Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Teil
Allerlei Winkel und Winkelzüge

 

Erstes Kapitel

Wo Alexander anfängt, konsequent in der dritten Person von sich zu sprechen

Das Amts-, Schul- und Gefängnisgebäude der alten freien Reichsstadt Hopfingen soll als ehemaliges Benediktiner- und nachheriges Zisterzienserkloster älter sein als die ganze Stadt Hopfingen. Seine Krypten, sonst Keller geheißen, sind im romanischen, die Mittelpartien im gotischen, ein linker Flügel im Jesuitenstil und ein oberer Aufsatz im königlichen Kasernenstil der nachnapoleonischen Zeit erbaut.

Die weitläufige Gebäudemasse liegt unmittelbar über den moosigen Ringmauern der alten Reichsstadt, im Schatten hundertjähriger Ulmen und Linden. Ein mächtiger Efeuwuchs um Gesimse, Nischen und Erker erhöht noch die geheimnisreiche Romantik dieser labyrinthischen Architektur, im Innern voll schauerlicher Verließe, halsbrecherischer Wendeltreppen und einbrechender Böden, nebst der dazugehörigen Menge von Moder, Staub und Spinnweben.

Eine solche Residenz mußte den überspanntesten Sehnsuchtstraum nach Fremdem und Aberteuerlichem vollauf befriedigen.

Bei dem als Unterlehrer hier residierenden und fungierenden Herrn Alexander Schmälzle war dies jedoch gar nicht mehr nötig. Dessen Streben ging längst nicht mehr auf Abenteuer.

Als einfältiger Schneiderlehrling mochte Schmälzle einmal solch närrische Träume im Busen genährt haben; seit Alexander aber zu den Gelehrten zählte, war er vernünftiger geworden und konnte in einem Schneidergesellen auf der Wanderschaft weder etwas Schönes, noch etwas Großes, noch etwas Würdiges, noch etwas Menschheitförderndes sehen. Er machte sich deshalb von der Gelehrsamkeit und wissenschaftlichen Kapazität eines gewissen weiland königlich-preußischen Leutnants namens Franz Freiherr von Gaudy keine hohe Meinung, weil dieser nebst anderen Büchern, deren Wert Alexander Schmälzle dahingestellt sein ließ, auch ein ganzes Buch »Aus dem Tagebuch eines wandernden Schneidergesellen« geschrieben hat. Ein Gelehrter von der Bedeutung des Unterlehrers Alexander Schmälzle würde sich niemals zu einer solchen Arbeit heruntergelassen haben.

Nicht ganz und gar und nicht an und für sich verdammte der Unterlehrer Alexander Schmälzle zu Hopfingen die Sehnsucht seiner früheren Jugend. Jener ungestüme Drang seines jugendlichen Herzens schien ihm nur insofern verwerflich, als er auf die Dinge selbst, auf ihre ungeschlachte brutale Wirklichkeit hinauszielte; er schätzte diese Sehnsucht hoch, wenn sie, geläutert, auf Idee und Begriff der Dinge ging, mit anderen Worten auf das Wissen von den Dingen. Und darin, in der Wissenschaft, hatte es Alexander Schmälzle bereits weit gebracht.

Hopfingen ist im Besitz einer kleinen Stadtbibliothek, und allwöchentlich schleppt sich Alexander eine Tracht alter Schweinslederbände auf seine Zelle. Und alle liest er durch, auch solche, die ihm nicht zusagen, diese mit besonderer Ausdauer und Aufmerksamkeit.

Als Gelehrter glaubt er sich dazu verpflichtet. Ausgehend von der Überzeugung, daß der Mensch zur Arbeit geschaffen und also auf der Welt sei, um sich zu plagen, hält er nur jene Art Beschäftigung für vollwertig und unbedingt verdienstlich, wobei er zuerst eine gute Portion Widerwillen zu überwinden hat. Jene aber, wozu er Trieb und Lust in sich spürt, die innerlich glücklich macht, erscheint ihm verdächtig und sündhaftem Spiel nahe verwandt. Ihr widmet er deshalb nur wenig Zeit und die wenige nur mit bösem Gewissen.

