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Neuntes Kapitel

Artur Blankenhorn und das Goldene Buch
Das Kräutlein Lanzelott

Im dritten oder vierten Jahre meiner Schulzeit mochte es sein, daß unser Nachbar, der Gerber Apel, seine einzige Tochter verheiratete und im Gasthaus zum goldenen Hirsch eine glänzende Hochzeit bestellte. Er schätzte mehr als die übrigen Hinterwinkler meinen Vater als gewanderten Mann und lud ihn und mich als nächste Nachbarn zu dem Fest.

So viel Braten und Brühen und Berge von Mehlspeisen, als an diesem Tage auf der langen Tafel im Tanzsaal des Hirschen aufgetragen wurde, hatte ich in meinem Leben nicht vor Augen gesehen. Aber so groß mein Hunger und meine Lust nach der ungewohnten Herrlichkeit gewesen sein mochte, so war ich doch schon nach zwei Schüsseln vollkommen satt und an die Stelle des ersten Ergötzens trat die Langweile, so daß ich mich bald empfahl und aus der dicken Luft ins Freie hinauslief. Doch nach einiger Zeit wurde ich zurückgeholt, weil man das Süße auftrug.

In der Tat erlebte ich, in den hochzeitlichen Saal zurückkehrend, eine große Herrlichkeit. Die ganze Tafel stand voll gezuckerter Waffeln. Mein Vater hielt mir schon von weitem eine entgegen.

»Alexander,« rief er, »da schau einmal an, da gibt's Farbenschachteln, ganze Haufen und solche, die man essen kann, nun wirst du zufrieden sein.«

Das waren verhängnisvolle Worte. Ich wollte nämlich um jene Zeit – man kennt ja zur Genüge diese abwechselnden Liebschaften und Aspirationen der Knaben – ein Raffael werden, und lag Tag und Nacht meinem Vater in den Ohren, daß er mir beim Krämer eine »Farbenschachtel« kaufe, wie ich eine bei Schulmeisters Christian gesehen. An einer Farbenschachtel hing mein Leben.

Nun wollte ich schon nach der gezuckerten und in Wahrheit wie eine Farbenschachtel gefächerten Waffel die Hand ausstrecken, aber das Unglückswort, die Erinnerung an meinen unerhörten heißesten Lebenswunsch, rief plötzlich einen schmerzlichen Trotz in mir wach. Ich empfand das innigste Gelüste nach dem Zuckerbrot, aber mein Ärger über die verweigerten Farben überwog; und mich für das entbehrte Rüstzeug künstlerischer Betätigung mit einem elenden Leckerbissen entschädigen zu lassen, dünkte mich eines neunjährigen männlichen Weltbürgers unwürdig. Nein, ich ließ mich nicht zum Narren halten. Eine Farbenschachtel zum Essen wollte ich nicht. Und grollend lief ich fort.

Ich fühlte eine stolze Befriedigung. Meinen noch größeren Schmerz aber und mein wehmütiges Mitleid mit mir selber, der ich aus beleidigter Würde keine Waffeln essen durfte, wollte ich mir nicht eingestehen.

Ich lief hinaus über Gärten und Wiesen und die Kyrlihalde hinauf nach dem Kahlenbuckel, und hinter einer Hecke von Haselstauden warf ich mich ins Gras, zwischen Wegwarte und gelben Rainfarn, und weinte bitterlich – und bedauerte, die Waffeln nicht zur Stelle zu haben, wo ich so schön heimlich essen und mich für die öffentlich kundgetane Festigkeit hätte belohnen können.

Erst am Abend, als es schon dunkel wurde, stahl ich mich, sehr verlegen, in die Festräume zurück, ungewiß, was ich für ein Gesicht machen sollte.

Und da geschah etwas wie ein Wunder.

Schon weit vor der offenen Türe drangen Laute an mein Ohr, die mich auf Außerordentliches gefaßt machten. Ich schlich mich leise heran und sah und hörte. Alle saßen still lauschend um die Tische, nur einer, der Krämer Blankenhorn, stand mitten im Saal auf einem Stuhl. Er deklamierte.

