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35. Das Ringen um Ellesmereland

Craig (Ellesmereland).

Das Ewige Eis hat sich nicht ohne Kampf zurückdrängen lassen, und es ging nicht ohne Opfer. Jede Stellung, die der Mensch im hohen Norden heute hält, hat er bezahlen müssen. Das Ringen geht weiter; es ist noch nicht einmal in Ellesmereland zu Ende.

Wenn die kanadische Regierung auf der Arktisexpedition des Jahres 1922 gleich bis Ellesmereland vorstieß und dort ein Polizeidetachement landete, so geschah es wohl aus der Erwägung heraus, allen Anzweiflungen von Kanadas Souveränität über die Arktis zu begegnen. Ellesmere ist die nördlichste Insel. Danach kommt bis zum Pol nichts mehr als das leere Polarmeer. Südwestlich der Insel liegt Axel Heiberg und der Sverdruparchipel, auf den Norwegen Anspruch erhob. Außerdem war die erste Erkundung dieser letzten Insel vor dem Pol durch eine amerikanische Expedition erfolgt, und der Pol selbst war von Peary für die USA. in Besitz genommen worden. So war es immerhin möglich, daß die Vereinigten Staaten Ansprüche erheben könnten, wenn man ihnen nicht durch eine tatsächliche Besetzung zuvorkam.

Die amerikanische Expedition, die nach ihrem Führer Greely heißt, war das erste Opfer, das das Ringen um Ellesmere kostete. Die Amerikaner gingen als Teil der großen internationalen Arktis- und Antarktisexpedition im Jahre 1884 dorthin, der gleichen, an der die deutsche Gruppe auf Baffinland sich beteiligte.

Die Greelygruppe, die aus 24 Mann bestand, wurde im nördlichen Teil der Insel gelandet. Sie war reichlich mit allem für ein Jahr ausgerüstet und sollte nach einem Jahr wieder abgeholt werden. Aber die Amerikaner hatten sich nicht klargemacht, daß einstweilen noch kein Schiff mit Sicherheit darauf rechnen kann, den Smithsund in jedem Jahr durchfahren zu können. Bis heute ist es überhaupt nicht mehr als einem halben Dutzend Schiffen gelungen, durch die schmale, eisgefüllte Gasse hindurchzukommen, die zwischen Ellesmere und Grönland in die arktische See am Pol führt.

Die Greely-Leute warteten vergeblich darauf, daß sie abgeholt würden. Die Vorräte gingen ihnen aus. Sie schlugen sich nach Süden durch bis zur Mitte der Insel, wo sie auf Kap Sabine, gegenüber der Bachehalbinsel, Winterlager bezogen. Hier erbauten sie sich Steinhäuser, und hier sind sie buchstäblich Mann für Mann verhungert. Die letzten sieben wurden schließlich vollkommen heruntergekommen und verelendet als wahre Gerippe gerettet.

Diese Bachehalbinsel hatte die kanadische Regierung eigentlich als Sitz des Postens auf Ellesmere ausersehen. Aber man kam nicht so weit. Man kam nur bis Craig. Hier wurde das Detachement abgesetzt, und in fieberhafter Eile ging man daran, die Ausrüstung und Vorräte für zwei Jahre zu landen. Eben war die letzte Ladung an Land, als sich die Bucht mit schwerem Eis füllte. Eigentlich hatte man noch solange bleiben wollen, bis die Unterkunft für das Detachement wenigstens einigermaßen vollendet war. Aber der Kapitän hielt die Lage für zu gefährlich und den Winter für zu nahe, als daß er ein längeres Verbleiben des Schiffes verantworten zu können glaubte. So steuerte man schleunigst aus Craig Harbour hinaus und überließ es dem Detachement, sich einzurichten, so gut es konnte.

Dies war im Jahre 1922. Alles ging gut. Man fand den Posten im nächsten Jahr wohlbehalten vor. Da die Eisverhältnisse besser waren, hoffte man, Bache anlaufen zu können. Man schiffte alles schleunigst ein und steuerte den Smithsund hinauf. Aber der Dampfer kam bald in derartiges Packeis, daß man von Glück sagen konnte, daß man wieder herauskam. Es blieb nichts anderes übrig, als nach Craig zurückzukehren und dort alles wieder auszuladen, einschließlich der Eskimos und Hunde, die man im nördlichsten Grönland für das Detachement engagiert hatte.