Mit dem Gefühl höchsten Mißbehagens gedenkt er der Zeiten, wo er nur zu tun pflegte, was ihm Vergnügen machte, was ihm leicht vonstatten ging; wo er sich und anderen einredete, das Confiteor nicht in sein Gedächtnis bringen zu können, weil er es nicht nach der ersten Viertelstunde schon auswendig wußte. Heute würde er die hebräische Bibel auswendig lernen, wenn ihn jemand überzeugte, daß dies seine Pflicht sei.

Daraus erklärt sich die große Vernachlässigung der Musik. Zu ihr drängt es ihn. Und diesem Drang mißtraut er. Indem er ihm recht oft widersteht, ist er überzeugt, seinem Pflichtgefühl zu gehorchen und die Macht des Guten zu kräftigen. Dennoch weiht er der heimlichen Geliebten, wenn auch klopfenden Herzens, noch manche schöne Stunde auf der Orgel der St.-Georgen-Kirche, auf dem Klavier seines »Prinzipals«, des Oberlehrers Niedermayer. Diese Zeit rechnet er sich aber als Erholung an, nicht als Arbeit, und macht sich täglich Vorwürfe, soviel Zeit zum bloßen Vergnügen zu verwenden.

Alexander hatte drei Kollegen und Mitunterlehrer zu Zimmernachbarn, schon reifere Herren, Mitglieder aller städtischen gesellschaftlichen Vereine, zum Teil deren Präsidenten und überall das große Wort führend, drei moderne Unterlehrer, wie sie im Buche stehen oder wie sie vielleicht noch nicht im Buche stehen: der wuselige elegante Stäuble mit dicken roten Backen und schwarzen Krauselhaaren, der sieben Schuh hohe, schwerfällige, phlegmatische Blatz, wegen seines tiefen Basses unentbehrlich für Hopfingen, und endlich Pius Knopp, den ein Bauer aus Hinterwinkel, nach seiner Wohlbeleibtheit, seinem wohlgepflegten schwarzen Vollbart und der schweren goldenen Uhrkette über der modernfarbigen Weste, eher für einen Bankdirektor als für einen Unterlehrer gehalten hätte.

Diese Herren wollten sich der menschenfreundlichen Aufgabe unterziehen, den Hinterwinkler der Kultur zuzuführen. Sie gedachten ihn nach ihrem Bilde zu modeln, ihr Geschöpf aus ihm zu machen und ihn zu ewiger Dankbarkeit zu verpflichten. Viel Talent trauten sie dem Schmälzle nicht zu, um so mehr vertrauten sie auf ihre Methode und zweifelten keinen Augenblick, aus dem bleichgesichtigen Pedanten mit der Zeit einen Menschen zu bilden, der zwar ihnen nie gleichkäme, der aber ihrem erzieherischen Einfluß doch vielleicht einige Ehre machen würde. Aber so oft sie kamen, um den Hinterwinkler in ihre Gesellschaften abzuholen, machte Alexander ein verlegenes Gesicht und suchte nach Ausreden. In die Enge getrieben, meinte er etwas kleinlaut aber innerlich entschlossen: »Ich bin eben einmal lieber zu Hause; ich kenne die Leute eurer Gesellschaft nicht.«

»Gerade darum,« fiel ihm Stäuble ins Wort, »du sollst sie kennenlernen.«

»Aber ich langweile mich bei ihnen«, wagte Schmälzle schüchtern einzuwenden.

»Du bist ein Hauptkerl«, erklärte der lange Blatz, langsam und getragen. »Statt Alexander solltest du Diogenes heißen. Du bist ein Philosoph. Nein, du bist schon über alle Philosophen hinaus. Ein solcher soll einmal gesagt haben, daß fast alle Menschen langweilig werden, sobald man sie näher kennenlernt; dich langweilen sie schon und du kennst sie noch gar nicht. Fahre so fort, mein Sohn.«

Der dicke Pius sagte gar nichts. Er drängte nur durch Zeichen zum Aufbruch, und draußen bemerkte er: »Lassen wir doch den Schmälzle in Ruhe, der ist und bleibt ein ›Nachtwächter‹«.

