Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III. Durch das Binnenmeer des Nordens

9. »Unser Eisbrecher«

An Bord der »Nascopie« in der Hudsonbucht.

Wir standen auf dem flachen Dach des Elevators. Der Elevator von Churchill ist ein Wolkenkratzer, ein Turm zu Babel, ein fast gespenstisch hohes Gebäude, das um so unheimlicher wirkt, als es als einziges sich über eine vollkommen flache Landschaft erhebt und der Gegensatz zu den niedrigen Bretterhäuschen und Baracken, die bis jetzt die Stadt Churchill bedeuten, seine Größe um so mehr hervorhebt.

Es war einer jener glasklaren nordischen Sommertage. Die dünne, reine Luft, die frei war von der geringsten Spur von Dunst, ließ uns meilenweit sehen. Wie eine riesige Landkarte breiteten sich unter uns der Hafen, der Fluß und die Küste. Nach der einen Seite dehnte sich graugrün die endlose Tundra, auf der andern blaugrau die riesige Bucht, die eigentlich ein Meer ist. Dieses Binnenmeer des Nordens, das Hudsonbucht heißt, war bis zu diesem Jahre der Privatsee der Hudson's Bay Company. Mit der Eröffnung des Churchiller Hafens wird dieses bisher so entlegene Meer an den Weltverkehr angeschlossen, und wir sind die erste Familie, die von ihm in die Arktis aufbricht.

Freilich wird es eine »Familienreise« werden wie unsere früheren, die durch Afrika oder quer durch Australien gingen, also nicht ganz so einfach und vielleicht nicht immer ganz gemütlich und bequem. Ich persönlich werde es diesmal bequemer haben; denn ich brauche kein Fahrzeug zu steuern, sondern ein anderer tut es von der Brücke des Eisbrechers aus, auf dessen Ankunft wir hier warten.

Wir spähen den Horizont ab; denn deshalb sind wir hier heraufgeklettert, um zu sehen, ob wir noch keine Spur von dem Schiff entdecken.

Meer wie Tundra leuchten in einem unbestimmbaren Glanz. Es ist, als blühten beide. Auch das Meer blüht von tausend weißen Blüten. Zwischen seinen schimmernden Wogenkämmen spielen Dutzende weißer Wale, die sich bis in den Fluß hinein gerade zu unsern Füßen tummeln. Wie schneeige Frauenschultern aus schwerem Samt heben sich ihre blendendweißen Rücken aus den blauen Wellen.

Plötzlich ruft Ralph, der sich nicht vom Spiel der Wale in den Wellen hat ablenken lassen, sondern unverwandt auf den Horizont geblickt hat: »Ein Schiff! Die Nascopie!«

Wir fahren herum. Richtig, eine dünne Rauchfahne ist in der Ferne aufgetaucht. Rasch wächst sie. Ein Rumpf wird darunter sichtbar, ein mächtiger Rumpf, viel zu groß für einen Eisbrecher. »Das ist nicht die Nascopie«, sage ich, »das ist einer der Getreidedampfer, die heute eintreffen sollen«. –

Mit welcher Freude wir auch auf das Schiff warteten, das uns in den hohen Norden bringen soll, im untersten Unterbewußtsein lebt doch das Gefühl, die Nascopie möge noch nicht so bald kommen, das Gefühl, als sei es noch zu früh. Plötzlich erscheint es mir, als seien wir in Churchill wunderbar untergebracht, als gäbe es hier noch eine Fülle zu sehen, und als laste auf mir noch ein Berg ungetaner Arbeit und ungeschriebener Briefe, die alle erledigt sein wollten, ehe wir Churchill verließen. Denn dieses Verlassen Kanadas bedeutet gleichzeitig das Verlassen der Zivilisation. Waren wir erst an Bord, so waren wir abgeschnitten von der übrigen Welt, konnten weder Post senden noch empfangen. Auf wie lange? – Das hängt vom Eis ab. Und plötzlich fielen mir die Schlußzeilen aus dem Abschiedsbrief eines bekannten Polarforschers ein. »Schließlich kann ich doch nicht umhin«, hieß es da, »mir klarzumachen, daß ich auf eine Fahrt gehe, von der nicht feststeht, wann und ob ich und meine Gefährten wieder zurückkehren.«

»Es ist doch die Nascopie!« rief der Direktor des Elevators, und mit einem Schlage waren alle trüben Gedanken verflogen. Mit brennendem Interesse sahen wir alle drei dem Schiff entgegen, das uns in das Reich des Ewigen Eises bringen sollte, so ziemlich das einzige Reich, das wir noch nicht kennen. –

Die Nascopie entpuppte sich als ein schönes, starkes Schiff, als es jetzt am Fort Prince of Wales vorbei in die Flußmündung einfuhr. Wir eilten hinunter, um es uns aus der Nähe anzusehen. Es war besonders für die Fahrt in die arktischen Gewässer gebaut und hatte einen mächtigen nach rückwärts gekrümmten Bug, um sich auf das Eis hinausschieben und es durch sein Gewicht zerbrechen zu können.

»Unser« Eisbrecher war viel größer und wohnlicher, als wir ihn uns vorgestellt hatten. Er hatte eine gemütliche Messe, und wir drei bekamen eine verhältnismäßig freundliche und geräumige Kabine. Alles ist ja relativ; auf einem Atlantikdampfer wäre sie uns unmöglich eng, klein und primitiv erschienen. Für die Fahrt in der Arktis dünkte sie uns großartig.

Wir übersiedelten noch am gleichen Tage aufs Schiff, und am andern Morgen um sieben Uhr ging es los. Wir waren natürlich auf und standen an der Reling. Aber es war eine völlig sang- und klanglose Abfahrt. Im Elevator wurde noch nicht gearbeitet. Am Pier war kein Mensch, außer dem jungen blonden Mann der Hudson's Bay Company.

Die Laufplanke wurde zurückgeschoben, die Taue wurden losgeworfen, und langsam drehte der Dampfer in den Fluß. Die weißen Wale waren alle fort, und die See schien grau und kalt. Die Holzhäuser von Churchill entschwanden bald unseren Blicken. Aber der weißleuchtende Turm des Elevators stand noch lange am Horizont, sich hoch und weiß über das leere Land erhebend. Dann wurde auch er kleiner und kleiner, und schließlich war er nur wie ein Mensch, der am Ufer stand und uns bange nachsah.


 << zurück weiter >>