Im ersten Augenblick glaubte ich, er ahme den Pfarrer nach, wie er auf der Kanzel predigt, doch bald merkte ich, daß das etwas anderes sei. Die Worte des Mannes gaben dem Auge und der Seele Bilder. Lebendige, farbige, lichtvoll freudige Bilder. Und Rhythmus und Reim, wofür ich weder Name noch Begriff besaß, umwoben mich mit ihrem Zauber. Wie konnte nur ein Mensch so etwas sprechen.

Ich hätte aufschreien mögen vor innerem Jubel, und ich wagte doch kaum zu atmen vor Hingerissenheit und andächtiger Ehrfurcht.

Da war Zorn und Herzeleid und alles vergessen. Was sich sonst noch zutrug nach dem Vortrag, beachtete ich kaum; in meinem Ohr klangen nur noch Rhythmen und Reime, und meine Seele lebte in den geschauten Bildern.

Das vorgetragene Gedicht war die Bürgersche Romanze »Der Kaiser und der Abt«, und der Krämer wird die tanzenden Verse so schlecht als möglich gesprochen haben, aber ich war in meinem neunten Lebensjahre gottlob noch kein Kritiker.

In der Nacht träumte ich von den gehörten Herrlichkeiten, und am andern Tag in der Schule fragte ich ganz schüchtern und beklommen den kleinen Artur Blankenhorn, ob das in einem Buche gedruckt sei, was sein Vater am Abend gesprochen.

Allerdings stünde das gedruckt in einem Buch, es heiße das Goldene Buch, und sein Vater besitze es, und darin stünden noch hundertmal schönere Sachen.

Wie meine junge Seele zitterte bei dieser Eröffnung!

Zu denken, daß ich dieses Buches habhaft werden könnte! Etwa, daß Artur es mir leihen würde.

Doch wo sollte ich den Mut hernehmen, ihn darum zu bitten?

Der Krämerssohn sah so vornehm aus. Noch heute sehe ich ihn mit seinen weißen Strümpfen und kurzen Kniehöschen, mit seinem zierlichen Kamisol, nicht von einem lumpigen Bendel, sondern von einem richtigen roten Glanzgürtel umspannt, mit seinem hellen Strohhut, dessen rückwärts niederhängende Bandenden auf blauem Grund einen gelben Anker zeigten – eine geheimnisvolle Hieroglyphe für mich.

Und dann hatte der kleine Artur immer reine weiße Hände und trug so schöngestrählte lange Haare, die so fremdartig dufteten.

Ja, der Knirps erschien ganz unbegreiflich vornehm. Und je länger ich es aufschob, ihm von meinem Anliegen zu reden, desto schwerer fiel mir's.

Aber einmal tat ich es doch, ich faßte mir mit Gewalt ein Herz.

Ich kam übel damit an. Das altkluge Bürschchen rümpfte die Nase. Was ich mir einbilde. Das Buch sei nicht in der Sprache geschrieben und mit den Buchstaben gedruckt, die wir in der Schule lernten. Wie ich glauben möchte, daß ich so etwas lesen oder gar abschreiben könnte, das vermöge er nicht einmal.

Dieses » er nicht einmal« hatte seinen guten Sinn, denn Artur saß auf dem ersten Platz der Klasse und ich saß tief unter ihm.

Der abweisende Bescheid betrübte mich unsäglich; aber er entriß mir doch nicht alle Hoffnung. Wochen verstrichen, aber meine Sehnsucht nach dem Buche verminderte sich nicht, sie wuchs ins Ungeheure.

Leider sah ich allzu deutlich, daß das Buch für mich nur zu bekommen sei, wenn ich mir den guten Willen Arturs zu erkaufen imstande wäre.

Einmal hatten wir eine sehr zusammengesetzte Rechenaufgabe mit ungeheuerlichen Zahlen, und Artur war zu bequem oder zu vornehm gewesen, eine so langweilige Arbeit zu machen, bei der nichts herauskam als wieder reine Zahlen. Er machte sich also an mich, ich sollte ihn mein Gekritzel, das fast zwei Seiten der Schiefertafel füllte, abschreiben lassen. Es lag ihm daran um so mehr, da ihm der Lehrer schon vor dem Schulhause bemerkt hatte, er sei doch begierig, wer heute sein Rechenexempel richtig habe.