»Du hast recht,« rief der lebhafte Stäuble, »es gibt Menschen, die als ›Nachtwächter‹ geboren werden, und der Schmälzle ist einer davon.«

Dies sollte keine Anspielung auf das Nachtwächteramt des Meister Jakob sein, die Herren verstanden unter »Nachtwächter«, was die Studenten unter Philister verstehen.

Von nun an war der Alexander für sie ein »Nachtwächter«. Sie machten wenig Versuche mehr zu seiner Erziehung und ließen ihn bald ganz seinem Schicksal. Sie verachteten ihn.

Hopfingen liegt fünf volle Stunden von Hinterwinkel entfernt. Da konnte Alexander nicht mehr, wie von Eschelbrunn aus, jeden Sonntag seine Eltern besuchen und vor den Hinterwinklern seine neue Würde zur Schau tragen. Schon ein halbes Jahr war er nicht mehr dahin zurückgekommen, und so lebhaft er sich einst aus dem Nest hinweggesehnt hatte, so sehr freute er sich nun auf die nächsten großen Sommerferien, die er im heimatlichen Dorfe recht traulich zubringen wollte. Aus einem mütterlichen Briefe wußte Alexander, daß Olga Rotermund für dieselbe Zeit nach Hinterwinkel kommen wolle und er war sehr begierig.

Wohl würde auch der übermütige, höhnische Finzer während der Ferien im Dorfe sein. Aber Alexander Schmälzle sagte sich, daß er den Finzer nicht mehr fürchte. Er war sich bewußt, einen weiten Vorsprung über den Blässenvogtsbuben gewonnen zu haben, der auf dem Gymnasium in vier Jahren gerade zwei Klassen absolviert und deren immer noch drei zu überstehen hatte. Alexander war aber längst Meister ...

Während die ersehnten Ferientage von fern naherückten, überlegte der achtzehnjährige Meister, ob er die Reise im alten Stil, per pedes apostulorum – er liebte lateinische Wendungen – oder ob er sie in zeitgemäßer Art mit der eben erbauten Eisenbahn ausführen wolle. Wenn er das letztere wählte, konnte er zwei Stationen weit bis Gansweiler das ihm durchaus neue Vergnügen der Dampfwagenbeförderung genießen und hatte von dort bis Hinterwinkel nur eine halbe Meile weiterzugehen als von Hopfingen nach Hinterwinkel. Auch bekam seine Reise so einen großartigeren Anstrich. Er fühlte sich deshalb diesem Modus, wie er sich als Gelehrter ausdrückte, sehr geneigt. Als er jedoch hörte, daß die Fahrt bis Gansweiler siebenundzwanzig Kreuzer koste, wurde er stutzig. Siebenundzwanzig Kreuzer, das war eine Summe. Wie ein gewissenloser Verschwender aber wollte sich Meister Alexander nicht betragen. Er entschied sich zur Fußwanderung.

Vom Georgenturm schlug die Glocke die vierte Morgenstunde, als Alexander reisefertig unter seiner Zimmertür stand. Das gelblederne Ränzchen mit grünem Band um die Schulter, die ebenfalls grüne Schildkappe auf dem Kopf – er hegte seit einiger Zeit eine merkwürdige Vorliebe für diese Farbe, ohne sich den Grund dafür so recht klar zu machen, was denn an seiner Statt der geneigte Leser besorgen mag – also: die grüne Schildkappe auf dem Kopf, in der Linken den Stab, in der Rechten die Türklinke, schaute er wehmutsvoll noch einmal zurück in sein gotisch-enges, ehemals mönchisches Zellenzimmer, dieses uralt geweihte Heiligtum der Wissenschaft, das er nun auf vier Wochen nicht mehr sehen sollte. Er besann sich, ob er auch nichts vergessen habe. Dann schloß er langsam die Tür hinter sich zu.

