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Drittes Kapitel

Das Ritterfräulein

Seit diesem Sonntag waren Wochen vergangen; es war Mai geworden, und ausnahmsweise gab einmal nicht nur der Kalender, es gaben Zeugnis von ihm Himmel und Erde und alle Kreaturen.

Ein goldenes Bündel Sonnenschein fiel durch das altgotische Spitzbogenfenster in Alexanders enges zellenhaftes Zimmer, warme Maiensonne, die sich, geheimnisvollem Zauber gleich, Sehnsucht weckend, in die Seele des Menschen zu stehlen pflegt. Auf einem blühenden Apfelzweig vor dem Fenster sang ein Buchfink. Er sang:

Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus;
da bleibe, wer ein Narr ist, mit Sorgen zu Haus.

Alexander saß auf dem Fenstersitz seiner Zelle, nämlich auf dem einseitig in die Fensternische vorspringenden Gesimsstein – noch heute wie einst in den Mönchszeiten die einzige Sitzvorrichtung des altklösterlichen Gemachs. Das Fenster, wenigstens der kleine untere Teil, stand geöffnet, die Mailuft zog hindurch und bewegte die Efeuzweige, die über das Gesims emporblickten, Alexander las. Und was las er? Die Abenteuer Telemachs von Herrn von Fenelon. In der französischen Ursprache las er es. Er wunderte sich selber, daß er das Buch so geläufig weglesen konnte.

Zwischen dem Lesen aber schaute er manchmal verstohlen durchs Fenster, hinunter in den Amtmannsgarten, wo gerade der königliche Oberamtmann Ritter von Danloh-Pützenhausen mit seiner Tochter Hilda zwischen den alten Buchsgängen auf und nieder wandelte.

Der Unterlehrer war vor ihnen an seinem Platz gewesen. Er saß also nicht da, um von ihnen gesehen zu werden. Aber er verbarg sich auch nicht. Er neigte sich eher, mit der Absicht, etwas über die Brüstung hinaus.

Eine große Portion Gelehrteneitelkeit hing ihm immer noch an, er erachtete es als eine besondere Gunst des Zufalls, sich beim »Studieren« sehen lassen zu können, namentlich von Leuten wie dem Herrn Oberamtmann und der Fräulein Hilda, der schönen, vornehmen Hilda, die ihn grüßte mit dem holdseligsten Lächeln, das er sich denken konnte, die ihm die Hand drückte, wenn er bei ihr eintrat, sie, die Tochter des königlichen Oberamtmanns Ritter von Danloh-Pützenhausen. Wenn Hilda unten über den großen Hof, den sogenannten Brunnenhof, schritt, und Alexander oben an seinem Schulfenster stand, errötete er jedesmal.

Hilda hatte von ungefähr gehört, daß Alexander auf dem Klavier und der Violine nicht übel spiele und hatte anfragen lassen, ob er sie hie und da beim Klavierspiel begleiten wollte. Das tat er seitdem jede Woche ein paarmal. Auch zum Abendessen wurde er von Zeit zu Zeit eingeladen.

So gab es also in Alexanders Umgebung nicht nur gotische Spitzbogen und Erkertürme und Wendeltreppen, nicht nur dunkle Krypten und finstere Verließe und sonstige Romantik, sondern auch – ein Ritterfräulein.

Und wenn sich Alexander nun seit Wochen seine Flucht in die weite Welt überlegte, weil er mit dem Schartenlex und der ganzen schlimmen Klasse jeden Tag weniger zu Streich kam, und sich die erstaunlichsten und ruhmreichsten Abenteuer ausdachte, von denen er je gelesen oder die seine Phantasie erfand, da stand plötzlich Hilda mit betrübter Miene vor seinen Traumesaugen und schien zu sagen: Und an mich denkst du nicht, nur die Abenteuer und die Frauen der Fremde hältst du deiner würdig. Glaubst du irgend auf dem weiten Erdenrund und sei es auf dem fernsten Thule eine romantischere Aufgabe zu finden, als mich zu gewinnen, mich, die Oberamtmannstochter, nein, mich, das Ritterfräulein Hilda, und ist nicht – auf alle Fälle ein Sperling in der Hand besser als eine Taube auf dem Dache?

