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Sechstes Kapitel

Hinterwinkel stellt sich nicht auf den Kopf, aber der Held fällt aus den Wolken

Am Anfang waren die Hinterwinkler untröstlich über die Bescherung. Sie meinten, da nun die Preußen im Dorfe lägen, seien sie endgültig preußisch geworden. Der Napoleon mußte also seine Hilfe verweigert haben.

Aber bald erschien das Unglück nicht so groß als man befürchtet hatte. Die Einquartierten erwiesen sich als ziemlich liebenswürdige Feinde. Sie waren auch genügsame Gäste. Mit neuen Kartoffeln und frischer Butter konnte man ihnen ein Fest bereiten.

Und es waren nicht einmal Preußen. Es waren Hamburger, Söhne einer freien Stadt, die selber von den Preußen nicht als ihren besten Freunden sprachen, die es jedem sagten, der es hören wollte, daß sie nur gezwungen mit in den Krieg gezogen waren. Auch sollte Württemberg, versicherte der Pfarrer, trotz Einquartierung, nach wie vor und alleweil gut württembergisch bleiben.

So konnte es nicht fehlen, daß der Feind gar bald gut Freund wurde. Man machte dann wohl auf die Melodie der Hornsignale unanständige Reimverse, in denen man seinem schwäbischen Preußenhaß Luft machte; aber seinen Gästen selbst sagte man nur Schmeicheleien.

Und nicht unverdientermaßen. Die fremden Soldaten zeigten ein rührendes Entgegenkommen. Die meisten gingen mit ins Feld und halfen bei der Arbeit, als ob sie im Tagelohn stünden. Da gab es dann ein fortgesetztes gegenseitiges Staunen über die fremde Art und Sprache.

Am höchsten stieg die Begeisterung am Tage Mariä Himmelfahrt, dem Lieblingsfeste der Hinterwinkler. Da erbot sich der Kapellmeister, in der Kirche, beim Hochamt, ich weiß nicht was für eine berühmte Messe zu spielen. Und während von der Orgelbühne herunter eine Musik erklang, wie in den Mauern der Hinterwinkler Kirche noch nie gehört worden war, standen vorn im Chor und um den Hochaltar herum sechs Trommelschläger und die ganze erste Kompanie des Regiments, mit blitzenden Bajonetten auf den Gewehren, mit schwarzen Roßschweifen auf den Pickelhauben. Und beim Segen mit dem Allerheiligsten, beim Tantum ergo sacramentum und Ecce panis angelorum, beim Offertorium und bei der heiligen Wandlung schlugen die Trommeln einen Wirbel, und die Soldaten präsentierten das Gewehr, daß es rasselte. Da war eine große heilige Freude und Seligkeit.

Am Nachmittag aber setzte sich die Freude ins Weltliche fort. Dieselbe Kapelle spielte jetzt in der »Krone« zum Tanz auf. Das hätte zwar der Pfarrer gern verboten, denn es war nicht Sitte, am Himmelfahrtstage zu tanzen. Aber da er, ein Freund von Musik und feierlichem Gepränge, die gottesdienstliche Teilnahme des Regiments angenommen hatte, mußte er schon ein Auge zudrücken und zu dem bösen weltlichen Spiel eine gute geistliche Miene machen.

Eine noch bessere machten die Hinterwinkler Mädchen. Mit den hübschesten unter ihnen tanzten die Offiziere, und sie taten dabei, als ob es auf der Welt keine größere Ehre für sie gäbe.

Eine einzige unter den Töchtern des Dorfs, die schönste von allen, tanzte nicht, weder mit Gemeinen noch mit Offizieren; sie saß daheim bei ihrer Mutter und weinte. Das war die braune Ludwine, die schöne Schwester des Lienhard Reichenbühler.

*

Ein Fest anderer Art fand am darauffolgenden Sonntag statt. Diesmal wollten die Hamburger zeigen, daß sie nicht nur die Religion der Hinterwinkler nicht verachteten, sondern daß sie sogar selbst Religion hätten.

