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Zweites Kapitel

Vater Jakob und sein Ring

Wenn einer seine eigene Geschichte erzählt, braucht er nicht erst zu sagen, wer er ist, die Geschichte wird das schon ausweisen. Aber von seinen Eltern sollte er wohl etwas zuvor sagen.

Nun, mein Vater war der Schneidermeister Jakob Schmälzle. Er arbeitete selten zu Hause auf Bestellung, für solche Arbeit gab es in seinem Revier nur wenig Kunden. Gewöhnlich war der Meister bei den Bauern herum verdungen, in kunstgewerblichem Tagelohn, mit Verköstigung, wie es alte Sitte und Herkommen mit sich brachten. Es fand sich deshalb in Hinterwinkel und den umliegenden Ortschaften, soweit sie zu meines Vaters Schneidertum gehörten, kaum eine bekanntere Persönlichkeit als die seinige. Und außer in Hinterwinkel war mein Vater überall sehr beliebt. Viele Bäuerinnen kochten das ganze Jahr keine so fetten Bissen, als wenn der Schneiderjakob auf der Tagfahrt bei ihnen eintrat und Hosen und Hemden und Westen und Wamse aus ihrem selbstgewobenen Zeug für alt und jung mit vieler Kunst zusammenschneiderte.

Seit ich laufen konnte, durfte ich den Vater auf diesen Fahrten begleiten. Und ich hatte bald die sämtlichen Bauernhäuser von einem halben Dutzend Dörfer in zwei Kategorien eingeteilt: in solche, wo man Butterbrot und Käse und freundliche Gesichter und liebe Worte dazu bekam, und solche, wo es nichts gab als trockenes Brot mit finstern Gesichtern und mürrischen Reden. Da habe ich oft darüber nachgedacht, warum denn nur der liebe Gott, der doch, wie schon sein Name sagt, lieb und gut ist, so unterschiedliche Menschen erschaffen mochte. Diese Frage war das erste philosophische Problem, auf das ich in meinem Leben stieß, und ich habe es bis heute nicht gelöst.

Im allgemeinen sprach mein Vater wenig bei seiner Arbeit. Dabei schienen mir seine großen schwermütigen Augen selten bei dem zu sein, was die Hände hantierten und die Finger fingerten, sondern weit hinaus zu blicken in eine andere Welt. Bei den Wintertagfahrten, wenn die Bauern nur so zum Zeitvertreib in der Stube herumpöstelten, hätten sie den weitgereisten Schneider gern über fremde Länder und Städte erzählen hören. Doch sie brachten ihn nicht immer dazu. Er wurde von ihrem Drängen meistens ganz melancholisch und traurig. Nur wenn sein Blick unversehens auf den goldenen Reif an seinem Finger fiel, schoß oft plötzlich ein heller Strahl aus den großen Augen, als ob das Gold des Ringes in zauberhafter Weise einen geheimnisvollen Widerschein darin erweckte.

Einmal, als ich schon in die Schule ging, fragte ich schüchtern die Mutter, was denn der Vater denke, wenn er so lange stumm bleibt und dabei traurig vor sich hinsieht.

»Das verstehst du nicht, Kind,« antwortete mir die Mutter, »dein Vater ist deshalb so still und melancholisch, weil er über ein Rätsel oder Geheimnis nachgrübelt; alle Menschen, die das tun müssen, sind schweigsam und sehen traurig aus.«

Das Rätsel, das meinen Vater beschäftigte, war seine Herkunft. Sie kam ihm nie aus den Gedanken. Und er hatte dabei, so bescheiden er aussah, einen wunderlichen Stolz in sich großgezogen. Er hielt sich für besser als alle Leute von Hinterwinkel. Je mehr ihn die Hinterwinkler seiner dunklen Herkunft wegen für geringer ansahen als den Schlechtesten unter ihnen, desto höher dachte der Schneiderjakob von sich selber. Dieser gegen die Außenwelt sorgfältig verheimlichte Stolz machte ihn glücklich und unglücklich zugleich: Glücklich in dem Gedanken, vielleicht, wie es aus alten Zeiten berichtet wird, ein verkannter Prinz oder Königssohn zu sein, und unglücklich, wenn er sich vorstellte, daß er, trotz seines Prinzentums, wohl sein ganzes Leben lang als elender Schneider und verachteter armer Teufel in Hinterwinkel leben müsse.

