an das ehemalige quare tristis dachte, erklangen von fern her über den Kahlenbuckel herüber die Glocken von Hinterwinkel, erst die eine große, dann alle zusammen. Solches Läuten zeigte den Tod an, und ich zog meine Kappe, um für die Seele des Verstorbenen ein Vaterunser zu beten.

Währenddessen wunderte ich mich, wer der Heimgegangene nur sein möge, denn ich wußte niemand krank in Hinterwinkel. Vom Waldrand her aber kam ein altes Weib auf mich zu, in der ich bald die Hanne Strohmelker vom »Kleinen Dörfle« erkannte.

»Kleines Dörfle« hieß das dem Dörrhofe entgegengesetzte Ende von Hinterwinkel, wo noch ärmere Leute wohnten als auf dem Dörrhof.

Die Hanne Strohmelker war zwar kein Bettelweib und auch keine Diebin, aber wenn sie sich abends durch die Gemüsegärten nach Hause schleppte und niemand in der Nähe gewahrte, nahm sie wohl bald da, bald dort eine Handvoll Bohnen oder eine gelbe Rübe oder ein Häuptchen Wirsing mit, was ihr sehr gut und den Bauern nicht wehe tat, wie sie meinte, denn sie »verteilte« ihren Diebstahl unter soviel Eigentümer als möglich; ihr Brot aber verdiente sie mit Steineklopfen. Sie hieß in Hinterwinkel fast allgemein »die Hexe vom kleinen Dörfle«, einige abergläubische ältere Leute glaubten sogar im Ernst an ihr Hexentum.

Diese Dame fragte ich nun, als sie eben an mir vorüber wollte, wer im Dorf gestorben sei.

»O du kreuzsterbender Heiland,« fing sie an, »jetzt weiß der noch gar nichts.«

Diese Einleitung erschreckte mich, ließ mich nichts Gutes ahnen.

»Ja, reiß' nur die Augen auf, o du kreuzsterbender Heiland, und wenn du bleich wirst, hast du ganz recht, und statt drei Vaterunser magst du gleich drei Dutzend beten, denn der kann's brauchen, der Dicksack. Aber wie gelebt, so gestorben. Geglaubt hat der nichts, als daß der Schwartenmagen die größte Wurst ist, o du kreuzsterbender Heiland, und Fleisch hat er alle Freitage gegessen, und ein vornehmes Getue hat er gemacht, als ob man nicht gewußt hätte, daß er auch vom Dorfe stammte als des alten Schulmeisters Heinzelmann sein Bub. Ohne Sakramente und Wegzehrung ist er nun abgefahren, ganz plötzlich, weil ihn der Schlag getroffen hat, und nun kann er anderswo den Herrn Steuerbequader spielen, wenn's ihm nicht vergeht.«

So redete das Weib, das nicht zu den Betschwestern zählte, das für eine Braut und Freundin des Teufels galt.

Ich aber betete keine drei Dutzend Vaterunser, mir war es ganz dumpf zumute. Wie vom Blitz getroffen, wie gelähmt starrte ich vor mich hin.


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