Der Craig-Posten hatte wenig Glück. Im Winter 1924 wurde er durch Feuer zerstört, mitten im kältesten Winter. Als das Expeditionsschiff eintraf, fand es das Detachement in einem kleinen Schuppen vor. Wieder beschloß man, Bache anzulaufen, und wieder schlug der Versuch fehl. Es gelang lediglich in Framhaven am Kane Bassin ein Vorratsdepot zu errichten. Im Jahre 1926 vermochte man endlich, bis Bache vorzudringen und hier den Posten zu errichten. –

Die Mühe war umsonst. Bache ist nicht zu halten. Einstweilen ist hier das Eis noch stärker. Nur Craig wird wieder besetzt und auch dieses nur mit zwei Mann. Es ist ein Rückzug vor dem Ewigen Eis, kein Zweifel. Aber ebenso steht außer Zweifel, daß er nur zeitweilig ist. Der Vormarsch in den letzten Rest der noch unbezwungenen Arktis wird fortgesetzt werden, mit besseren Mitteln, vielleicht mit dem Flugzeug.

Die drei Mann, die drei Jahre lang in Bache ausgehalten haben, das letzte ohne genügende Vorräte, sitzen mir gegenüber.

»Ja, ich werde im nächsten Jahre wohl wieder nach oben gehen«, antwortet der Korporal auf meine Frage. – »Ich habe die Nordkrankheit«, fährt er mit einem kurzen Auflachen fort, »nach dem ersten Aufenthalt in der Arktis geht sie noch an, bei dem zweiten ist sie bereits schwer, nach dem dritten unheilbar!«

Die Männer, die lange im Norden waren, leiden noch an etwas anderm; die haben das Reden verlernt. Überdies fürchten sie, irgend etwas zu verraten, was sie nicht sagen dürfen. Mir war es lange rätselhaft, was es sein könne. Staatsgeheimnisse gibt es im eisigen Norden doch keine. Bis mir die beiden Gräber einfielen, die wir hinter dem Polizeiposten in Dundas auf der Devoninsel gesehen hatten. Nach den Inschriften war in zwei aufeinanderfolgenden Jahren je ein Mann des Postens gestorben, und zwar jedesmal kurz ehe der Dampfer eintreffen sollte. Auf Fragen erfuhren wir, daß beide sich durch ungeschickte Handhabung der Waffen tödlich verletzt hatten. Daß ein so sorgfältig ausgebildeter Mann wie ein Angehöriger der Mounted Police ungeschickt mit dem Gewehr umgegangen sein sollte, ist schon auffällig. Aber gleich zwei solcher Unglücksfälle mit tödlichem Ausgang hintereinander, und jedesmal am Ende eines langen, einsamen Jahres?

Später wurde mir aus Erzählungen und Berichten, vor allem aus Beobachtung klar, daß die größte Gefahr auf den einsamen Posten der Arktis nicht die Kälte ist, nicht Schneesturm und die langwierigen, schwierigen und gefährlichen Patrouillen, sondern die Einsamkeit. Darüber den Verstand zu verlieren, ist ein Schicksal, das in der Arktis nicht selten ist.

»Die Patrouillen, die wochenlangen Schlittenreisen über das Eis, die angetreten werden, sobald die Polarnacht zu Ende geht, sind das Schönste«, versicherte mir der dritte Polizist, den wir bei der Landung vor dem Posten lehnend und so merkwürdig gleichgültig antrafen. Das Schlimmste ist die lange Nacht, wenn man vier Monate im Dunkeln sitzt und des Schneesturmes wegen nicht aus dem Haus kann. Die lange Polarnacht ist es auch, was die kanadischen Eskimos am meisten fürchten, weshalb sie nicht über den 74. Grad nach Norden hinaufwollen und weshalb die kanadische Regierung bisher Eskimos aus Nordgrönland, die die lange Polarnacht viel mehr gewöhnt sind, nach Ellesmere schicken mußte.