So erklärte mir's meine Mutter.

»Du mußt deinen Vater nur betrachten,« sagte sie, »mit welchen Augen er den Ring an seinem Finger ansieht. Von diesem Kleinodium glaubt er, daß es ihn vielleicht eines Tages entzaubern und der Welt seine Prinzenherrlichkeit kundtun werde. Aber ein Sprichwort sagt, Träume sind Schäume, und das wird auch bei deinem Vater gelten. Es ist ein unheilvolles Ding, wenn einer nicht auf dem gewöhnlichen Wege in diese gewöhnliche Welt gekommen ist. Die Welt verzeiht dies niemals. Und dein Vater bildet sich noch wunder was darauf ein.«

Die Worte meiner Mutter waren halb ernst, halb scherzhaft gemeint und nicht frei von einem Anfluge gutmütigen Spottes. Ich aber nahm diese Reden sehr ernsthaft auf und verstand sie wörtlich. Sie machten einen tiefen Eindruck auf meinen erregbaren Geist. Besonders das Wort Königssohn erweckte in mir ein geheimnisvolles Ahnen, das lang in meiner Phantasie fortkeimte.

Denn ich war das Gegenteil von altklug und im Erfassen der wirklichen und alltäglichen Lebensverhältnisse stand ich gegen andere Kinder weit zurück. Doch auch später, als ich über den Königssohn lächelte, gab ich meinem Vater innerlich recht, daß er sich etwas darauf einbildete, kein richtiger Hinterwinkler zu sein und nicht auf dem gewöhnlichen Wege, sondern auf eine außerordentliche und geheimnisvolle Art in diese Welt gekommen zu sein, oder wie ich mir sonst die Sache dachte.

Hie und da geriet mein Vater ins Erzählen, dann fand er auch nicht mehr so leicht ein Ende, und von so fremden und großen Dingen scholl es da an mein Ohr, daß ich mich mit heimlichem Grauen fragte, ob ich gar selber einmal das Glück erleben möchte, solche Wunder zu schauen. Das konnte ich aber nicht glauben und schaute mit religiöser Ehrfurcht zu meinem leiblich so kleinen und geistig so großen Vater hin, der unter den Bauern saß wie ein Apoll unter den thessalischen Rinderhirten; – obwohl Jakob Schmälzle äußerlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit jenem schönen Heidengott aufwies.

Wenn wir dann durch Nacht und Nebel nach Hause mußten, manchmal mehrere Stunden weit, da war mir's fast unheimlich zumute; es wollte mir scheinen, als ob das eigentümliche kurze Mäntelchen meines Vaters sich zu einem Zaubermantel aufbauschte, daß ich zitterte und jeden Augenblick, ich weiß nicht, fürchtete oder hoffte, plötzlich vom Erdboden hinweggehoben und nach den fremden Ländern getragen zu werden, von deren Wundern mein Vater berichtet hatte. Ich hätte mich gar nicht darüber gewundert, denn ich stand ohnedies nicht recht fest auf dem Boden der Wirklichkeit.

Es sollte aber die Gelegenheit kommen, wo ich auf diesem Boden tüchtig aufgestaucht würde.

Jakob Schmälzle betrachtete sich nicht als einen Hinterwinkler, denn nicht nur war er sieben Jahre lang als Schneidergeselle in der Fremde herumgezogen und hatte »vieler Völker Städte« gesehen; auch die Umstände, unter denen er überhaupt nach Hinterwinkel verschlagen worden, waren außergewöhnliche und geheimnisvolle. Und für Vater Jakob verstand es sich nicht von selbst, wie für die anderen Hinterwinkler, daß da, wo er in die Welt hineinfiel, just Hinterwinkel lag.