Die Entengasse hinunter lag noch alles schlummerstill; nur am Stoffelbrunnen, wo St. Christoph das Jesuskind und mit ihm die ganze Welt auf seinen breiten Schultern trug, füllte sich ein ungekämmter, schlaftrunkener Lehrbub seinen Kübel, und hie und da krähte ein Hahn hinter seinem Verschlag.

Der junge Wanderer erschrak fast vor dem Laut seiner eigenen Tritte.

Draußen vor dem Tore, rings in den blühenden Gärten, schüttelten gerade die Buchfinken den Nachttau aus den Federn, und die blauen und weißen Wiesenblumen hoben ihre Augen auf nach dem ersten Morgenstrahl. Von fern her schlug ein Hund an, Sensendengelton erklang, und Alexander empfand etwas von dem »süßen Grauen und geheimen Weh« seines Landsmannes, des Schäfers in der »Sonntagsfrühe«.

Als dann gar die erste Lerche trillernd aufstieg, in das goldene Licht, ging ein Schauer von Lust und Glück durch Alexanders junge Seele. Mit solcher Gewalt fiel es ihn an, daß er wie trunken hintaumelte durch all den Lichter- und Farbenglanz, durch all die singenden rauschenden Töne, durch all die herzstärkenden Wohlgerüche von Millionen Blüten.

Und all die Lichter und all den Farbenglanz und alle die herzstärkenden Wohlgerüche und Millionen von Blüten, er trank sie nicht nur in sich mit dem durstenden Auge und dem geheimnisvollen Sinn der Geruchsnerven, auch durch das Ohr drangen sie ihm in die Seele, er hörte sie als Musik, so deutlich, so voller Zauber, wie nie in seinem Leben. Die ganze Welt, die Sonne und die Erde und die Rosenwölkchen über den saatgrünen Hügeln, alles machte ihm Musik: er hörte die Engel im Himmel geigen.

Die Überzeugung, daß die Welt nur in der Form von Ideen und nur unter geistiger Arbeit und mit Mühe und Anstrengung vom Menschen ergriffen werden könne, war Alexander für den Augenblick ganz abhanden gekommen: er stand nahe daran, sich mit seinem seitherigen Tun und Denken für einen großen Esel zu erklären.

Damit aber fiel Alexander zurück in die längst überwundene Lebensanschauung seiner Schneiderlehrlingszeit. Und plötzlich wurde er sich dessen bewußt. Da schämte er sich.

»Dieses gemeine Fußwandern gibt eben niedrige Gedanken«, murmelte er.

Auf dem Kahlenbuckel machte Alexander eine kleine Rast. Das mächtige Gefühl beim Anblick Hinterwinkels verursachte ihm ein solches Herzklopfen, daß er sich erst sammeln mußte, bevor er ins Dorf hinunterwanderte. Einige hundert Schritte vom Wege setzte er sich zwischen Haselstauden und Brombeergerank auf einen Steinhaufen.

Als Hirtenbub war er wohl tausendmal hier gesessen, seine Geißen und Gänse um ihn herum. In kindlicher Unwissenheit hatte er hier den grünen Eidechsen, den rot- und blauflügeligen Zikaden, den goldbepanzerten Laufkäfern in ihrem Tun und Treiben aufgelauert, hatte auf ihr Schwirren und Zirpen, ihr Pfeifen und Piepsen gelauscht und Geheimnisse von ihnen zu erfahren gehofft. Heute, als Gelehrter, errötete er über sein kindisches Treiben und Denken von damals.

Alexander kam dann auf andere Gedanken. Er langte nach seinem Ränzchen, schnürte die obenauf befestigte Geige los und musterte die Gegenstände im Innern seiner Wandertasche. Er besichtigte zuerst ein Handgroßes prismatisches Päckchen. Es enthielt nach der Inschrift des gelben Papierumschlags ein halbes Pfund feinen »Lotzbeck«, einen bekannten Schnupftabak, für den Vater bestimmt. Neben dem gelben Päckchen lag eine spitzige graue Tüte, das war ein halbes Pfund gebrannter Kaffee für die Mutter Regine.

