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22. Arktischer Sonntagsdienst.

An Bord der »Nascopie« in der Davisstraße.

Jeden Sonntag haben wir Dienst: vormittags Gottesdienst und nachmittags Bootsmanöver.

Den Gottesdienst halten die »Großmächte« an Bord getrennt ab, die katholische Kirche den ihren bereits morgens um halb sieben; an der Messe, die der Bischof liest, nehmen aber nur die paar französischen Kanadier teil, die unter der Besatzung sind.

Die Großmacht Staat ruft um halb elf zur Kirche. Dann versammelt der Major die Seinen um sich, und jedes Mitglied der Regierungsexpedition hat zu erscheinen.

Die Großmacht Hudson's Bay Company bezeugt ihre Selbständigkeit dadurch, daß sie dem anglikanischen Gottesdienst vollzählig fernbleibt. Im übrigen sind die Hudsonbai-Leute fast durchweg Schotten und somit Presbyterianer. Auch die Mounted Police möchte gern als eigener Machtfaktor gelten und drückt sich daher größtenteils.

Wir drei nehmen als Protestanten am staatlichen Gottesdienst teil. Ihm geht gewöhnlich eine lange Beratung voran, welche Lieder gesungen werden sollen. Der Major ist ein großer Sänger; er singt zwar mehr laut als schön, aber er kann die Texte auswendig, und wir bewundern ihn sehr, wenn er die längsten Lieder von der ersten bis zur letzten Strophe hersingen kann, ohne einen Blick in das Gesangbuch werfen zu müssen.

Wir sind bezüglich der Lieder natürlich arg gehandikapt, sowohl was den Text als auch was die Melodie anbetrifft. Gewöhnlich müssen wir bis zur zweiten, dritten Strophe warten, bis wir voll mitsingen können. Nur einmal, als ein Lied nach der Melodie »Deutschland, Deutschland über alles!« gesungen wurde, rissen wir von Anfang an die Führung an uns.

Nach dem Lied liest der Major einen Abschnitt aus der Bibel vor, mit Vorliebe Abschnitte aus dem Alten Testament. Dann wird gesungen, gebetet und nochmals gesungen. Das Ganze ist so nüchtern und formlos wie möglich. Trotzdem hinterbleibt ein gewisser Eindruck. Man vergißt eben doch nicht, daß man im Eise der Arktis segelt.

Ich muß während des Gottesdienstes und vor allem während der Bibelvorlesungen immer daran denken, wie reif die Zeit doch für die Erneuerung unseres Glaubens ist und für die Anpassung der ewigen Wahrheit an uns gemäße Formen. Sicher läßt sich die ewige Wahrheit auch in jeder Zeile des Alten Testaments finden. Aber muß sie uns gerade in der Form zugeführt werden, die ein nomadisierendes Wüstenvolk vor etlichen tausend Jahren als ihm gemäß ausbildete?

Wir sind auf diesem Schiff lauter weiße Männer, lauter nordische Männer. Im Falle der Gefahr sind wir alle aufeinander angewiesen. Ließe sich nicht auch eine Form finden, in der wir alle gemeinsam zu Gott beten können? Wäre das nicht natürlicher und selbstverständlicher, als daß wir uns in verschiedene Bekenntnisse teilen, während gleichzeitig braune, gelbe und schwarze Menschen in der gleichen Form Gott bekennen, Menschen, an deren geistigem und seelischem Leben wir im übrigen keinerlei Teil haben, und von denen uns eine Mauer trennt, auch wenn sie Lutheraner oder Katholiken heißen. Ich glaube, daß die Zeit reif für die nationale Kirche ist, reif dafür, daß jedes Volk die eine, ewige Wahrheit in der ihm gemäßen Form bekennt und erkennt. Wie nah alle Völker der einen ewigen Wahrheit sind, erfuhr ich erst wieder hier im arktischen Norden, wo ein alter Eskimozauberer bekannte: »Alle wahre Weisheit ist nur fern von den Wohnungen der Menschen zu erlernen, draußen in der großen Einsamkeit, und sie kann nur durch Leiden erreicht werden. Entbehrung und Leiden sind das einzige, was die Seele der Menschen für die Dinge öffnet, die verborgen sind!« – Klingt das nicht ebenso christlich oder christlicher als ganze Kapitel des Alten Testaments?

