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12. »Das schrecklichste Meer der Erde«

An Bord der »Nascopie«.

»Ein Meer, unzugänglich gemacht, sogar in den Hundstagen des Sommers, durch Eisberge, Riffe, Sandbänke und ununterbrochene Stürme.« – Ich lasse das Buch sinken, in dem ich gerade lese und blicke auf die See, die tiefblau in strahlender Sonne sich breitet wie das Mittelmeer. Ist das wirklich die gleiche Hudsonbucht, von der La Potherie in einem Brief an den Herzog von Orleans eine so schauerliche Schilderung gibt! Er fährt fort, daß sie auf ihrer Fahrt durch die Bucht Hindernisse zu überwinden gehabt hatten, die für jedes andere Volk unüberwindlich gewesen wären und schließt: »Hier war es, daß die Franzosen ihren ganzen Mut zeigten und über die schrecklichsten Hindernisse triumphierten, die die Natur den berühmtesten Helden entgegenstellen kann.«

Wirklich, man könnte sich fühlen und sich selber heldenhaft vorkommen bei dieser Darstellung, wenn nur nicht das Meer so wunderbar still und blau wäre. Sollte sich die Hudsonbucht seit 1697 so verändert haben oder hatten die Franzosen bereits damals einen Hang zum Aufschneiden? Schließlich waren die angeblich unüberwindlichen Hindernisse doch bereits von den Engländern überwunden worden, die hier schon das Fort Nelson gegründet hatten, zu dem La Potherie segelte. Und fast hundert Jahre früher hatte Henry Hudson die Bucht befahren, die nach ihm benannt ist.

Vielleicht war es gerade solch ein Tag wie der heutige, als Hudson Kap Wolstenholme passierte und in die Bucht einfuhr. Vielleicht war es die gleiche Stille des Meeres und die gleiche Bläue des Wassers, die das Herz des Entdeckers in dem frohen Glauben aufflammen ließ, das Ziel seiner Wünsche, den unmittelbaren Seeweg nach Indien, endlich erreicht zu haben, dem er ein Leben voll ununterbrochener Reisen und Forschungen gewidmet hatte.

Dieser so heiß ersehnte Seeweg nach Indien war ja noch lange das eine große Ziel, nachdem man sich langsam bewußt geworden war, daß weder Kolumbus noch Cabot die ostasiatische Küste erreicht hatten. Was bedeutete damals Amerika? Man wollte nach China und nach Indien, um endlich unmittelbare Verbindung mit jenen märchenhaft reichen Ländern zu gewinnen, mit denen Handel bisher nur durch Vermittlung der Araber möglich war.

Niemand hat dieses Ziel so zäh, so unentwegt verfolgt wie Henry Hudson. Sein erster Plan war, über den Nordpol China zu erreichen. Er segelt nach Island, weiter die grönländische Ostküste entlang, bis die Eisbarre zwischen Grönland und Spitzbergen ihm den Weg versperrt. Er läßt sich nicht abschrecken, fährt nach Spitzbergen und gelangt bis über den 80. Grad nördlicher Breite hinauf, bis ihn wieder undurchdringliches Eis zur Umkehr zwingt.

Nochmals versucht es Hudson; diesmal auf dem Wege nach Osten. Als erster sucht er die Nordöstliche Durchfahrt. Im Eis von Nowaja Semlja zwingt ihn eine Meuterei seiner Mannschaft zur Rückkehr.

Geht es nicht im Norden und Osten, geht es vielleicht im Westen. Hudson segelt über den Atlant, entdeckt den Hudsonfluß, an dessen Mündung heute Neuyork liegt, hielt ihn für die Durchfahrt nach Asien und fährt ihn hinauf, bis er seinen Irrtum erkennt.

Henry Hudson ist inzwischen ein alter Mann geworden. Aber er gibt nicht nach. Er fährt zu einer vierten Reise aus. Diesmal nimmt er nördlichen Kurs und gelangt durch die Hudsonstraße in das nordische Binnenmeer, das fälschlich Bucht heißt. Erlebt man auf ihm einen Tag wie den heutigen, kann man Hudson seinen Irrtum nicht übelnehmen, sich bereits auf dem ersehnten Südmeer zu wähnen.

