Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Die Botschaft des Herrn Otto Heinzelmann

In einer solchen Stimmung saß ich eines Tages in der Abenddämmerung wieder einmal auf der steinernen Brüstung der Haselbachbrücke. Ich sah aber keinem Eisvogel zu und auch keiner weißbrüstigen Wasseramsel. Die ganze Welt und alle Aussicht in sie hinein war mir wie grau umsponnen von meinem Groll und Mißmut.

Da sah ich plötzlich das rote joviale Gesicht und den weißbuschigen Schnauzbart des Herrn Steuerperäquators vor mir.

Er war nicht im blumigen Schlafrock, sondern hatte einen feierlichen schwarzen Tuchrock an und auf dem weißen Haarschopf über dem roten Gesicht saß ihm der schwarze breitkrempig weiche Filz.

»Nun, was machst du denn für ein komisches Gesicht, Alexander?« fragte Otto Heinzelmann im heitersten Tone. »Du siehst aus,« fuhr er fort, »als ob du geradeswegs da ins Wasser springen wolltest, und das kannst du ja hier ohne Gefahr tun. Übrigens möchte ich ein Wort mit dir reden, wenn du einmal wieder zu mir kommen willst, vielleicht morgen früh nach deiner Milchsuppe.«

Ich hatte seit längerer Zeit nicht mehr bei meinem alten Freund vorgesprochen, und wir waren uns fast fremd geworden. Er sagte mir seinerzeit: »Du kannst auch ohne die Olga kommen und mir vorspielen, was du auf dem Klavier gelernt hast.« Allein mein Vater meinte, ich hätte genug mit dem Latein zu tun und brauche den Herrn Steuerperäquator nicht auch noch zu belästigen. Ich blieb darum weg, ganz einfach, ohne mich über den Grund auszusprechen, nach echt Hinterwinkler Art.

»Also mit dem Papstwerden ist es vorderhand nichts.«

Mit diesen Worten empfing mich der Herr Steuerperäquator am andern Morgen, und dabei schien mir sein Gesicht noch röter auszusehen als gewöhnlich. Die Backen schienen mir schon fast ins Bläuliche zu schimmern, was ich alles für strotzende Gesundheit hielt, der ich nicht wissen konnte, daß Otto Heinzelmann an bedenklichen Kongestionen litt.

»'s ist schade drum,« fügte er bei, »du wärst der erste gewesen, der's in Hinterwinkel soweit gebracht hat. Und was gedenkst du nun aus dir zu machen, nachdem dich die Kirche verworfen hat, in der du also weder ein Eckstein noch auch nur ein geringes Ausfüllsel werden sollst von Stein oder Mörtel?«

Der spöttische Ton mißfiel mir. Er gab mir aber zugleich auch eine Art Selbstbewußtsein. Ich erklärte dem Herrn Steuerperäquator, daß ich fest entschlossen sei, als Schneidergeselle in die Fremde zu gehen, lieber heut als morgen.

»So gefällst du mir, mein Sohn,« sprach der Herr Steuerperäquator lachend, »ein Schneider muß Courage haben, du wirst deinem Metier Ehre machen. Aber hast du denn wirklich Freude an der edlen Schneiderei?«

Das war eine boshafte Frage. Ich wollte sie bejahen, brachte aber meine Antwort nur stockend heraus.

Da machte der Herr Steuerperäquator erst ein sehr komisches Gesicht, dann aber ging seine Rede plötzlich in eine andere Tonart über.

»Es ist ganz schön von dir,« begann er ernsthaft, »daß du dich an deinem Handwerk und dem Handwerk deines Vaters halten willst, wenn dir einmal nichts anderes übrigbleibt. Aber mir scheint doch, du wirst aus zwei Gründen die Kleidermacherkunst nie als deine Geliebte in dein Herz schließen. Du bist gleichzeitig zu schlecht und zu gut für sie. Ich weiß, daß du dich nie geschickt dabei angestellt hast, dein Vater hat oft genug geklagt. Du bist aber auch zu gut dafür – du brauchst nicht rot zu werden –, es wird dir darum in der Welt nur um so schlechter gehen. Dein Vater wird meinen Satz nicht zugeben; er wird sagen, für die Schneiderei kann keiner zu gut sein, der beste, der intelligenteste, ja der geniale Kopf sei dafür noch gerade gut genug. Dein Vater müßte kein Schneider sein, wenn er nicht so spräche. Aber es gibt viele hochgelehrte Leute, die um kein Haar anders denken, die nicht zugeben, daß einer zu gut sein kann für das, was die Welt ihm zugemutet, die behaupten, daß jeder, wenn er nur will, in seiner Sphäre genug Gutes und Nützliches zu tun Gelegenheit finden kann und nicht nötig hat, aus ihr heraus in eine andere einzutreten.