Im Wiesental drüben, nicht weit von der Haselbrücke, wurden die Vorbereitungen getroffen. Ich bewunderte besonders die Baukunst der Soldaten. Aus losgestochenen viereckigen Rasenschollen errichteten sie, die Fugen mit Moos verkleidend, eine mächtige haushohe Kanzel. Eine breite Rasenstaffel führte zu ihr empor.

Dann kam der Sonntag. Und siehe da, unser alter Pfarrer hielt, zur größten Verwunderung seiner Pfarrkinder, das Amt schon früh um sieben Uhr – damit sich auch alles den fremden ketzerischen Gottesdienst ansehen konnte.

Niemand in Hinterwinkel hätte dem Pfarrer Barthelmeyer so etwas zugetraut. Aber Seine Hochwürden waren seit der Anwesenheit der »Preußen« wie umgewandelt. Sonst knorrig und zwirbelfaserig wie Hainbuchenholz, war er auf einmal geschmeidig wie ein schwedischer Handschuh. Derselbe Mann, der gewohnt war, sich nach niemand als nach sich selber zu richten und jedermann lieber zum Trotz als zum Gefallen zu leben, entsprach jetzt, und sogar in kirchlichen Angelegenheiten, den leisesten Wünschen eines fremden »lutherischen« Soldaten.

Ganz in der Nähe der Rasenkanzel, über einer Grenzhecke aufragend, stand ein alter Weichselbaum. Ich war der erste auf dem Baum. Dann kamen noch viele nach, alle glücklich über den vorteilhaften Platz, mit dem kein anderer zu vergleichen war.

Unterdessen marschierten die Bataillone unter Trommeln und Pfeifen von allen Wegrichtungen her in unser Hinterwinkler Tal herein. Viel Volk, altes und junges, folgte ihnen unter großem Jubel. In einem weiten Viereck stellten sich die Truppen um die Kanzel. Hinter ihnen füllte das Volk weithin den grünen Plan. Niemals hatte Hinterwinkel soviel Menschen gesehen.

Da trat aus einem der aufgeschlagenen Zelte eine hohe schwarze Gestalt hervor, ein schwarzer vielfältiger Mantel wallte bis auf den Boden, das Haupt war von einer schwarzen viereckigen Mütze bedeckt, ein großes schwarzes Buch hielt er in den Händen, alles schwarz. Nur auf der Brust unter dem Kinn hingen ihm zwei schneeweiße Läppchen herunter. Und ein bitterernstes Gesicht machte er. Gravitätisch stieg er die weichen Stufen zu seiner Kanzel empor. Ein Kommandoruf, ein Trommelwirbel, und heilige Stille herrschte.

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«, begann der Prediger. Ich machte unwillkürlich das Kreuzzeichen. Er selber vergaß es, wie ich im ersten Augenblick bei mir dachte. Aber langsamer, schöner, andächtiger, unendlich viel feierlicher sprach er die Worte als unser Pfarrer Barthelmeyer. Und noch salbungsvoller sprach er das Vaterunser. Nie hatte ich das Gebet des Herrn in so ergreifender Weise beten hören. Ein heiliger Schauer durchrieselte mich. Das Beten des Pfarrers Barthelmeyer war ein lumpiges Herunterleiern dagegen.

Nur eines kam mir komisch vor: daß der Mann nicht »Vater unser«, sondern »Unser Vater« sagte. Und lebhaft bedauerte ich, daß der, der so schön betete, das »Gegrüßet seist du, Maria« vergaß, das ich gern auch von ihm gehört hätte, weil es mich fast noch schöner deuchte als das Vaterunser.

Nach dem Gebet erscholl die Musik und mit ihr lauter, weithin hallender Gesang. Dann begann die Predigt.

Noch weiß ich den Anfang. Ich werde ihn auch nie vergessen: »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege, sondern soviel der Himmel höher ist denn die Erde ...«

Mehr hörte ich nicht.

Es geschah ein Krachen, es geschah ein Aufschreien in der Luft und auf der Erde, ein Gedränge, ein Tumult ...

Der Hauptast des Weichselbaumes, auf dem ich mit vier anderen meinen Sitz erwählt hatte, war geborsten und war samt seiner fünffachen lebendigen Last über den Köpfen der dichtgedrängten Volksmasse zusammengebrochen. Es dauerte eine Weile, ehe der Prediger von neuem beginnen konnte.