Dies genügte, in dem kleinen Artur einen großen Ehrgeiz zu erwecken. Und mir mußte er vor allem eine richtige Arbeit zutrauen, denn nur die meinige wollte er abschreiben.

Er gab mir die süßesten Worte.

Ich wollte aber nicht recht daran.

Warum er denn die Rechnung nicht selber gemacht habe? Er wäre es so gut imstande gewesen wie ich. Und von ihm habe noch nie jemand auch nur ein I-Tüpfelchen abschreiben dürfen.

Aber Artur ließ mich nicht ausreden. Die Zeit drängte. »Gib, flüsterte er, du sollst das Goldene Buch dafür haben.«

Mir fuhr ein freudiger Schrecken durch die Seele. Für das Balladenbuch hätte ich mein Seelenheil gegeben.

Artur hatte gerade die letzte Ziffer der barbarischen Rechnung hingeschrieben, als der Lehrer in die Klasse trat. Er rief zuerst den schwächsten Rechner auf, daß er sein Resultat ablese. Da brach gleich das Donnerwetter los. Was! Eine solche Frechheit, das habe er abgeschrieben. Er solle nur gleich sagen von wem. Und der Schulmeister griff nach dem Rohr.

Der Arme nannte heulend meinen Namen. Da wurde der Schulmeister erst wütend, das sei ein niederträchtiger Betrug von mir. Und leider sei es nicht das erstemal, daß ich so gegen sein Verbot handelte. Er wollte mir's aber legen. Ich täte es auch nur, um mich großzumachen vor meinen Mitschülern.

Und am Ende hätte ich gar noch mehreren die verbotene Gunst erwiesen. Sicher, er lese mir's ja von der Stirn ab.

Unter diesen Umständen ward in dem kleinen Artur die Schadenfreude stärker als der Ehrgeiz.

Und er gestand, daß ich auch ihm meine Tafel gegeben habe.

Ich fand keine Gelegenheit, etwas zu erwidern, ich wurde über die Bank gezogen, mit angespannten Höschen ...

Und das spanische Rohr begann seinen Tanz.

Artur bekam einen Backenstreich, aber ganz leicht; er wurde für seine Ehrlichkeit fast gelobt.

Ich für meinen Teil würde die erhaltene Prügel nicht bedauert haben, ja ein zehnfaches Maß derselben wäre mir nicht zuviel gewesen, wenn ich das Balladenbuch dafür bekommen hätte, das Goldene Buch.

Aber dem Artur fiel es nicht ein.

Ich hätte den dummen Jakob nicht abschreiben lassen sollen, meine Schuld sei's, daß die Sache herauskam, meinetwegen sei er gestraft worden.

Soviel ich wußte, verhielt sich das umgekehrt. Aber wenn Artur sagte, ich bekomme das Buch nicht, so bekam ich es sicher nicht.

Ein Jahr später, um die Zeit des Knöpfespiels, hatte ich einen besseren Kaufpreis zu bieten.

Man spielte mit Knöpfen um Knöpfe, in einer Form, die ich außer in unserem Dorf weder in heimatlichen noch fremden Gegenden je wieder angetroffen habe, bis vor kurzem in Italien, an der Riviera, am Strand von Porto Fino, bei einem halb verfallenen Sarazenenkastell. Dessen Quaderwände, von deren Festigkeit einmal das Los der ganzen abendländischen Christenheit abgehangen, mußten jetzt dem kindlichen Spiel dienen.

Aufs höchste überrascht, blieb ich stehen und sah zu. Diese kleinen braunen Ligurier, die sich so wildfremde Dialektlaute zuwarfen, wichen um kein Haar von der Art und Weise ab, wie wir daheim in unserem Hinterwinkel das Spiel getrieben vor langen Jahren als Kinder.

Und ich mußte Artur Blankenhorns gedenken, des Krämersohns, der unterdessen daheim an die Stelle des Vaters gerückt war und der nun von demselben Limburger Käse, von demselben Pfälzer Tabak, den sie nach seinem Aufschriftbildchen »Roter Reuther« heißen, von derselben Zichorie im blauen Papier und von derselben Wagenschmiere verkauft, wie einst sein Vater, nur mit noch hochtrabenderen Redensarten.