Die so reden, sind entweder Dummköpfe oder Heuchler. Oder sie denken eben nur an die Regel, wie sie für die meisten und allermeisten auch wirklich gilt.

Andere gehen nicht so weit; sie behaupten nur, keiner habe das Recht, sich über seinen Platz in der Welt zu beklagen; er soll sich, wenn er die Kraft besitzt, einen besseren erringen, aber er sei keines besseren wert, solange seine Ohnmacht ihn zwingt, auf dem schlechteren zu verharren ... Das klingt schon vernünftiger. Aber ich komme auf die Kleidermacherkunst zurück. Jeder Schneider wird mir entgegenhalten: Zu unserem Geschäft gehört nicht nur Intelligenz, sondern viel Intelligenz, je mehr, desto besser. Gewiß, meine Herren, gehört dazu Intelligenz, aber Schneiderintelligenz, Geschäftsintelligenz, keine andere. Die wäre dabei nur von Schaden. Und da du nun, mein lieber Alexander, nach dem Urteil deines Vaters blutwenig schneiderliches Talent hast, aber etwas musikalisches, wie ich glaube, so müssen wir es mit der Kunst versuchen.«

Hier ließ der Herr Steuerperäquator eine Pause eintreten und sah mich an. Ich machte große Augen.

»Was ich dir da sage und was dir einstweilen zum Teil spanisch klingen wird,« begann Heinzelmann wieder, »soll nicht deine Eitelkeit kitzeln, sondern soll dir Mut geben, Mut und Freudigkeit, ohne die ein junger Mensch verderben muß. Auch kann ich mich irren, aber einstweilen laß uns glauben und hoffen. Wenn du nun Geld hättest, könntest du unverweilt zu den Meistern deiner Kunst in die Schule gehen. Du hast kein Geld, darum mußt du dir selber helfen.

Ich habe gestern meine Noten geordnet, dort auf dem Schrank liegt der ganze Stoß. Die spielst du durch. Du nimmst ein Heft nach dem andern mit, übst auf Meister Nepomuks Klavier und kannst, so oft du magst, mir das Erlernte vortragen. Auch für die Violine sind Sachen darunter. In anderthalb Jahren kannst du mit dem ganzen Vorrat fertig sein, vielleicht auch früher. Dann leihe ich dir dreihundert Gulden, keinen Kreuzer mehr und keinen weniger, und damit gehst du zu Olga Rotermund, vielmehr zu deren Tante, die durch Olga von dir gehört haben wird.

Diese Freundinnen müssen dir Schüler verschaffen. Von dem, was du so verdienst, mußt du leben. Die dreihundert Gulden sollen dir dazu dienen, deine Lehrer zu bezahlen, denn die mußt du dann vor allem haben, und zwar die besten. Bis die dreihundert Gulden aufgebraucht sind, werden deine Schüler sich soweit vermehrt haben, um von ihnen leben und zugleich deinen weiteren Unterricht bezahlen zu können.

Da du an ein halbes Hungerleiden gewöhnt bist, wird dir die Sache weniger schwerfallen als manchem andern, der sie dennoch durchgemacht und bestanden hat. Aber immerhin wird's heißen, die Ohren steif gehalten, und mehr als einmal wirst du dann vielleicht denken: Wenn ich nur bei der Nadel geblieben wäre. Aber solche Stunden des Kleinmuts gehen vorüber, und die Hoffnung wacht von neuem auf in der Seele, und mit der Hoffnung die Freudigkeit, die dich kräftigen wird, den Kopf über Wasser zu halten, und dich entschädigen wird für alle äußerlichen Lustbarkeiten und Vergnügungen, wie sie gleichaltrigen Schneidergesellen nach Wunsch zugänglich sind ...

Oder – überlege dir's,« begann Heinzelmann nach einer abermaligen Pause, »noch ist es Zeit; mit der Nadel wirst du dir dein Brot leichter und schneller verdienen, trotz aller Talentlosigkeit. Bleibe bei deinem Leisten, ich wollte sagen, bei der Nadel, wenn ...