Eine unvorstellbare Erleichterung der drückenden, langen Winternacht ist freilich das Radio. Der Empfang hier oben ist von wunderbarer Reinheit. Man hört alle Stationen.

»Wir haben herausgefunden, daß Deutschland die beste Musik sendet«, versichert mir der dritte Polizist, »und wir haben mit Vorliebe Berlin oder Mühlacker eingeschaltet. Ich hoffte, bei der Gelegenheit Deutsch zu lernen, aber es war doch zu schwierig.«

Das Bache-Detachement hat eine besondere Beziehung zu Deutschland. Es hat auf seinen 4500 Kilometer langen Hundeschlittenpatrouillen nach einem vermißten deutschen Gelehrten gesucht, dem unglücklichen Krüger, der mit seinen beiden Begleitern aus dem Polareis nicht zurückkehrte.

Krüger wollte die geologischen Zusammenhänge von Grönland und Ellesmereland erforschen. Mit zwei Begleitern brach er von Craig Harbour auf, unzureichend ausgerüstet mit nur einem Schlitten und zehn Hunden. Er hätte mindestens das dreifache an Schlitten und Hunden gebraucht. Aber er hatte kein Geld.

Als er zu der vorgesehenen Zeit nicht zurück war und seine Braut einen flehenden Brief nach dem andern an die kanadische Regierung schrieb, beauftragte diese das Detachement in Bache, nach dem Vermißten zu suchen. Die drei Polizisten gingen in drei Patrouillen ab und versuchten das Unmögliche, in einer grenzenlosen, weg- und steglosen Eis- und Schneewüste nach drei Menschen zu suchen.

Sie suchten ganz Ellesmere ab, Axel Heiberg und Cornwall nebst dem dazwischenliegenden Meer, und zuletzt fand der Korporal am Nordwestkap von Axel Heiberg eine Notiz von Krüger, daß er nach der Meigheninsel hinüber sei. Der Korporal wollte ihm dorthin folgen, aber die Eisverhältnisse erlaubten es nicht. Außerdem waren seine Vorräte fast zu Ende und keinerlei Wild vorhanden.

Es wurde immer schlimmer. Keine Seehunde, keine Walrosse weit und breit. Die Hunde wurden dauernd schlapper. Schon glaubte sich die Patrouille verloren. Da tauchte in der letzten Not ein Eisbär auf. Der Korporal durchschnitt rasch die Leinen, und die Hunde stürzten sich auf den Bär.

Im Vorfrühling war die Patrouille losgezogen; als sie erschöpft zu Sommersanfang zurückkehrte und sich aufs Schiff freute, das sie ablösen sollte, erlebte sie die große Enttäuschung, daß es nicht bis zu ihnen durchdringen konnte. Die lange Patrouille hatte ihre wie ihrer Hunde Kräfte über Gebühr beansprucht, außerdem hatten sie keine Zeit zur Jagd gehabt und dadurch auch ihre Vorräte stärker beansprucht als vorgesehen. Es war kein schönes Jahr, dem sie entgegengingen.

Als mein Kamerad den dritten Polizisten, mit dem wir schließlich allein zusammensitzen, fragt, woran sie am meisten Mangel gelitten hätten, wird er plötzlich verlegen und stottert: »Das gehört zu den Dingen, die ich nicht sagen darf.« – Dann lacht er plötzlich wieder dasselbe unheimliche Lachen wie bei unserer Landung auf Ellesmereland, steht auf und sagt unwirsch: »Ich denke, ich muß an Deck gehen –!«

»Ich kann ihn gut verstehen«, meint mein Kamerad, »als wir von unserer Afrikareise zurück waren und ich in Deutschland zum erstenmal die Geschichte erzählen sollte, wie der Elefant in deiner Abwesenheit unser Lager angriff und ich mit den Kindern in den Busch floh, da war mir ähnlich zumute.«

Wir sitzen schweigend allein in der Messe. Von Deck dringt ein halb gellendes, halb kicherndes Lachen zu uns herein.


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