Mit dieser Erinnerung und der Erinnerung an das alte Kinderspiel stiegen zugleich alle Empfindungstöne und Farbendüfte des deutschen Vorfrühlings in mir auf, der ärmer ist und glanzloser, aber ersehnter als der südliche, und der ein eigenes schauerndes Entzücken in die sonnendurstigen Gemüter gießt. Wenn der Erdboden, nachdem er Monate und Monate in Eis oder Kot gestarrt, nun zum erstenmal wieder sonnentrocken wird, zu allererst auf betretenen Wegen, an mittägigen Rainen, auf der hochbogigen Dorfbrücke, und wenn die Spatzen sich gebärden, als wollte sie sich schon im Staube baden: das ist ein Gefühl, eine Freudenahnung.

Aber die Felder draußen sind noch morastig und unzugänglich, für die Spiele in Wald und Flur, für die Kriegs- und Räuberspiele ist noch nicht recht die Zeit, in Erwartung ihrer trieben wir das Knöpfespiel.

Vor den Scheuertoren, an der Schwelle der Häuser, an der Kirchenmauer und vor allem auf jener hohen Brücke mit ihrer altfränkischen steinernen Brüstung ging es los. Man spielte zu zweien oder mehreren. Jeder hatte zum Anwerfen einen »Plapper«, was vielleicht ursprünglich »Plappert« hieß. Denn er war in der Tat meistens eine alte Kupfermünze. Oft jedoch war es auch ein großer metallener Knopf, ein Soldatenknopf, oder von denen, wie die Großväter an ihren langen Röcken trugen.

Damit warf man. Man warf den Plapper gegen eine feste Wand, gegen Türen, Türpfosten, Scheuertore, Mauersteine, Brustwehren und was sich sonst darbieten mochte; man warf ihn so, daß er sich einem andern schon geworfenen näherte.

Geschah dies so weit, daß man den Abstand mit den Fingern überspannen konnte, hatte man einen Knopf gewonnen; lagen aber gar zwei oder drei Plapperte in Spannweite, so bestand der Gewinn in ebensoviel Knöpfen.

In solchem Fall gab es in der jungen Brust einen Freudensturm, nicht geringer als in derjenigen des Börsenmannes, der eine halbe Million davonträgt. Andrerseits finstere Augen, schmerzliches Zucken der Mundwinkel, rote Köpfe, tausend Zeichen verzweifelter Seelenzustände.

Mancher Unglückliche verlor an einem einzigen Nachmittag seine ganze Barschaft, und der tödliche Schmerz der Betroffenen äußerte sich in der mannigfaltigsten Art, vom trotzig verschlossenen Groll bis zu weichen Tränen. Nur Selbstmord kam nicht vor, es fehlte an Revolvern.

Wer sich des Kredits erfreute, konnte weiterspielen und wenn er sich bereits den letzten Knopf von den Hosen abgeschnitten hatte. Er konnte Schulden machen.

Diese aber galten für verbindlich im strengsten Sinn. Um solche Ehrenschulden zu bezahlen, griffen die Betroffenen zu den verzweifeltsten Mitteln. Heimlicher Diebstahl und gewaltsamer Straßenraub nahmen bei diesem Zweck den Charakter heiliger Handlungen an. Denn unbewußt oder uneingestanden handeln die Menschen alle mehr oder weniger nach dem Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heilige.

Daß aber einer, um seine verpfändete Ehre zu retten, sich mit Messer und Schere an die Sonntagshosen seines Vaters oder seiner Brüder machte und sich dafür halb zu Tode prügeln ließ, geschah fast täglich; damit erwarb er sich den Ruf eines Buben von Ehre, eines Helden ...

Nicht alle Knöpfe hatten Kurs. Ein ganzes System von Regeln, wogegen die münzgesetzlichen Bestimmungen der ehemaligen sechsunddreißig deutschen Bundesstaaten eine Kinderei heißen konnten, setzten fest, unter welchen Bedingungen ein Knopf als Zahlung anzunehmen sei. Neben den gangbaren und ganz ungangbaren Münzen, d.h. Knöpfen, gab es, wie in allen solchen Verhältnissen, auch zweifelhafte, welche die einen annahmen, die andern nicht, je nach Charakter und Geschäftsprinzipien, oder welche man sich höchstens da gefallen ließ, wo die vollwichtige Münze eben nicht zu erlangen war.