Obendrein können wir uns täuschen in deinem Talent. Und so gut du dir auf dem beschriebenen Weg ein nutzbares und im geistigen Sinn erhöhteres Dasein schaffen und sogar als Künstler ein Stücklein Ruhm erwerben kannst, ebenso leicht oder eigentlich tausendmal leichter kannst du auf demselben Wege ein Lump werden, schneller als auf jedem anderen. Und kein schlimmeres Lumpentum, als das mit künstlerischem Anhauch. Doch nur wer wagt, gewinnt.«

*

So hatte noch niemand mit dem Lexel gesprochen, und Otto Heinzelmann konnte wohl eine gute Wirkung seiner Rede in meinem Gesichte lesen; aber was alles dabei in mir jubelte und aufjauchzte, vermochte er doch nicht zu ahnen, und auszusprechen, was in mir vorging, vermochte ich nicht im geringsten. Wem schon bei gewöhnlichen Anlässen das Wort nicht sicher zu Gebote steht, der wird in Augenblicken überwallenden Gefühls erst recht verstummen. Das war mein Fall.

Als der Herr Steuerperäquator mich so in meiner Unbeholfenheit betrachtete, wie ich dasaß, stumm, mit weitgeöffneten Augen, da regte sich von neuem die Heiterkeit und die Lust zu scherzen in ihm.

»Am End' ist dir die Sache doch nicht recht,« begann er, »wärst wohl eben doch lieber Papst oder Kardinal geworden.

Ich selber,« setzte er schon wieder ernster ein, »ich bedauere, daß man dir die Fortsetzung der Studien nicht ermöglicht hat. Du konntest durch sie nur gewinnen. Du bist naiv, ein Heuchler wärst du nie geworden. Die Übungen der Schule hätten deinem Verstand gut getan, du hättest sie genützt in deinem Sinn und zu deinen Zwecken. Wo andere in ihrem Geist verderben, wenn sie überhaupt einmal etwas Ähnliches gehabt haben, da hättest du den deinigen gebildet. Und dann hätte die Kunst zu dir gesprochen, und dein Talent hätte dich zu einem freien Mann gemacht. Ich war auch im Seminar, ich sollte auch Priester werden. Zwar eine Gefahr lag bei dir nahe, wie ich dich kenne; du konntest leicht ein ehrlicher Fanatiker werden, ein Heiliger – dann aber warst du für die Welt, wie sie heute ist, verloren. Ein Heiliger, an den niemand glaubt als ein paar muffige alte Betschwestern, macht bei aller Heiligkeit eine traurige Figur. Der Heilige wie der Künstler braucht, daß er sich fühle, ein ihm würdiges Publikum. Also kein Bedauern. Du weißt, wie dein Vater zu sagen pflegt, der Schneiderjakob: Man kann nie wissen, wozu etwas gut ist.«

Dabei lachte der Herr Steuerperäquator.

»Meine Flucht vor dem Priestertum«, fuhr er dann in der größten Heiterkeit fort, »ist mir auf eine eigene Art bekommen. Das ist eine tragisch-komische Geschichte. Im Vergleich zu heute war's damals ein lustig Ding um die Gottesgelehrtheit. Wir wurden in des seligen Wessenbergs Geist erzogen; wir lebten nicht in Konvikten und eingesperrt, sondern als freie Burschen, die farbige Mützen und Bänder trugen wie andere und lieber auf den Fechtboden als in die Kirche gingen, von der wir ja wußten, daß sie uns nicht davonlief.

Sie ist mir nicht davongelaufen, aber ich ihr. Ich habe mich verliebt und wollte meinen Schatz heiraten, ein blondzopfiges Goldschmiedstöchterlein, vielmehr Bijouteriewarenhändlerstöchterlein, um im modernen Stil zu reden. Nicht ungestraft wohnt der Musensohn bei töchterbegabten Philistern, ein Kandidat des katholischen Priestertums sollte sich das gesagt sein lassen.

Um heiraten zu können, mußte ich zu einem anderen Studium greifen, und weil ich nur als Theologe Stipendien bezog und von meinem Vater auf keinerlei Unterstützung hoffen konnte, ja eher dessen Fluch befürchten mußte, sah ich mich gezwungen, die neue Fakultät nach der Wohlfeilheit zu wählen. Da kam in erster Linie die Philologie, die lateinisch-griechische Schulmeisterei. Aber davon wollte ich nichts wissen.

Als Theologe hatte ich mit Vorliebe das kanonische Recht kultiviert und war auch an das weltliche römische Recht geraten. Auf die gehörten Vorlesungen gedachte ich mich zu berufen und hoffte auf Grund derselben in kürzester Frist die Zulassung zum juristischen Staatsexamen zu erhalten. Allein ich hatte mich getäuscht. Man war damals, in den fünfziger Jahren, im Ministerium noch nicht gut auf abtrünnige Theologen zu sprechen, man ließ mich wissen, daß ich die Vollzahl der vorschriftsmäßigen Semester abzusitzen hätte, und das war bei meiner gänzlichen Mittellosigkeit eine wenig verlockende Perspektive. Aber es bot sich ein Ausweg.

