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7. Das weiße Tischtuch über Fort Prince of Wales

Churchill.

Die Stadt Churchill oder sagen wir lieber die geplante Stadt Churchill, ist der erste Vorstoß der Zivilisation in ein Gebiet, das heute noch eins der ödesten, abgeschlossensten und menschenleersten der Erde ist. In jenen Tagen aber, als die Hudson's Bay Company hier ihre erste Niederlassung gründete, war es die weltverlorenste Wildnis, die man sich vorstellen kann. Die wenigen Beamten der Kompanie saßen auf ihren einsamen Posten, verlassen und abgeschnitten, nur durch das eine Schiff, das einmal im Jahr in die Hudsonbucht einlief, mit der übrigen Welt verbunden. Die Natur, in der sie lebten, war so unerbittlich hart, so menschenfeindlich, daß man hätte glauben sollen, alles, was nur Menschenantlitz trägt, hätte sich hier zu gemeinsamem Lebenskampf zusammenschließen müssen. Jeder, der in der Wildnis gereist, der lange ausschließlich unter Farbigen geweilt hat, weiß, was das heißt, wieder einen Menschen der eigenen Hautfarbe zu treffen. Da macht Rasse und Sprache keinen Unterschied. Weiß ist weiß, und man fühlt sich nah und verbunden, als gehöre man zur gleichen Familie. Allein in Amerika hat es scheinbar dieses Zusammengehörigkeitsgefühl aller Weißen nie gegeben, und nirgends in Amerika wurden so erbitterte Kämpfe zwischen weißen Menschen ausgetragen wie in der winterlichen Wildnis um die Hudsonbucht.

Es war ja ganz schön, daß Karl II. von England den Gentlemen-Abenteurern ganz Nordamerika schenkte, soweit es noch nicht besiedelt war und daß er ihnen das ausdrückliche Handelsmonopol verlieh. Aber leider kümmerten sich die Franzosen nicht um die königliche Charter, und die Hudson's Bay Company mußte selber sehen, wie sie mit den Franzosen und den französischen Kanadiern fertig wurde, die ihrerseits glaubten, ein ausschließliches Anrecht auf den gesamten Pelzhandel zu haben.

Diese Kämpfe nahmen ihren ununterbrochenen Fortgang, völlig unabhängig davon, ob die beiden Mutterländer in Europa in Krieg oder Frieden miteinander lebten. Europäische Friedensschlüsse galten für Amerika nicht, ganz abgesehen davon, daß die Hudson's Bay Company ja schließlich ein eigenes Hoheitsgebilde mit voller staatlicher Autorität war.

Diese Kämpfe um die einsamen, weltverlorenen Posten und kleinen Forts, die meist nur zwischen wenigen Weißen ausgetragen wurden, sind mir stets als die seltsamsten und unsinnigsten aller kriegerischen Handlungen erschienen. Sie wurden geführt in einem Gebiet, in dem eigentlich jeder weiße Mann auf den andern angewiesen war und das überdies so riesig war, daß für beide Teile reichlich Platz und auch reichlich Felle vorhanden gewesen wären.

Aber unentwegt ging der Kampf um die Forts; bald nehmen die Franzosen sie, bald erobern die Engländer sie zurück, das eine Mal ist die Kompanie schon fast aus der Hudsonbucht verdrängt, das andere Mal hält sie alle ihre Posten wieder in Händen.

Der Kampf war von ungewöhnlicher Härte und Grausamkeit. Landungen mußten durch das eiskalte Wasser der Bucht gemacht werden. Verwundete erfroren. Der unterlegenen Partei blieb bestenfalls die Flucht in die Wildnis, wo sie ihr Schicksal, elend zugrunde zu gehen, mit Sicherheit vor Augen hatte.

Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß die Hudson's-Bay-Company-Leute nicht immer gerade wie die Löwen kämpften. Schließlich waren sie ja nur mäßig bezahlte Angestellte, und für ihre Familien war im Falle ihres Todes nicht oder kaum gesorgt. So spielte das weiße Tischtuch eine große Rolle, das bald der Kommandant, bald ein Untergebener hinter seinem Rücken über die Forts wehen ließ, wenn die Franzosen mit Übermacht anrückten.

Die meisten Forts bestanden ja lediglich aus Blockhäusern und Pallisaden, die von den französischen Kriegsschiffen leicht in Brand geschossen werden konnten. Diese leichte Zerstörbarkeit war der Grund, warum die Feste des Prinzen von Wales aus Stein erbaut wurde. Sie sollte die wichtige Einfahrt in den Churchillfluß decken und die Hauptfestung der Kompanie werden. Fast 40 Jahre, von 1733-1771, haben die Engländer an ihr gebaut. Sie wurde ein Wunderwerk ihrer Zeit und vor allem ein Wunderwerk für den einsamen Platz, an dem sie entstand. Von weither kamen die Indianer, um den Bau zu sehen und seine mächtigen Wälle mit den gewaltigen, darüber ragenden Kanonen wurden zu einer Legende durch ganz Nordamerika.