Und höhere und niedere Münzen gab es. Jene waren die Plapperte. Sie galten oft drei, fünf oder noch mehr gemeine Knöpfe; ja es gab solche, die man mit mehr als zwanzig bezahlte, sie bildeten den Hauptstolz ihrer Besitzer.

In der Zeit des Knöpfespiels wurde jeder Knabe nach seinem Reichtum, d.h. nach der Zahl seiner Knöpfe geschätzt.

Man kannte diese Zahl genau. Und wie es bei den Alten hieß, der Brückenlenz hat zwanzig Morgen Wiese, der krumme Hammel fünfundzwanzig, der Füllentoni sechzig, der Blessenvogt einhundertzwanzig, und wie man in andern Kreisen sich zuflüstert, der Hirschhorn hat fünfzehn Millionen, der Oppenheimer zwanzig, der Ladenburg vierzig: so wußten und erzählten wir und nicht mit geringerer Wichtigkeit, daß Brückenlenzes Johann vierzig, Blessenvogts Finzer siebzig, Krummhammels Endres achtzig und Füllentonis Kilian sogar hundert Knöpfe sein eigen nenne, abgesehen von denen, welche soundso viel arme Teufel ihnen schuldeten.

Keiner aber ragte an Artur Blankenhorn hinan. Sein Reichtum schwankte zwischen hundertundzwanzig und hundertundfünfzig. Und er hoffte eines Tages die Zahl zweihundert zu erreichen.

Ich selber gehörte zu den ärmsten; höher als auf sechs bis sieben Knöpfe brachte ich es nie. Ich spielte auch wenig. Ich zog es zu Zeiten vor, tagelang herumzuschweifen und zu träumen, von allem möglichen, besonders aber von einem gewissen Buch und von Dingen, die darin standen, von jenem verwunschenen Buch, das ich, wie sehr ich mich danach sehnte, nicht bekommen konnte, weil es eben verwunschen war, weil es von feindlichen Mächten behütet war, zwar nicht von einem schwarzen Pudel mit roten Glühaugen, aber von einem kleinen boshaften Kobold, der sich Artur Blankenhorn nannte.

Täglich träumte ich davon. Denn nie wäre mir der Gedanke in den Sinn gekommen, daß das Wunderbuch am Ende gar nicht mehr existierte, daß der Krämer vielleicht aus seinen Blättern Schnupftabakdüten gedreht oder daß er sie zum Einwickeln fauler Heringe verwendet hatte.

Ich träumte weiter von dem Buch.

Und obwohl ich es einstweilen nicht bekam, machte ich mir's dennoch zu eigen, in einem besonderen Sinn. Hineinlesen konnte ich mich nicht, so träumte ich mich hinein.

Und ich erschuf es neu im Traum, schuf es für mich als mein Eigentum. Ich dichtete es, nicht wie es war, sondern wie ich es dachte und wie es mir nun ganz gehörte.

Der Gedanke an das Goldene Buch ließ mich wirklich nicht los. Wahrscheinlich hoffte ich, daß sich der Himmel noch sicher ins Mittel legen werde, entweder mit natürlicher Fügung oder, wenn es sein müßte, mit einem Wunder.

Und wahrhaftig, eines Tages geschah etwas, das ganz nach einem Wunder aussah.

Und Lanzelott hieß das Wunderkräutlein, das die langersehnte und heißersehnte Wirkung herbeizuführen schien.

In der mehrfach erwähnten Heckenmühle gab es außer dem Müller und seiner Frau, einer bereits erwachsenen Tochter, dem Mühlknappen Veit und der Magd Cyrene, noch eine Person, eine Greisin von über achtzig Jahren, die Großmutter des Müllers. Sie hieß in ganz Hinterwinkel nur das Mütterle, in welcher diminutiven Bezeichnung schon all die Verachtung ausgedrückt lag, womit bei uns auf dem Lande das impotente und hilflos gewordene Alter bedacht wird.