Über diesen Zwischenfall wurde viel gelacht. Und noch heute wird er in Hinterwinkel oft erzählt. Die vielfach verwirrenden und verbitternden Ereignisse jenes Jahres sind heute in Hinterwinkel so gut wie vergessen. Wenn man ihrer noch gedenkt, so geschieht es fast nur noch in Verbindung mit der Geschichte des Weichselbaumes.

Auch das Andenken des Lienhard Reichenbühler ist tot wie er selber; niemand weint mehr um ihn.

Über den gebrochenen Weichselbaum aber lacht man noch immer, man wird vielleicht noch darüber lachen, wenn die Jahreszahl 1866 in den Gehirnen von Hinterwinkel so wenig mehr vorhanden ist wie eine andere der Weltgeschichte.

*

Noch eine Aufregung erlebten die Hinterwinkler in jenen Tagen. Unter den einmarschierenden Truppen, einfacher Infanterie, wurde ein Reiter bemerkt von so auffallender und glänzender Erscheinung, daß er aller Augen auf sich zog. Er ritt auf einem spiegelblanken Rappen, und über seinem schneeweißen, rotbesetzten Waffenrock trug er einen vergoldeten Brustharnisch, der leuchtete und strahlte, daß er die Augen blendete wie die flammende Sonne. Auf dem Haupt aber saß ihm ein blanker Stahlhelm mit wallendem Federbusch. Die Offiziere, die vor den Truppen herritten, sahen armselig aus gegen ihn, der seinen Platz willkürlich wechselte und seinen Rappen die kühnsten Kunststücke ausführen ließ.

Man hielt die blendende Erscheinung für den höchsten General, wenn nicht gar für den König von Preußen. Zum mindesten mußte es ein Prinz sein. Alles blickte nur auf ihn. Die Jugend von Hinterwinkel sah sich an seinem Glanze fast die Augen aus. Beim Auseinandertreten des Regiments auf dem Rathausplatze war jedermann vor allem begierig, was der glänzende Reiter nun machen werde.

Daß er in eine Hinterwinkler Wohnung treten könnte, hielt niemand für denkbar. Ein so vergoldeter Prinz, der wie ein Cherub funkelte und die Sonne auf seiner Brust trug, konnte unmöglich bei gemeinen Sterblichen wohnen. Wahrscheinlich führte das Regiment für ihn ein goldenes Prunkzelt mit.

So dachte ich. Und ich zitterte vor Begierde, wo man es aufschlagen werde.

Einstweilen suchte ich es mir im Geiste auszumalen – was mir sehr wohl gelang. Denn ich hatte einmal eine Beschreibung davon gelesen, nicht von diesem, aber von dem noch reichern der wundersamen Prinzessin Mirzebell, der Tochter des berühmten Mohrenkönigs, in der Geschichte des Kaisers Oktavianus und des frommen Königs Dagobert von Frankenland.

Ich folgte dem goldenen Ritter auf dem Fuße. Er aber ritt, ohne jemand zu fragen, mitten durch Hinterwinkel, hinunter ins »Kleine Dörfle«. Vor dem Haus der Hanne Strohmelker machte er halt. Er sprang ab, er band seinen Rappen an den Fensterladen ... er trat ohne Umstände in die alte, wacklige Lehmhütte.

Die Tür schloß er hinter sich zu.

Keiner wußte, was er davon denken sollte. Aber es dauerte nicht lange, da hörten wir drinnen die bekannten übertriebenen Ausrufe der Hanne: »O du kreuzsterbender Heiland! O du heilige Mutter Gottes Sankt Anna!« Die Ausrufe wurden von einem lauten Freudengeheul unterbrochen.

Der goldene Reiter war Cyprian, der Sohn der Hanna Strohmelker.

Da wollte des Verwunderns kein Ende werden. Doch ließ sich der Cyprian mit andern Leuten nicht ein. Er ritt noch am Abend wieder davon, ohne in Hinterwinkel über seinen Stand und Rang klare Begriffe zurückzulassen. Und darüber ärgerten sich die Hinterwinkler.


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