Heute noch ist das Fort überraschend eindrucksvoll. Als wir über den Fluß setzen und uns über das völlig deckungslose Vorgelände der Festung nahen, können wir leicht ermessen, wie schwer oder vielmehr, wie unmöglich es gewesen sein muß, das Fort zu stürmen. Mit den damaligen Mitteln konnte man es nicht sturmreif schießen. Selbst heute wäre es nicht leicht. Seine Wälle bestehen aus festem Fels, und solch dickes Mauerwerk besitzt eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit, selbst gegen schwere Kaliber. Als wir im Herbst 1915 zur Eroberung Serbiens die Donau forcierten, hat unsere schwere Artillerie – ich glaube, es waren sogar 42 Zentimeter dabei, zum mindesten österreichische Motormörser – die alte Türkenfestung Semendria unter Feuer genommen. Ich habe mir später ihre Steinwälle und Steintürme angesehen. Es war geradezu lachhaft, wie wenig unser Feuer ihnen hatte anhaben können.

Ähnlich fest ist das Fort des Prinzen von Wales gebaut. Seine Wälle stehen heute noch fast unbeschädigt. Obwohl die Franzosen nach der Übergabe des Forts sich noch ein paar Tage lang mühten, es in die Luft zu sprengen, brachten sie nicht einmal das Tor völlig zum Einsturz. Sie vermochten wohl die Brüstung zum Teil zu zerstören, die Wälle selbst aber widerstanden allen Versuchen, sie auch nur zu beschädigen.

Und dieses stärkste Fort, der Stolz der Hudson's Bay Company, die Bewunderung der Indianer, wurde von den Engländern übergeben, ohne einen Schuß abzufeuern, als La Perouse, der berühmte französische Admiral und nachmalige Weltumsegler vor ihm mit seiner Flotte erschien. Vierzig große Kanonen standen auf den Wällen. Nicht eine wurde abgeschossen, als das französische Landungsdetachement anrückte. Allerdings waren die Franzosen 400 Mann stark, die Besatzung des Forts aber zählte nicht mehr als 39 Köpfe. Sein Kommandant verfügte nicht einmal über einen Mann für jede Kanone. Er verlor die Nerven, riß das Tischtuch vom Frühstückstisch und schwenkte es über dem Fort. –

Die Franzosen brachten nicht einmal das Tor zum Einsturz

Wir leben im Zeitalter der Maschine, und viele von uns glauben, daß der Mensch der Maschine gegenüber bedeutungslos geworden sei, vor allem im Kriege. Allein es ist immer noch der Mensch, der schließlich und endlich allein zählt. Das Fort Prince of Wales mit seinen 40 Kanonen auf unzerstörbaren Wällen war damals die stärkste Kriegsmaschine, die man sich vorstellen kann. Trotzdem versagte sie, da der Mensch versagte, der sie bediente.

Das Verwunderliche ist nur, daß der Mann, der die starke Festung so feig übergab, nicht ein x-beliebiger Schwächling war, sondern einer der berühmtesten und kühnsten Entdecker, den die Hudson's Bay Company je besessen hat. Es war Samuel Hearne. Hearne hatte ganz allein einen Vorstoß in den Nordwesten gemacht. Zweiundeinhalb Jahre war er unterwegs gewesen, hatte Unsägliches erlitten, war oftmals von Indianern überfallen und beraubt worden. Aber er hatte nicht nachgelassen. Er war weiter und weiter gedrungen, bis über den Polarkreis, bis in das Land der Eskimos, bis an die Küste des Nördlichen Eismeeres.

Samuel Hearne wurde von den Franzosen gefangen fortgeführt, jedoch gegen Lösegeld freigelassen. Er wurde von der Kompanie sogleich an die Hudsonbucht zurückgeschickt und übernahm das Kommando von Fort Churchill. Seine feige Übergabe nahm man ihm nicht übel. Augenscheinlich hatte man in London selber ein schlechtes Gewissen, weil man dem starken Fort eine so ungenügende Besatzung gegeben hatte.

Hearne war weiter Kommandant wie vorher, als sei nichts geschehen; denn die Franzosen waren nach dem vergeblichen Zerstörungsversuch wieder abgezogen. Nur eins hatte sich geändert. Sein alter Freund Matonabbee lebte nicht mehr, als Hearne zurückkam. Matonabbee war ein Chipewyan-Häuptling. Er war in der Nähe von Fort Churchill aufgewachsen in der Bewunderung der Engländer und ihrer wunderbaren, uneinnehmbaren Feste. Er hatte Hearne auf seinen Entdeckungsfahrten begleitet und war sein Führer gewesen. Ohne den Häuptling wäre Hearne nie bis zum Eismeer vorgedrungen.

Als der Indianer die schmähliche Übergabe des Forts durch seine englischen Freunde erlebte, die er für unbesieglich gehalten, ging ihm seine Welt unter. Er tat, was ein Indianer fast nie tut, er brachte sich selber um. Sechs seiner Frauen und vier seiner Kinder verhungerten im folgenden Winter, da niemand mehr da war, der für sie sorgte. Hearne selbst aber lebte noch zehn Jahre und starb nach seiner Pensionierung friedlich auf seinem Ruhesitz in England.


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