Und freilich war dieses steinalte Mütterle in seiner unglaublichen Verwahrlostheit weder anmutig noch ehrwürdig in seinem Aussehen. Denn, so ungeheuerlich es klingt, diese Ahne, sie wurde von ihrem Enkelsohn und dessen Frau und Tochter bis hinunter zu den Dienstboten schlimmer behandelt als ein räudiger Hund. Niemand kümmerte sich im geringsten um sie. Niemand gönnte ihr einen freundlichen Blick oder gar ein liebes Wort. Ihre gänzliche Verlassenheit in ihrer schlechten Bodenkammer ging über alle Vorstellung, und das war an ihr nur allzu sichtbar. Ihr Anblick flößte zugleich Jammer und Abscheu ein.

Solange ich sie kannte, hatte sie geschwollene und geschwürige Hände, und sie eben waren die Veranlassung, warum ich zu ihr in nähere Beziehung kam. Meine Mutter nämlich, nicht unbewandert, als Tochter des alten Schäfermichel, in mancherlei volksarzneilicher Wissenschaft, kannte wohl das Kräutlein Lanzelott als ein Linderungs- und Heilmittel gegen das erwähnte Gebreste. So lehrte sie auch mich das heilende Kraut kennen – Plantago laceolata heißt es in der Botanik – ja ich mußte oft in ihrem Auftrag dem Müllerle einen Bündel frischgepflückter Lanzelottblätter in seine schmutzige Bodenkammer bringen, weil es doch sonst in der Welt keine Seele gab, die sich bereit gefunden hätte, der armen verwahrlosten Greisin diesen Liebesdienst zu erweisen.

Das abstoßende Äußere des elenden Fraule wirkte entsetzenerregend auf mich. Ihre geschwürigen Hände, ihr Mund von Geifer schmutzig und zwei ungeheure rotbehaarte Warzen in ihrem Gesicht, eine an der Seite des Kinns, eine andere an der Nasenwurzel, in der Nähe des Auges, flößten mir einen unaussprechlichen Ekel ein, der Geruch in ihrer Kammer benahm mir den Atem; aber ich muß als Knabe ein unglaublich gutmütiges Kind gewesen sein, denn ich kann mich nicht entsinnen, dem Auftrag meiner Mutter je den geringsten Widerstand entgegengesetzt zu haben. Ich ging, sooft sie mich nur schickte. Zwar meinte ich in der verpesteten Atmosphäre des Müllerle oft vergehen zu müssen vor physischem Grausen, denn mein Geruchssinn war von seltener Empfindlichkeit, unter welcher Tugend ich auch anderen Orts viel zu leiden hatte; aber ich suchte meinen Abscheu mit Gewalt zu unterdrücken, und tat obendrein der Alten mit Bereitwilligkeit jeden Dienst, um den sie mich bat, als etwa ihr ein Krüglein frisches Wasser zu holen oder ihr die Stiege hinunter als Stütze zu dienen, wenn sie sich im Hof für den Nachmittag in die Sonne setzen wollte.

Niemals wäre ich in meinem späteren Leben einer solchen Selbstentäußerung je wieder fähig gewesen; auch schien es, daß der barmherzige Gott, zu dem die Menschen beten, meine eigene kindliche Barmherzigkeit nicht unbelohnt lassen wollte. Aber ein einziges kleines Teufelchen, in Gestalt eines pomadisierten und zierlich geputzten Krämersbuben wollte es offenbar anders, und so mag nachher der liebe Gott sich selber verwundert haben, wie so ein Dämönchen, ein wahrer Knirps von Teufelchen, ihm hinterrücks und ganz unversehens seine gute Absicht hatte zuschanden machen können.

Als ich nämlich eines Tages wieder bei dem Müllerle eintrat, einen großen Bündel des Wunderkräutleins Lanzelott in den Händen, kniete das Fraule auf dem Boden vor ihrer alten wurmstichigen Truhe und kramte unter ihren Sachen.