So sprach in des Unterlehrers Phantasie tiefbetrübt das Ritterfräulein Hilda, und dieser närrische Unterlehrer könnte manchmal wahrhaftig vergessen, daß alles nur Phantasie war.

Jetzt aber, während es da unten in seinem Gärtlein spazierte, sah das Ritterfräulein nicht traurig aus. Es sah fast lustig in die Welt. Alexander bog seinen Kopf noch ein wenig weiter über das Fenstergesims und die Efeuranken hinaus, und sein Auge ruhte mit süßem Entzücken auf der goldlockigen Gestalt, die zwischen den altmodisch steifen Buchsgängen und Tulpenbeeten und Fliederlauben auf und nieder ging, am Arm ihres stolzen Vaters hängend, und jeden Augenblick mit ihrem wundervollen Reifrock beschäftigt, mit dem sie bald da, bald dort hängenblieb, und der sich zu dem der ebenfalls blonden Olga Rotermund, an Größe wie an Pracht des Stoffes, ungefähr verhielt wie das Rad, das ein Pfau schlägt auf dem englischen Rasen vor einem Grafenschloß, zu dem einer Pfauentaube auf der Hofraite eines Bauerndorfs.

So verloren war Alexander in dem Anblick, daß er lautes Klopfen an seiner Tür ganz überhörte. Nun öffnete sich diese unaufgefordert, und in ihrem Rahmen erschien der Amtsdiener Schaudrich, ein alter, im Dienst ergrauter und krumm gewordener, keuchender Soldat, an dem nur der schmutziggraue Schnurrbart immer dicker und kräftiger zu werden schien.

Heute war nicht der gewöhnliche Musiktag mit Fräulein Hilda, es mußte also eine außerordentliche Einladung sein, die der brachte. Daher auch der ungewöhnliche feierliche Abgesandte mit Schnurrbart und Uniform. Sonst hatten sie immer die Magd geschickt.

So dachte Alexander und zitternd griff er nach dem Sendschreiben, dessen auffallende Größe tausend Ahnungen in der Seele aufsteigen ließ.

Alexander las: »In Sachen des Unterlehrers Alexander Schmälzle wegen Mißhandlung von Schulkindern betr.«

Das Schreiben enthielt eine dienstpolizeiliche Vorladung des Unterlehrers Alexander Schmälzle vor den königlichen Oberamtmann zu Hopfingen auf den andern Tag elf Uhr, mit der Unterschrift: »von Danloh-Pützenhausen.«

Alexander stand und zitterte. Er war blaß wie eine gekalkte Wand.

Und er besann sich. Es konnte sich nur um den Schartenlex handeln. Der war vor acht Tagen mit blutender Nase weggelaufen und seither nicht wieder in der Schule erschienen. Gewiß hatte ihn der verklagt.

Im Vorsaal des Oberamtmanns mußte Alexander am nächsten Morgen mit anderen »Verbrechern« lange warten. Das Unglück macht abergläubisch und verwirrt den Geist. Alexander dachte: Wenn nur Fräulein Hilda jetzt nicht da hereinkommt! Gegen elf Uhr holte ihn der nämliche Amtsdiener ab.

In der Amtsstube stand er dann einem schwarzverhängten Tisch mit mächtigem Kruzifix und zwei Leuchtern gegenüber, und es war ihm nicht anders, als ob er zum Tode verurteilt werden sollte. Der Amtmann, in einem Aktenstoß blätternd, ließ ihn lange unbeachtet an der Tür stehen. Dann tat er, als ob er den Unterlehrer jetzt erst gewahrte und winkte ihm näher, winkte auch seinem Aktuar, dem einarmigen alten Ganser, der einen Bogen Papier zurechtschob, und das hochnotpeinliche Verhör begann.