In diesem Hinterwinkel war aber einmal vor Jahren an einem Novemberabend und spät in der Nacht eine fremde Frauensperson angekommen und hatte im ersten Wirtshaus an der Straße, in den »drei Raben«, ein elendes Nachtlager gefunden. Gegen den andern Morgen hörten die Leute des Hauses in dem Verschlag der Fremden ein schmerzliches Wimmern und Stöhnen, und als sie zu ihr hineindrangen, fanden sie sie nicht allein, sondern mit einem neugeborenen Kind in den Armen, das laut schrie, indes die Mutter ganz stumm dalag auf ihrer Streu, auch nie wieder den Mund öffnete, sondern still und stumm hinüberschlummerte in den ewigen Schlaf. Außer einigem Geld, ihren sehr mitgenommenen Kleidern und einem einfachen goldenen Ring hatte die Verstorbene nichts von Wert hinterlassen, wenn man nicht annehmen will, daß ihr Knabe einen solchen beanspruchen konnte. Es erhob aber, trotz amtlicher Ausschreibungen, niemand Anspruch auf ihn, und so wurde er nebst den genannten Gegenständen nach langer Beratung und Überlegung im Gemeinderat nicht etwa an den Meistbietenden, sondern an den Wenigstfordernden versteigert und kam gegen eine jährliche Vergütung von elf Gulden und fünfzig Kreuzern aus dem Gemeindesäckel an den alten Schafmichel, den Nachtwächter und Hirten von Hinterwinkel.

Das verlassene Waisenkind erhielt vom Pfarrer in der Taufe den Namen Jakobus und vom Schafhirten außer Nahrung und Kleidung, wenn auch noch so notdürftige, dessen eigenen herrlichen Zunamen Schmälzle. Außerdem erhielt er von ihm später die schöne Regine, mit der der kleine Jakob einstweilen aufwuchs. Ja, sie war es, die den zierlichen und modisch perfekten Schneidergesellen aus den Großstädten der Welt in das Bauerndorf von Hinterwinkel zurückzog, wohin er doch, nach seiner eigenen Meinung, gar nicht gehörte. Sein Herz hatte sich stärker erwiesen als sein Verstand. Und der Sohn will ihm deswegen nicht grollen, obwohl er dadurch ebenfalls ein Hinterwinkler geworden ist, dem es dann später viel Mühe und Not gekostet, noch nachträglich etwas anderes zu werden.

Der alte Schafmichel hatte das Haus, wo wir wohnten, nicht eigentümlich besessen, sondern nur zur Miete darin gewohnt. Mein Vater aber erwarb es durch Kauf bei seiner Verheiratung und bezahlte es mit dem Sparpfennig seiner Wanderjahre. Er wurde damit Grundeigentümer, und dieser Erwerb bildete das einzige Werk seines Lebens, das den Bauern von Hinterwinkel nicht verächtlich erschienen ist.

Meine Jugend aber gestaltete sich dadurch um einen Grad weniger proletarisch, meine Armut erhielt damit sozusagen eine gewisse Würdigkeit.

Das Haus war nur ein Häuschen, der unscheinbaren Person meines Vaters angemessen, aber dafür erfreute es sich einer außerordentlich günstigen Lage.

Die Landschaft von Hinterwinkel ist ein wellenförmiges Hügelland der Muschelkalkformation, eine abgelegene, weltferne Gegend, wo in weitem Umkreis alteingesessene fürstliche und gräfliche Familien, wie die von Hohenlohe, von Löwenstein, von Berlichingen, von Zeppelin, von Salm-Gottmarsdorf und andere ausgedehnte Ländereien besitzen, zum größten Teil Wald und Wildgehege, zwischen denen die paar Bauerndörfer wie in hinterwäldlerischer Einsamkeit liegen.

Diese Landschaft hat im ganzen nichts Großes an sich, nichts Romantisches im herkömmlichen Sinne des Wortes. Aber die engen grünen Tälchen, an ihren hohen Rändern meist von lichtem Buchen- und Eichengehölz eingerahmt und von klaren Quellbächen durchflossen, mit gerade hinreichend Wasser, um sich zwischen Erlen und Weiden und den hohen Wäldern von Bachbunge und Katzenminze nicht ganz zu verlieren, sondern sogar von Zeit zu Zeit ein altes morsch gewordenes Mühlenrad in langsam gemächlichem Lauf sachte umzutreiben: diese Tälchen (worin diese Bäche fließen) sind mit ihren vielfachen Krümmungen und verlorenen Wiesengründen von einer eigenen bescheidenen Schönheit mit sehr charakteristischer lyrischer Stimmung – wie gewisse schwäbische Volkslieder, die aus dieser Gegend stammen mögen.