Sie schaute auf und warf mir einen Blick zu, freundlicher als gewöhnlich. Und dann murmelte sie etwas wie: »Gutes Büble, kommt zu einem alten, armen Ding, dem alles ausweicht und noch gar nichts gegeben, nichts, und kommt doch zu dem alten Mütterle, wie wenn's seine eigene Großmutter wäre.«

Und nach einigem Suchen zog sie aus einem Nebenbehälter, zwischen alten Spulen und Garnknäueln und verwaschenen Haubenbändern und tausend anderem Kram einen zugebundenen Beutel hervor von abgeschossenem Katun, mit bauschigem Inhalt. Und hielt ihn mir hin. Das sollte ich nehmen.

Ich griff nur zaudernd danach, ich glaubte, es sei Geld.

Es waren aber Knöpfe, mehr als fünfzig und auch Plapperte darunter. Und alle Sorten waren vertreten, und nur gute, lauter vollwichtige Münzen. Und siehe, mein erster Gedanke war das Goldene Buch.

Nun mußte ich es ja bekommen.

Und ich beschloß, sofort den kleinen Artur aufzusuchen.

Ich kannte seinen Ehrgeiz, an der Knopfbörse der reichste Mann zu sein.

Ich wußte aber auch, daß der Reichtum, dessen er sich rühmte, verdächtig wurde, als ob er zum großen Teil unecht wäre.

Wie jede in sich geschlossene Welt, so hatten auch wir in der unsern eigene Begriffe von moralischen und materiellen Werten. Den Maßstab der Vernunft freilich durfte man bei unseren Wertungen so wenig anlegen, wie man das in andern Welten darf, und wäre ein Friedrich Nietzsche unter uns auferstanden, so hätte er auch mit großem Hohn die Umwertung aller Werte predigen können. Denn alles beruhte nur auf Herkommen und Übereinkommen.

So galten bei uns nur alte Knöpfe als vollwertig, nur solche, die von getragenen Kleidungsstücken abgeschnitten waren. Artur aber stand in dem Verdacht, unter seinen hundertundfünfzig oder hundertundachtzig Knöpfen viele neue zu besitzen, die unmittelbar aus den glänzenden Pappschachteln des väterlichen Kramladens stammten, über welche Erwerbsart sich in unsern Börsentraditionen nichts vorgesehen fand, die darum nicht anerkannt wurde.

Der kleine Artur verteidigte sich bei jeder Gelegenheit aufs lebhafteste gegen den ihm zugeschobenen Verdacht; aber den tatsächlichen Beweis zu führen, fiel ihm schwer. Die kleinen Knopfbörsenmänner hatten feine Nasen. Sie rochen es einem Knopf von weitem an, ob er aus einer altehrwürdigen Kleidertruhe und Rumpelkammer oder aber spornstreichs vom Kaufladen kam.

Da erfreuten sich die meinigen des besten Geruches; sie mußten also Artur doppelt willkommen sein.

Ich traf ihn in der Nähe seines väterlichen Hauses, beim Nachbar Schmied, der gerade ein Pferd beschlug, wobei Artur philosophisch zuschaute. Er wollte nicht viel von mir wissen. Es war so seine Art, die Leute geringschätzig zu behandeln. Erst als er meinen vollen Beutel sah, schenkte er mir seine Aufmerksamkeit.

Ein gescheiter Junge hätte nun für die erheischte Gefälligkeit zunächst eine mäßige Summe geboten und dieselbe erst im Notfall höhergesteigert; ich, in der freudig-bänglichen Hast meines heißen Wunsches, bot mit einemmal meinen ganzen Reichtum.

Ich solle sehen lassen.

Ich öffnete also mit zitternden Fingern meinen Beutel und schüttete einen Teil seines Inhalts in die hohle Hand.

So seien es dreiundsechzig, ich könnte sie ihm vorzählen.

Die Knöpfe gefielen dem Artur. Sie gefielen ihm sehr. Sein kaufmännischer Verstand sagte ihm, daß er ein gutes Geschäft mache. Solche Schätze gegen eine bloße Gefälligkeit.

Ich sah ihm seine Gedanken an, und freudig hielt ich ihm die rechte Hand hin zum Einschlagen. Er hatte auch die seinige schon erhoben. Da schaute er mir ins Gesicht und sah, wie mir die jubelnde Freude aus den Augen blitzte.

Und er ließ seine Hand wieder sinken. Nein, er möge doch nicht.

Dann weidete er sich an meinem Anblick.