Und noch ein Drittes befühlten Alexanders Hände, eine Pappschachtel kleinsten Umfanges. Der Jüngling nahm sie wie neugierig heraus und öffnete sie. Eine Vorstecknadel aus weißleuchtender Perlmutter in Form einer Schwalbe lag darin, sorgfältig in weiße Baumwolle gebettet.

Alexander sah den glänzenden Gegenstand lange träumerisch an.

*

»Warst du auch schon bei den Rotermunds drüben?« fragte am dritten Tage nach seiner Ankunft die Mutter ihren gelehrten Sohn Alexander. Dieser verneinte.

»Jesses, Lexel,« rief die Mutter Regine, »das ist nicht schön, die Olga hat seit ihrer Rückkunft aus der Stadt jeden Tag nach dir gefragt; wenn du nicht hinübergehst, werden sie sagen, du seist stolz geworden.«

»Ich will gegen Abend einen Sprung hinübertun«, erklärte Alexander, indem er zu dem kleinen Fensterchen zwischen Meerzwiebeln und Geranien hinaussah und auf den Scheiben trommelte.

»Hast du die Olga noch gar nicht gesehen?«

»Nein – ja – doch, gestern früh.«

»Nein, ja – ja, nein, man meint, du wärst ein großer Herr! Wie du zerstreut redst«, rief die Mutter ärgerlich. »Aber gelt, die Olga ist schön und vornehm worden? Du mußt sie erst am Sonntag sehen, wenn sie zur Kirche geht. Und was sie alles gelernt hat, und sie ist gar nicht stolz dabei, sondern redet mit einem wie vorher, und wo sie mir was helfen kann, ist sie bei der Hand, keine Arbeit ist ihr zu gering.«

Alexander war wiederholt nahe daran gestanden, Rotermunds einen Besuch zu machen, aber er hatte immer Zeit und Gelegenheit unpassend gefunden.

Einmal, als er gerade zur Haustür hervorwollte, trat auch drüben bei Rotermunds jemand auf die Schwelle, bei dessen Anblick Alexander wie erschrocken zurückfuhr. Und das freundliche Lächeln, womit Olga ihrem Besuch zum Abschied die Hand reichte, erhöhte noch die Verstimmung des hinter der Tür sich bergenden Alexander.

Auch die flotte Art, wie der Finzer eine rotflammende, goldbebordete Mütze schwenkte, und die geschickte Wendung, womit er sich beim Weggehen noch einmal dreiviertel gegen Olga umkehrte, mit der Hand leicht winkend, verfinsterte merklich Alexanders Miene.

Alexander hatte den Finzer bereits zweimal gesprochen, ohne ihm zu imponieren, wie er heimlich gehofft hatte. Weder seine Würde noch seine Gelehrsamkeit machten den geringsten Eindruck auf den Sohn des Blässenbauern. Im Gegenteil, der Finzer behandelte den jungen Schulmeister ganz in der alten verächtlichen Art, und mehr brauchte es nicht, um Alexander gänzlich einzuschüchtern.

Der Finzer stellte etwas vor. In seinem Gesicht lag noch immer der Ausdruck rauher Bäuerlichkeit; aber das wohlgescheitelte und reichpomadisierte Haar und ein früh gewachsener Backenbart verliehen ihm den Ausdruck physischen Wohllebens und Wohlbehagens. Die ganze Erscheinung strotzte von Kraft und Gesundheit und schien zu sagen: »Wenn wir auch sonst nichts gelernt haben, so haben wir doch zu leben gelernt.« Und gerade das konnte Alexander am wenigsten von sich behaupten.

Und der schlanke bleichwangige Alexander Schmälzle, seiner Mutter sorgfältig ausweichend, kehrte ins Haus zurück und verschloß sich oben in die Bodenkammer. Er stand am Laden und schaute über Gärten und Wiesen und die Pappeln weg, zum Kahlenbuckel hinauf. Lange stand er so, und als dann der Abend dunkelte und die ersten Sterne vom Himmel her in die Sommernacht hineinglitzerten, glänzte etwas auch in Alexanders dunkelblauem Auge.