In der Steuerverwaltung mangelten Leute, man trug mir eine Gehilfenstelle an, durch die ich auch ohne Examen zu einem anständigen Amte gelangen könnte. Ich griff zu. Und damit verzichtete ich auf die Gipfel weltlicher Regierungsgewalt und Herrlichkeit und wußte mich ein für allemal zur staatlich bürgerlichen Mittelmäßigkeit verdammt, zu einem dunkeln, unrühmlichen, dienenden Dasein.

Die Liebe und ein stilles häusliches Glück sollten mich entschädigen. Aber um meinen blonden Schatz heimzuführen, mußte ich erst ein definitives Amt abwarten, und damit ging es sehr langsam, gar nicht den Hoffnungen entsprechend, die man mir gemacht hatte. Der Bijouteriewarenhändlerstochter dauerte es zu lange, sie kündigte mir auf und heiratete einen glücklicheren Nebenbuhler, einen alten Freund von mir, der keine Zeit mit der Theologie verloren hatte und bereits als Rechtsanwalt in der Residenz viel Geld gewann – ›verdiente‹, lautet sonst der Ausdruck.

Mir blieb das Nachsehen. Und wie du siehst, mein Alexander, habe ich es auch später zu keinem neuen Schatz mehr gebracht, sondern bin im Zölibat steckengeblieben, dem ich mich glücklich entronnen glaubte. So hat sich, durch ihre heimliche Gewalt, die Kirche an mir gerächt. An dir braucht sie sich glücklicherweise nicht zu rächen; du hast nicht sie, sie hat dich verworfen. Darum ›Glück auf!‹ zur Künstlerlaufbahn.«

*

Ich will hier nicht das Innere des armen Alexanders sezieren (um das unkünstlerische Wort für eine unkünstlerische Sache zu gebrauchen) und nicht versuchen, das alles an den Tag zu legen, was ihm mit gärender Gewalt die Brust schwellte, als er, mehr taumelnd als gehend, mehr im Traum als im Wachen, das Haus des Herrn Steuerperäquators mit einem Pack Notenheften unter dem Arm verließ und dann auf der hochbogigen altfränkischen Brücke des Haselbachs sich auf die steinerne Brüstung setzte, um sich darauf zu besinnen und sich klarzumachen, was ihm nun begegnet war.

Ich will lieber nachholen, was ich damals in meiner tölpischen Unbeholfenheit gänzlich unterlassen habe, ich will dir, Otto Heinzelmann, seltsamer Heiliger, närrischer Kauz, mit aller Feierlichkeit meinen Dank aussprechen und dir sagen, wie unvergessen und unvergeßlich du mir geblieben bist mit deinem üppigen weißen Haarschopf, dem leuchtendroten Gesicht und den kleinen grauen Äuglein darin, deren verschmitzt wohlwollendes Lächeln so wohl tat und so oft meine Kindheit erhellt und illuminiert hat zusammen mit deinem eigenen überilluminierten Gesicht und dem weißleuchtenden Schopf darüber.

Und mehr als das möcht' ich. Mehr möcht' ich können als Worte machen. Denn wie matt und schal sind doch Worte, und gar geschriebene. Ich wollt', ich wäre ein Maler geworden, nämlich so einer wie die alten, die man etwas uneigentlich die frommen nennt. Ja, das wollt' ich, und dann würde ich dich in farbenprangenden Bildern verewigt haben, so wie du mir als dreijährigen Knirps zuerst in der Phantasie lebendig wurdest, und in diesen Bildern, inmitten von Cherubim und Seraphim, deren lange schlanke Flügel ich in purem Gold prägte und anderen himmlischen Heerscharen in wallenden Lichtgewändern, würde ich dich auf den hehren Thron setzen als ...

Als? Aber da fällt mir der Schnauzbart ein, der weißbuschige, und daß man den Herrn der Heerscharen doch nicht gut mit einem Schnurrbart darstellen könne, so wenig als mit einem so widerspenstig sich aufsträubenden Haarschopf, wie du ihn hattest statt der ambrosischen Locken. Ja, ja, man soll eben auch die besten Menschen nicht zu Göttern und Idealen aufbauschen wollen, da hapert's immer – – –


 << zurück weiter >>