»Aber ob ich nicht mit ihm spielen wolle?«

Spielen wollte ich nicht.

Artur warf mir einen mitleidigen Blick zu. Er schien es nicht zu fassen, daß ein verschmähter Kerl, ein armer Schneiderlexel, die Ehre zurückweise, mit Artur Blankenhorn spielen zu dürfen.

Ich ging bereits meiner Wege, ganz zerknirscht.

Er rief mir:

»Komm doch, laß uns spielen, wegen des Buches, du weißt, ich kann mich ja noch anders besinnen.«

Und wir spielten.

Hinter der Schmiede befand sich ein ebener trockener Platz, und ein außer Brauch gesetzter riesiger Schleifstein lehnte an der Wand; mehr bedurften wir nicht, es war, als ob der Stein für uns hingestellt worden sei.

Wir begannen kurze Zeit nach dem Mittagessen. Und als es bereits zu dämmern anfing, spielten wir noch immer. Doch lange konnte es nun nicht mehr dauern. Denn meine Zahlungsmittel gingen stark auf die Neige. Ich sah es kommen, wie er mir den letzten Knopf abgewann.

Ich fühlte mich dabei nicht einmal unglücklich; ich dachte, vielleicht, wenn er alle deine Knöpfe hat, gibt er dir das Buch: so einfältig war ich.

Unterdessen hörten wir einige Male Arturs Namen rufen, und ich machte ihn, da er sich nicht daran kehrte, darauf aufmerksam. Er wollte aber davon nichts wissen.

Wir spielten weiter. Plötzlich stand der alte Blankenhorn mitten unter uns.

»So, da treiben sich die Schlingel herum,« rief er, »mit dem ewigen dummen Gespiel ... und du hast ihn wieder dazu verleitet.«

Die letzten Worte galten mir. Und ehe ich antworten konnte, erwischte ich eine Ohrfeige, daß mir der Schädel brummte.

Eine viel gelindere versetzte Herr Blankenhorn seinem eigenen Sohn, seinem kleinen Artürchen, das er am Arm mit sich fortführte.

Ich blickte ihnen mit dumpfen Sinnen nach, so lange ich sie sehen konnte; dann trottete ich auch von dannen.

Mein Kopf schmerzte mich von der rohen Ohrfeige, und alles deutliche Denken und Empfinden war mir vergangen.

Ich schlenderte über den Bäckensteg und die Bachgasse hinauf.

Bei der hohen Brücke – unfern unseres Hauses – legte ich mich auf die Mauer der Brustwehr und schaute in das schwarze Wasser hinunter. Der Gedanke, mich hinunterzustürzen, kam mir zwar nicht, doch fühlte ich mich tief unglücklich.

Eine Empfindung wurde mir besonders klar: daß ich ein rechter Esel sei, ein Esel, weil ich gemeint hatte, Artur würde mir sein Buch noch geben. Ich wußte jetzt das Gegenteil ganz sicher. Ich wußte es jetzt so gut wie zweimal zwei, daß der Krämersbub mir den Gefallen keineswegs getan haben würde, auch wenn sein Vater nicht dazwischengefahren und der letzte Knopf von meiner Tasche in die seinige gewandert wäre.

Wie eine Erleuchtung war diese Erkenntnis über mich gekommen.

Sie nützte mir nur gar nichts.

Ich griff in meine Tasche nach den letzten Überbleibseln meines so kurz besessenen Reichtums. Nur noch vier Knöpfe zog ich heraus, vier weiße Beinknöpfe mit großen Löchern, womit sie mich in der hereinbrechenden Dunkelheit wie aus hohlen Augen anzublicken schienen, wie Totenschädel.

Ich beugte mich über die Brüstung, worauf ich lag, und langsam, einen nach dem andern, ließ ich die Knöpfe ins Wasser hinunterfallen, und ergötzte mich an den kleinen weißen Blasen, die aufquirlten.

Dann legte ich mich langewegs auf die Mauer zurück und dachte, daß ich nun das Goldene Buch nie, nie bekommen werde.

Und das stimmte. In mein junges Leben aber trat jetzt ein Ereignis ein und setzte mich dergestalt in Aufregung, daß ich darüber sogar das Goldene Buch einstweilen vollständig vergaß.


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