In einem solchen Tälchen liegt Hinterwinkel. Sein Bach heißt der Haselbach und fließt mitten durch das Dorf. Auch er treibt, und zwar gerade vor seinem Eintritt in Hinterwinkel, eine altmodische Getreidemühle, die Heckenmühle genannt, weil seit alten Zeiten eine hohe Dornhecke um sie her wuchs und sie in eine blühende Wildnis einschloß.

Das Mahlwerk ging wohl seit mehreren Jahrhunderten, es hatte aber, was auch bei einem so trägen und langsamen Gehen doch ein Widerspruch ist, bis zu meiner Zeit nicht den geringsten Fortschritt gemacht, seine Einrichtung war noch so einfach, als sie von Anfang an gewesen sein mochte, und das Rad so mürb und altersschwach und so von triefendem Moos überkleidet, daß jedes andere Wasser als der zahme Haselbach es längst mit sich fortgerissen hätte. Das ganze Anwesen befand sich in einem höchst verlotterten Zustand, und der Müller hatte mehr Schulden auf dem Rücken als an manchen Tagen Körner auf seiner Mühle. Denn die reichen Bauern ließen ihren Dinkel längst zu Schönthal auf der neuen Kunstmühle mahlen.

Eine kleine Strecke unterhalb der Heckenmühle vereinigte sich der Mühlenkanal mit dem müßig und unbekümmert zwischen seinen Erlen und Weiden sich hindurchschlängelnden Haselbach, und die beiden armen Wasser bildeten so zwischen sich eine Art Halbinsel oder Landspitze.

Darauf lag in seiner ganzen stolzen Selbstherrlichkeit mein Vaterhaus. Sein Besitzer nannte es gern sein Klein-Venedig.

Um zu unserer Schwelle zu gelangen, bedurfte es also einer Brücke. Sie bestand in einem einfachen Eichenbrett ohne Geländer.

Zum Glück floß in unserem Canal grande und unter diesem Rialto weder ein tiefes noch ein reißendes Wasser, sonst hätte ich in meiner Kindheit hundertmal ertrinken können; so bin ich immer mit dem Schrecken und triefenden Kleidern davongekommen. Und wenn es hie und da geschah, daß nächtlich umherschweifende Bauernbuben ihren Witz und Heldensinn dadurch an den Tag oder vielmehr an die Nacht zu legen suchten, daß sie dem Dogen von Klein-Venedig seine Brücke abbrachen, indem sie das Brett wegnahmen und in irgendeinem Winkel versteckten, so wurden wir deshalb noch lange keine Gefangenen; wir schritten einfach, bis das Brett sich wieder auffand, über den Mühlgraben hinweg, ich allein mit besonderem Anlauf.

Zwischen diesem Mühlgraben und der Vorderseite unseres Hauses lag ein terrassenförmiger Raum, der links von der Haustüre als Holzplatz diente und rechts ein Gärtchen bildete, auf das die niederen Fensterchen der Wohnstube gerade hinausgingen. Das Gärtchen maß kaum drei Schritte im Geviert und doch wuchs mancherlei darin.

Ein alter Stock hundertblättriger Rosen in der Ecke, wie aus den Grundmauern des Hauses hervorgetrieben, bildete seinen Hauptschmuck. Große, schlank aufragende Feuerlilien blühten daneben und schauten uns zu den Fenstern hinein oder würden es getan haben, wenn ihnen die Mutter mit ihren Geranien und Nelken nicht die Einsicht versperrt hätte. Am Vorderrande aber, dicht über dem gemauerten Graben, wuchsen mächtige Irisstöcke, die mit den riesigen Blätterschwertern den dürren Reisigzaun durchbrachen, um draußen in der Freiheit fortzuwuchern, im alten Gemäuer des Kanals bis hinunter an den Wasserrand, wo ihre niederhängenden phantastisch gestalteten blauen Blumen sich spiegelten, in Gemeinschaft mit wildwachsendem Goldlack und Salbei und ganzen Scharen von Brennesseln.

