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X. Baffinland

43. Der Preis der Freiheit

Ponds Inlet.

Es waren nur wenige Eskimos in Ponds Inlet, und diese wenigen eine Auslese von Minderwertigkeit. Alle jagdfähigen Männer waren mit ihren Frauen und Kindern den Karibus nachgezogen. Es war die letzte Möglichkeit, sich vor Wintersanbruch noch mit Fleisch und Fellen einzudecken.

Die zurückgebliebenen Männer und Frauen humpelten eifrig herbei, als die erste Bootsladung der »Nascopie« ausgeladen wurde. Sie markierten freundlich grinsend Geschäftigkeit und Hilfsbereitschaft, hielten Taue, an denen nichts zu halten war, und faßten Lasten mit an, die andere trugen. Die eigentliche Arbeit erledigten die kräftigen jungen Leute der Kompanie und die Polizisten, die die gesamte für sie bestimmte Ladung selbst ausluden.

Unter den Frauen fiel mir eine durch ihren seltsamen Gesichtsausdruck auf. Die Eskimos haben leicht etwas starres, maskenhaftes an sich. Diese Starre löst sich aber jedesmal zu einem breiten Grinsen, wenn sie uns begrüßen, vor allem, wenn sie meinen Reisekameraden oder Ralph erblicken. Diese Alte aber veränderte ihre Züge kaum. Vor allem blieb der unheimliche Ausdruck um Mund und Kinn. Ich weiß nicht, was sich stärker in ihm ausprägte: Grauen oder Grausamkeit.

Diese Alte verändert ihre Züge kaum

Der Eindruck war so nachhaltig, daß ich später den katholischen Pfarrer nach der Frau fragte. Er wußte sofort, wen ich meinte: »Ah, das ist Ataroktaluk! Mit der ist eine furchtbare Geschichte passiert. Die hat Mann und Kinder aufgefressen. – Aber jetzt ist sie eine gute Katholikin«, fügte er wie zur Beruhigung hinzu.

Mir fiel die Geschichte ein, die Knud Rasmussen in seinem »Quer durch das Arktische Amerika« berichtet. Er hat sie nicht selbst erlebt, sondern Takornaok erzählte sie ihm, eine alte Frau aus Iglulik.

Diese Geschichte ist freilich grauenhaft genug. Takornaok reiste mit ihrem Mann eines Winters von Iglulik nach Ponds Inlet. Plötzlich hörte sie unheimliche Laute in der Luft. Es klang nicht wie Worte, sondern wie die Geister von Worten. Es hörte sich an, als ob jemand ohne Stimme zu sprechen versuchte. Sie sahen einen Schneehügel, und als sie auf ihn zugingen, machten sie eine entsetzliche Entdeckung. Im Schnee lag ein menschlicher Schädel, dem das Fleisch von den Knochen abgenagt war. Hinter dem Schneehügel aber wimmerte die geisterhafte Stimme: »Ich kann nicht länger unter Menschen leben, ich habe mein eigen Fleisch und Blut gefressen!«

Sie fanden eine Frau, die nur noch Haut und Knochen war. Sie war halbnackt, da sie ihre Kleider gleichfalls zum großen Teil gefressen hatte, und aus ihren Augen tropfte Blut, so stark hatte sie geweint.

Takornaok und ihr Mann nahmen die Verzweifelte mit sich. Sie erzählten Rasmussen, daß sie sich völlig erholte und später einen andern Mann heiratete, Igtussarssua, einen berühmten Jäger.

Dies alles war mir blitzschnell durch den Kopf gegangen, und ich fragte den Priester rasch: »Ist Ataroktaluk die Frau, von der Rasmussen berichtet?«

Der Geistliche nickte. Für einen Augenblick war ich fassungslos. Einmal des entsetzlichen Geschehens wegen, dessen Wahrheit ich keinen Augenblick anzweifelte. Ich war während des furchtbaren russischen Hungerjahres 1922 in den schlimmsten Gebieten, in der Ukraine wie an der Wolga. Ich weiß, wie Hunger wüten kann.

Dann aber fühlte ich so stark, wie noch nie auf der ganzen Reise, das Überwältigende, daß ich jetzt selbst mit eigenen Augen Menschen und Dinge sehe, von denen ich noch vor kurzem in den Büchern berühmter Polarforscher wie etwas aus einer unzugänglichen Märchenwelt gelesen hatte. Auch diese Märchenwelt also, die bisher unzugänglichste, durch Nacht und Eis versperrte, ist heute erschlossen.

Aber es war noch etwas anderes, das mich noch stärker beeindruckte, der hohe Preis, den dieses Volk des eisigen Nordens für seine Freiheit zahlt. Die Eskimos sind frei. Sie sind vielleicht das freieste Volk der Erde. Der Eskimojäger hat keinen Häuptling, überhaupt niemanden über sich. Ein ungeheueres Gebiet steht ihm zur Verfügung. Es gehört ihm, da er überall darin seinen Lebensunterhalt zu erwerben versteht, überall sich und seine Familie, die ihm folgt, zu ernähren weiß, zu kleiden und zu wärmen.

Freilich, einen Preis muß er für diese Freiheit zahlen. Mitunter ist die Natur doch stärker. Mitunter rächt sie sich für die Gewalt, die der Mensch ihr antut, indem er ihr Leben noch in Gebieten abtrotzt, die sie dem ewigen, eisigen Schweigen vorbehalten wollte. Dann sind die Karibus unerreichbar weit fortgewandert, Seehund und Walroß verschwunden. Dann steht der Mensch allein im Eis. Nicht das geringste tierische oder pflanzliche Leben ist dann um ihn, nicht Würmer noch Insekten, nicht Gras, Moos oder Rinde, die in andern Gebieten wenigstens für eine Weile den Hunger stillen können. Dann bleibt dem Menschen nur der Mensch, unter Umständen das eigene Fleisch und Blut, wenn der in den Eingeweiden wühlende Hunger unerträglich wird.

Auf dieser zeitweise tödlichen Bedrohung durch eine feindliche Natur und der Notwendigkeit, sich dagegen zu schützen, beruht der Kommunismus der Eskimos, oder sagen wir besser ihre Volksgemeinschaft. Für diese größten Individualisten, die es auf der Erde gibt, ist es nur natürlich, daß der Besitzende von seinem Überfluß abgibt, nicht als Gabe oder Gnade, sondern als Selbstverständlichkeit. Jede Jagdbeute über Seehundsgröße gehört ohne weiteres dem ganzen Stamm. Jeder Stamm und jede Gruppe, die zusammenlebt und zusammen jagt, wird im Fall von Not und Mangel so lange teilen, wie etwas da ist. Erst wenn niemand mehr etwas hat, oder eine Familie allein ist, und der Hunger ein menschlichen Verstand übersteigendes Maß annimmt, kommen Fälle vor wie der von Ataroktaluk.

Nach allgemeiner Annahme sind die Eskimos, die aus Asien kommend im nördlichen Amerika siedeln wollten, von ihren Todfeinden, den Indianern, in die Eiswüste getrieben worden. Die einst so stolzen Indianer haben ihre Freiheit für ein Linsengericht verkauft, für das » treaty money«, ein paar Dollar, Lebensmittel und Decken, Gaben, die sie zu Bettlern der Zivilisation machen. Die Eskimos, wenigstens die der Zentralarktis, sind in der Hauptsache noch frei. Freilich ist auch ihre Freiheit durch die Zivilisation bedroht. Sie werden sie nur bewahren, wenn sie sich bewußt bleiben, daß der Preis der Freiheit auch heute noch der ist, der er immer war: »Und setztet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein!«


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