Daß wir eine Gemeinschaft sind, die im Falle der Gefahr aufeinander angewiesen ist, wird uns im allsonntäglichen Nachmittagsdienst vor Augen geführt. Der ist streng gemeinsam, und an ihm darf keiner fehlen, unter keinen Umständen und unter keinerlei Vorwand.

Auch auf andern Schiffen gibt es Bootsmanöver, und auch auf ihnen werden gelegentlich die Boote herabgelassen. Die Passagiere jedoch werden selten oder nie behelligt. Im Gegenteil, man zeigt ihnen nicht gern, daß überhaupt die Möglichkeit besteht, daß die Boote einmal benutzt werden müßten. Tatsächlich ist ja auch eine Fahrt auf einem der großen, modernen Schnelldampfer sicherer als eine Reise mit der Eisenbahn.

Bei uns ist es ein wenig anders. Arktisches Meer ist eine Sache für sich. Natürlich haben auch wir Radio an Bord. Aber es nützt uns kaum etwas, wenn wir SOS-Rufe ertönen lassen. Wir sind viel zu weit von allen übrigen Schiffen entfernt, als daß eins uns rechtzeitig zu Hilfe kommen könnte. Und dann – dürfte ein gewöhnliches Schiff, das nicht für die Arktis gebaut ist, wagen, uns hierher in das Eis nachzufahren, ohne selbst ein übermäßiges Risiko zu laufen? – Nein, wir sind im Notfall alle auf die Boote angewiesen. Daß sie nicht zum Schein mitgeführt werden, zeigt die Art, in der der Kapitän die Bootsmanöver durchführt. Wenn die Dampfpfeife schrillt, hat jedermann in wenigen Sekunden an seinem Platz zu sein, angetan mit Rettungsgürtel, auch der Bischof, auch meine Frau, auch Ralph. Jeder hilft mit, das Boot klarzumachen, dem er zugeteilt ist.

Es ist ein sportlicher Ehrgeiz, sein Boot als erstes ausgeschwungen zu haben. Wir sind Boot 2 und waren bisher jedesmal die ersten. Im Boot 1 sitzen die »Großmächte«. Als wir mit unserm Boot fertig waren, Boot 1 aber immer noch nicht klar war, meinte mein Kamerad zum Geologen, der zu unserer Bootsmannschaft gehört, sie fände es nicht richtig, daß all die würdigen alten Herren zusammen in einem Boot wären.

» You are right«, sagte der Geologe, » When it comes to the point, it will be all pretty tough eating« – auf deutsch: »Die würden eine zähe Mahlzeit abgeben, wenn es drauf und drankommt.«

Auf der andern Seite haben sich die »Großmächte«, obgleich sie schon den Priester in ihrem Boot haben, auch noch den Doktor dazu genommen. Dabei sitzt der an unserm Tisch und gehörte eigentlich in unser Boot.

»Die ›Großmächte‹ haben sich den verfügbaren seelischen und leiblichen Beistand gesichert, was ich nicht sehr fein finde«, meinte ich zum Geologen, als wir unser Boot wieder an seinem Platz hatten und die Schwimmwesten ablegten.

»Ja«, meinte er, »die sind versorgt, » from birth to death« – »von der Wiege bis zum Grabe!«

Man mag diese Scherze in unserer Lage für nicht ganz passend halten, allein jeder, der in langwährender Gefahr war, weiß, daß man ihr am besten dadurch begegnet, daß man sie sich einmal in ihrem ganzen Grauen vorstellt. Nur dann kann man im entscheidenden Augenblick instinktmäßig richtig handeln, auf der andern Seite aber braucht man einen derben Humor, um die mögliche seelische Depression, die sie auslösen könnte, von sich abzuwenden. Im Kriege haben wir es auch nicht anders gemacht.

Damit soll natürlich beileibe nicht gesagt werden, daß unsere Reise der Gefährdung im Kriege auch nur im entferntesten gleichkommt, aber daß jede Arktisfahrt auch heute noch ein gewisses Risiko einschließt, wird einem auf diesem Schiff, auch abgesehen von den Bootsmanövern, doch unwillkürlich und unvermeidlich immer wieder vor Augen geführt.


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