Freilich der Wahn dauert nicht allzu lange. Wir sind noch nicht weit gefahren, als das erste Eis angeschwommen kommt. Erst schwimmt uns eine Flottille kleiner, hübscher Eisblöcke entgegen. Wir stehen auf dem Vorschiff und warten darauf, daß einer am Bug zerschellen möge. Aber die Bugwelle ist zu stark. Sie faßt die kleinen Brocken und wirft sie beiseite.

Aber es kommen mehr und größere. Zu unserer Linken werden sie so dicht, daß sie sich zu einer einzigen, weißen Fläche zusammenschließen. Bald bilden sie auch zu unserer Rechten solch weißes Feld. Dazwischen aber ist nach wie vor tiefblaue See, weiß getupft von Eisblöckchen wie von Wasserrosen, die auf einem Märchensee schwimmen. Darüber strahlende, strahlende Sonne! – Das ist die Hudsonbucht, muß ich immer wieder denken, die so verrufene Hudsonbucht! Seltsam, daß es auf unserer, ach so bekannten Erde, doch noch Dinge gibt, die man entdecken kann, Dinge, die so ganz anders sind als die landläufige Vorstellung.

Hudson wird damals freilich wenig begeistert gewesen sein, als er, die Ostküste der Bucht entlangfahrend, immer tiefer ins Eis geriet, so daß er um ein Haar drin stecken geblieben wäre, obgleich es noch Sommer war. Aber im letzten Augenblick tat sich eine Rinne auf, und er konnte seine Fahrt nach Süden fortsetzen. So erreichte er das Südende, die heutige Jamesbucht und mußte zu seinem Entsetzen feststellen, daß die Küste wieder nach Norden führte. Seine Hoffnungen waren wieder einmal enttäuscht.

Inzwischen war der Winter herangekommen, und man mußte Winterlager beziehen. Im nächsten Juni gab das Eis die Weiterfahrt frei. Aber Hudson kam nicht weit. Wieder meuterte die Mannschaft. Diesmal machten die Leute Ernst. Sie setzten ihren Führer mitsamt seinem Sohn und allen Kranken in eine Schaluppe und ließen sie treiben. Man hat nie mehr etwas von ihnen gehört.

Wie alt mochte Hudsons Sohn gewesen sein? Man weiß nur, daß er noch ein Knabe war, der das Schicksal des Vaters teilte. Vielleicht gerade so alt wie Ralph? Bei dem Gedanken an das Schicksal des Entdeckers und seines Sohnes gewinnt die Bucht mit einem Male ein anderes Aussehen. Gewiß war Henry Hudson ein Mann von eiserner Energie. Aber die Meuterer hatten ihm weder Wasser, noch Waffen, noch Vorräte mitgegeben, und seine Gefährten waren ein Knabe und sieben Kranke. –

Ich mag in Gedanken an das Ende des großen Entdeckers im Liegestuhl eingenickt sein. Jedenfalls schreckte ich plötzlich von dem Gefühl empfindlicher Kälte auf.

Sonne und Bläue des Meeres waren verschwunden. Es war jetzt grau und feindlich. Ein eisiger Wind pfiff darüber hin, und die ersten Spritzer aufziehenden Sturmes gingen über Deck. Ich zog mich schleunigst zurück und konnte mein Buch gerade noch retten, ehe es über Bord gewaschen wurde. Als ich in der Kabine seine durchnäßten Seiten trocknete, fiel mein Blick zufällig auf den Schluß des Berichtes von La Potherie, in dem er auf der Höhe von Belle Isle schreibt: »Dem Himmel sei Dank, bin ich diesem schrecklichsten Meer der Erde entronnen. Keine zehn Pferde werden mich wieder dahin bringen.«

Und ich mache heute die gleiche Fahrt oder vielmehr eine, die noch unendlich viel weiter in die Arktis führt, gewissermaßen als Vergnügungsreise mit Frau und Kind.

– Aber noch sind wir nicht bei Belle Isle.


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