*

Wie mit einem Gefühl der Vernichtung war Alexander von dem amtmännisch-ritterlichen Verhör in seine Zelle zurückgekehrt.

Er glaubte in den Boden sinken zu müssen vor Scham. Konnte er nach einer solchen Behandlung noch einem Menschen in Hopfingen unter die Augen treten? Oder gar seiner Klasse, seinen Schülern, die von seinem Verhör natürlich unterrichtet waren? Oder gar dem Fräulein Hilda, von dem er am andern Tag zur Übung erwartet wurde?

Auf seiner Stube fand Alexander einen Brief von der Mutter, da stand auch kurioses Zeug darin: »Das Olga,« las Alexander (ein Mädchen ist in Hinterwinkel wie in der deutschen Grammatik immer sächlichen Geschlechts) – »das Olga ist für die Pfingsttage wieder hier und wird immer vornehmer, auch der Finzer ist hier, und die beiden stecken den ganzen Tag beieinander, wenigstens der Finzer ist immer bei Korbmachers drüben, wiewohl ihm der Nepomuk nicht die freundlichste Miene macht, weil er schon wissen wird warum. Aus dem Olga aber wird man nicht klug. Das tut immer freundlich mit dem Finzer, doch das Mädchen hat's mit allen Leuten so, und ich will in dem Punkt nichts gesagt haben. Daß der Finzer geistlich wird, kann ich nicht glauben und viel andere Leut auch nicht, aber das Olga wird er dann doch nicht heiraten als reicher Bauernsohn. Wenn das gute Mädchen nur nicht unglücklich wird, es müßte einem leid tun ...«

Alexander dachte nur halb an das, was er las. Er öffnete darauf ein in die Mauer eingelassenes Schränkchen und nahm ein kleines Schächtelchen von Pappe heraus. Darin lag Geld: das zählte Alexander und rechnete.

Was er aber mit einem Bleistift vor sich hinkritzelte, stellte keine Zahlen vor, es war der Wahlspruch Ulrichs von Hutten: »In futurum«.

Der Ruck war geschehen. In aller Stille traf er seine Vorkehrungen. An die Eltern schrieb er: »Seid ohne Sorgen, Ihr sollt von mir hören.« Und ohne einer Seele der ehemaligen Reichsstadt Hopfingen eine Silbe von seinem Vorhaben zu entdecken, stieg Alexander Schmälzle in der Nacht vom 26. auf den 27. Mai in den Bahnzug und fuhr davon.

Er mußte innerlich lachen, wenn er dachte, wie sein Hopfingen am andern Morgen um einen Unterlehrer zu wenig aufwachen und ein dummes Gesicht machen würde, nicht wissend, wo geschwind einen neuen hernehmen; wenn er sich die Kollegen vorstellte, die Mund und Augen aufsperrten bei der großen Neuigkeit und dann ganz allmählich zu begreifen anfingen, daß sie sich in dem Schmälzle geirrt hatten.

Von Herzen gönnte er den Buben den Spaß, auch dem Schartenlexel – wenn es ein Spaß für sie war. Denn einen, mit dem sie so leicht fertig wurden wie mit dem Schmälzle, bekamen sie vielleicht nie wieder.

Und dann bewunderte Alexander sich selber, seinen genialen Entschluß, seine Kühnheit, seinen Leichtsinn. Im Bewußtsein des Außerordentlichen, das er vollbrachte, war er überzeugt, daß ihm auch Außerordentliches entgegenkommen müsse. Er konnte wieder das Kühnste träumen. Er fühlte sich wie berauscht und schiffte sozusagen – denn er hatte längst Schiller gelesen – mit tausend Masten in den Ozean der Fremde – in futurum.


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