Unser Häuschen erfreute sich noch eines zweiten Ausgangs, oder Eingangs, gemeiniglich die Hintertüre geheißen. Durch sie gelangte man zu unserem Grasstück, das die Spitze unserer Halbinsel ausfüllte und dergestalt von zwei Strömen begrenzt wurde. Ein halbes Dutzend Pflaumenbäume, drei alte Pappeln und zahlreiche Uferweiden erhöhten für mich unendlich den Wert dieses Grundbesitzes, abgesehen von den mannshohen Weidenröschen, die jeden Sommer am Bachrande blühten, zwischen Bachbunge und hoher Minze, und dem geheimnisvollen grünen Eisvogel, der scheinbar in beschaulicher Ruhe, seinem langen roten Schnabel nachguckend, jeden Tag auf dem nämlichen Weidenzweig über dem Wasser saß.

Nach oben hörte unsre Herrschaft drei Schritte von der Hauswand auf. Von da an gehörte Grund und Boden dem Heckenmüller. Und das war zunächst eine höchst merkwürdige Wildnis. Ein früherer Besitzer der Mühle hatte bei Vermehrung seiner Baulichkeiten an dieser Stelle Steine brechen lassen, Tuffsteine, wie sie in Kalkgegenden unter dem Rasen der Flußtäler gefunden werden. Die so entstandenen Steinbrüche mit ihren Unterhöhlungen, ihren Schluchten und Gängen bildeten für mich eine Welt mit tausend geheimnisvollen Wundern.

Hohe, sperrästige Kletten, mit graufilzigen, schirmförmigen Blättern und roten Blütenköpfen wuchsen hier, und seltene Riesendisteln, deren Blumen wie purpurne Samtballen über meinem Kopfe in der Sonne funkelten, und großblumige Zaunwinden, gleich tropischen Lianen von Gipfel zu Gipfel sich fortschlingend, und daneben tausendfältiges geringeres Gewächs, alles mich weit überragend: das wuchs und wucherte in üppiger Unordnung und ward vor meinen Kinderaugen und meiner Kindergröße zum unendlichen Urwald, in dem ich mich zu verirren fürchtete ...

Wahrlich, wenn ich mir unsere Halbinsel in die Erinnerung rufe und alle die Eindrücke vom ersten Erwachen meines Bewußtseins an, da empfinde ich es als Unrecht, daß ich manchmal von der Armut meiner Kindheit zu reden wage, indem ich vergesse, daß dem Kleinen einst alles groß war. Dem Kleinen, d.h. dem Kind. Und das Kind, das ist in Wahrheit etwas Großes. Groß ist seine ungeschwächte Einbildungskraft, dieses wundersame Vermögen, die Welt in vergrößerten Bildern zu schauen und zu empfinden. Dem wirklich Kleinen aber, dem geistig Kleinen, ist sogar das Große klein, wie dem Dummen nichts so dumm ist, als was hoch über aller Dummheit liegt.

Ein anderes bescheidenes Anwesen, jenseits des Mühlenkanals, hart an der Straße gelegen, gehörte dem musikalischen Korbmacher Rotermund, meinem Paten, und uns schräg gegenüber, an der hochgewölbten steinernen Haselbachbrücke, lag eine kleine Gerberei mit in den Boden eingesenkten Holzkufen, mit hohen Haufen roter Eichenlohe, wo man sich prächtig umhertreiben und an dem kräftigen Geruch der gemahlenen Eichenrinde laben konnte.

Diese Wohnungen und Anwesen hingen mit dem übrigen Hinterwinkel nicht unmittelbar zusammen, sie waren durch Obstgärten davon getrennt und bildeten in ihrer Abgeschlossenheit eine Art Vorstadt, vielmehr Vordorf; man nannte sie den Dörrhof, den dürren Hof, weil keine fetten Bauern hier wohnten.

Noch ein Haus, das nicht genannt wurde, gehörte zum Dörrhof, aber davon wird alsobald die Rede sein.


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