Am anderen Morgen aber ärgerte er sich, den vorgefaßten Besuch gestern nicht ausgeführt zu haben. Um so schneller wollte er's heute tun, schon am Vormittag, gleich nach dem Frühstück.

»Guten Morgen, Herr Magister«, rief es ihm laut und lachend entgegen, als er bei Rotermunds die Tür öffnete. Das war wieder der Finzer.

Diesmal konnte Alexander nicht zurück. Aber die unvermutete Begrüßung trug nicht dazu bei, daß er sich besonders gewandt und unbefangen einführt«. Auch begann der Finzer sofort, sich an Alexander zu reiben und seine Überlegenheit, wie er sie besaß, ins volle Licht zu rücken. Olga betrug sich offen und heiter, aber nicht ohne eine gewisse Zurückhaltung – als ob sie sich in dem Bestreben nach gastfreundlicher Neutralität doch einen Zwang antäte.

Unterdessen begann Tante Therese den Tisch zu decken. Da hielt es Alexander für unbescheiden, länger zu bleiben. Warum er denn solche Eile habe, fragte Olga, und in Alexanders Ohr klangen ihre Worte trocken. Ob es ihn denn schon wieder zu seinen Büchern treibe? Der Zusatz klang wie Spott. »Er wird zu Schneiders Regine auf die Geißweide gehen«, warf der Finzer ein, »um nachzusehen, ob seine früheren Schüler ihr Latein noch nicht ganz vergessen haben und der Bock als Repetitor seine Schuldigkeit getan hat.«

Als Alexander dem elterlichen Hause zueilte, hörte er hinter sich lang vergessene Worte, die dennoch nicht tot in ihm gewesen waren. Sie wirkten heute wie glühende Haken, die grausam eine alte Wunde aufrissen. Wenn Alexander zurückgeschaut hätte, würde er den Finzer erblickt haben, der bei Rotermunds breit zum Fenster herauslag und lachend den Reim deklamierte:

Der Lexel und der Xand'r
Gehn ganz allein miteinand'r,
Der Xander und der Lexel
Essen's ganz' Jahr Kraut und Häcksel.

Die Reime stammten von der Olga; sie hatte sie als Kind gemacht, als sie einmal, wie es vorkam, mit dem Alexander auf dem Trutzfuß stand. Hatte die ehemalige Freundin die Spottverse seinem Feinde zugeflüstert? Dem armen Alexander war wirr zumute.

In das Rotermundsche Haus kam der junge städtische Unterlehrer trotzdem fast täglich. Er kam wegen Nepomuk, der ihm die alte Freundlichkeit bewahrt hatte.

Gegen die Olga aber wußte er sich gar nicht zu benehmen. In ihrer Gegenwart verstummte er und verfiel einer ängstlichen Schüchternheit.

Und sie fand sein Betragen unbegreiflich; sie klagte der Mutter Regine, dem Alexander müsse der Schulmeister in den Kopf gestiegen sein, der wisse gar nicht mehr, was er mit den Leuten reden solle.

Dann waren Alexanders Ferien zu Ende, und er saß wieder droben auf dem Kahlenbuckel, auf dem nämlichen Steinhaufen, zwischen den nämlichen Haselstauden und Brombeerranken wie vor vier Wochen.

Er hielt in seinen Händen einen glänzenden weißen Gegenstand aus Perlmutter, den er aber keines Blickes würdigte; seine Augen schweiften in die Ferne in träumerischer Schwermut. In seine Finger aber kam plötzlich eine krampfhafte Bewegung, und knickknack war das glitzerige Ding in Scherben zerbrochen, die Alexander, als ob sie ihn gebissen hätten, weit von sich schleuderte. Darauf erhob er sich, warf sein Ränzchen über und schritt über Stock und Stein davon.


 << zurück weiter >>