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I. Die Reise nach Churchill

1. Die Familie aus Wabowden

Churchill.

Um 9 Uhr abends stieg in Wabowden eine kleine Familie, bestehend aus Vater, Mutter und zehnjährigem Sohn, unauffällig in den »Muskeg« ein.

Der »Muskeg« ist der Passagierzug der Hudsonbuchtbahn, der einmal in der Woche, und zwar jeden Samstagnachmittag von The Pas nach Churchill fährt.

Der »Muskeg« ist ein sehr vornehmer Zug; er führt einen kombinierten Schlaf-, Speise- und Salonwagen mit Aussichtplattform mit sich. Diesmal war sogar ein zweiter Schlafwagen angehängt; denn er fuhr gewissermaßen zur Eröffnung des neuen Weizenhafens nach Churchill. Am Sonntag sollte der erste Getreidedampfer eintreffen. Es war die »Pennyworth« aus Newcastle. Unter Führung eines Eisbrechers war sie durch die noch voll Treibeis schwimmende Hudsonstraße in die Hudsonbucht eingefahren. Mit ihr wurde die Verschiffung des Prärieweizens auf dem nördlichen Wege eröffnet.

Von einer offiziellen Eröffnung hatte man freilich abgesehen, die Zeiten waren zu schlecht, aber es war doch alles, was irgendwie mit dem Hafen, der Bahn oder dem Getreideelevator zu tun hatte, im Zug, und zwei der offiziellen Herren hatten sogar ihre Damen mitgebracht.

Der Weg nach Churchill führt durch die restlos leere und öde Tundra

Churchill ist brandneu. Bis jetzt war die Reise zu diesem ersten modernen Hafen an der Hudsonbucht noch streng verboten. Solange Hafen und Elevatoranlagen noch im Bau waren, wollte man keine unberufenen Zuschauer. Um die Bahn an die Hudsonbucht war ein halbes Jahrhundert lang erbittert geredet und gestritten worden, bis die Anhänger der Linie ihren Bau durchgesetzt hatten. Es war keine einfache Anlage. Die zuerst gewählte Strecke nach Port Nelson mußte man wieder aufgeben, da es sich als unmöglich herausstellte, den Hafen von Versandung und Verschlickung freizuhalten. Viel Geld war vertan und viel Gelegenheit zum Konflikt gegeben. Da die Regierung die alleinige Bauherrin von Bahn, Hafen und Elevator war, konnte sie unerwünschten Zuzug ohne Schwierigkeit fernhalten. Sie brauchte nur niemanden zu befördern. Eine andere Möglichkeit, nach Port Churchill zu kommen, gibt es nicht, es sei denn, es macht sich einer auf und wandert die 800 Kilometer mutterseelenallein durch Moor und Sumpf zu Fuß. Und dann kommt er in eine »Stadt«, die eigentlich nur auf dem Papier steht, in der es nicht das bescheidenste Hotel, Boardinghaus oder sonst irgendeine Unterkunftsmöglichkeit gibt.

Churchill liegt mitten in der Wildnis. Der Weg dorthin führt durch die restlos leere und öde Tundra. Die Bahnstationen haben noch keinen Namen. Sie heißen lediglich nach den Meilenzahlen, an denen sie liegen und bestehen nur aus den Streckenwärterhäuschen. Nur einige wenige, wie eben Wabowden, haben es darüber hinaus zu einigen Blockhäusern und einem Namen gebracht.

Eine Reise nach Churchill ist in Kanada so etwas wie bei uns etwa eine nach Spitzbergen oder sagen wir lieber nach Nowaja Semlja oder Franz-Josef-Land, um etwas noch Ausgefalleneres zu nennen. Es mag einer in Kanada nach Westindien oder dem Panamakanal oder selbst nach Neuguinea fahren, darüber würde sich niemand aufregen, aber wenn jemand nach Churchill fährt, so bringen die Zeitungen die längsten Interviews über ihn.

So waren die Damen im Zug auch entsprechend stolz und entsprechend ausgerüstet. Sie sahen aus, als wollten sie zum Nordpol fahren. Sie trugen derbe Schnürstiefel bis ans Knie hinauf, wie sie die Prospektoren benutzen, geradezu fabelhafte Breeches aus schwerstem Stoff und drei Sweater und Wolljacken übereinander. Das war freilich nicht sehr bequem; denn einstweilen war es noch knallig warm, wie man ja überhaupt bis über den Polarkreis hinauf Sommertemperaturen antreffen kann, die den unseren nicht nachstehen. Aber es machte sich ungeheuer eindrucksvoll und expeditionsmäßig, und die beiden Polardamen sahen denn auch mit milder Verachtung auf die Familie herunter, die so gar nicht polarmäßig gekleidet in Wabowden in den Schlafwagen stieg.

»Das war ja ein reizender Ort, in dem Sie einstiegen!« meinte die Dame in den Breeches wohlwollend zu der im leichten Sommerkleid. »Wie hieß er eigentlich?«

»Wabowden.«

»Richtig – Wabowden! Wieviel Einwohner hat der Ort?«

»Achtundfünfzig.«

»Sie fahren wohl, Angehörige in Churchill besuchen?« ging das Verhör weiter.

»Nein!«

»Also übersiedeln Sie nach Churchill?« fragten die Breeches voll immer größerer Anteilnahme.

»Nein«, erwiderte die Frau aus Wabowden wieder.

»Dann fahren Sie also wieder zurück!«

»Nein, wir kommen nicht zurück.«

Jetzt wurden die Breeches geradezu aufgeregt. »Ja, was machen Sie denn dann? Etwas anderes ist doch gar nicht möglich!«

»Doch!«

»Doch?«

»Ja, wir reisen weiter.«

»Sie reisen weiter!« Die Dame in den Schnürstiefeln erschrak. Sie legte die Hand auf den Arm der andern, wie jemandem, den man von einem bedenklichen Entschluß abbringen muß. »Ja, aber das geht doch gar nicht! In Churchill ist doch Schluß. Weiter geht es nicht! Wissen Sie denn das nicht? Dann beginnt die Arktis und das ewige Eis!«

»Ja, eben dahin fahren wir!« sagte die Dame im Sommerkleid schlicht.

Die Familie aus Wabowden waren wir. Freilich hatten wir mit Wabowden nicht mehr zu tun, als daß wir dort in den Schlafwagen umgestiegen waren.

So begann unsere Arktisreise!


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