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28. Die Roß' im Lancastersund

Dundas Harbour (North Devon Island).

Der Doktor hat eine Entdeckung gemacht. Es ist ein junger Regierungsarzt, der mit uns reist, um die Leitung des Hospitals in Pangnirtung im südlichen Baffinland zu übernehmen, das einzige Krankenhaus in der kanadischen Arktis. Aber wir fuhren vor zehn Tagen an Baffinland vorbei, um keine Zeit zu verlieren und nicht oben im Smithsund im Eise stecken zu bleiben. So können wir den Doktor erst auf der Rückreise absetzen, und er macht die ganze Arktisfahrt mit. Da weder der Gesundheitszustand der Besatzung und der Expeditionsmitglieder, noch der der wenigen Eskimos, die wir treffen, ihm Gelegenheit gibt, seine ärztlichen Künste spielen zu lassen, betätigt er sich anderweitig.

Ein »Cache«

Als was sollte man sich aber in der Arktis betätigen, wenn nicht als Entdecker. So ist der Doktor unter die Entdecker gegangen. Er hat auf der Devoninsel einen »Cache« entdeckt. Caches nennt man hier Lebensmittel- und Vorratsdepots, wie Polarfahrer sie sich für die Rückreise anlegen und wie sie von Suchexpeditionen für vermißte Forscher an Punkten angelegt werden, an denen diese vielleicht vorbeikommen könnten.

Eigentlich hat nicht der Doktor, sondern sein Freund die Entdeckung gemacht. Der Doktor wurde nur zugezogen als Zeuge und Photograph. In einem der beiden Motorboote, die zum Laden und Löschen der Ladung dienen, rückten die beiden nach dem Abendessen in großer Eile in Richtung auf den großen Gletscher ab. Der »Superkargo«, der dafür verantwortlich ist, daß die Vorräte und Einrichtungen des in Auflösung begriffenen Polizeidetachements auf der Devoninsel möglichst rasch an Bord kommen, weil niemand wissen kann, wie lange die Eisverhältnisse noch ein Fortkommen gestatten, schimpfte gräßlich hinter ihnen her.

Spät in der Nacht kamen sie zurück – die Nächte sind hier oben auch in dieser Jahreszeit noch taghell – und berichteten wichtig und geheimnisvoll von ihrem Fund. An sich wäre an einem Lebensmitteldepot in dieser Gegend nichts Besonderes. Der Lancastersund ist ein berühmtes Gebiet in der Polarforschung. Durch ihn fuhren nicht nur die beiden Roß', sondern auch Parry, Franklin und Amundsen. Gar nicht weit von hier, auf der andern Seite der Devoninsel liegt der Erebushafen, in dem die unglückliche Franklin-Expedition überwinterte, die mit 230 Mann im Polareis zugrunde ging. Zahlreiche Rettungsexpeditionen wurden nach ihr ausgesandt. Zahlreiche Depots wurden angelegt, um den Vermißten den Rückmarsch zu ermöglichen. Ferner liegen in der Nähe die Reste der »Yacht Mary«, eines großen Segelbootes, das für die gescheiterte Franklin-Expedition hierher gebracht wurde, falls sie ihre Boote verloren haben und auf Schlitten über das Eis bis hierher zurückgelangen sollte.

Warum sollte sich nun nicht noch das eine oder andere bisher nicht aufgefundene Lebensmitteldepot auf der Insel befinden? An sich war also an dem Bericht der beiden Entdecker nichts Absonderliches. Befremdlich war nur, warum sie ihren Zug in solches Geheimnis gehüllt hatten. Im Verlauf ihrer Erzählungen wuchs das geheimnisvolle Cache sich immer weiter aus. Schließlich war es ein Steinhaus und die Knochen, die sie darin gefunden, waren Menschenknochen. Die langwierigsten Überlegungen wurden angestellt, die Gebeine welches unglücklichen Polarforschers man wohl entdeckt haben mochte. Bis am Ende die beiden mit ihrer Entdeckung so aufgezogen wurden, daß sie nichts mehr hören wollten.

Aber das Entdeckerfieber lag wohl in der Luft oder zum mindesten der Anreiz, mit dem Gedanken zu spielen, auf Spuren der berühmten Polarforscher zu stoßen, die vor uns hier gewesen waren. Auch der Major kam von seinem Landausflug mit einer »Entdeckung« zurück. Er berichtete, daß er auf dem konischen Berg die Flaschenpost gefunden habe, die John Roß auf seiner Spitze begraben hatte. Er fragte uns, ob wir nicht unsere Namen unter den des berühmten Ahnen setzen wollten.

Nun wußte ich genau, daß der konische Berg, von dem John Roß berichtet und auf dessen Spitze er eine Flasche unter einem Steinmal vergrub, auf der andern Seite des Sundes, direkt uns gegenüber liegt und daß es sich ohne Zweifel um einen Scherz handelte. Aber wir gingen trotzdem. Es war ein anstrengender Marsch den steilen Felskegel hinauf, aber wir hatten ihn nicht zu bereuen, obgleich die Flasche, die wir oben vorfanden, natürlich nur ein Papier mit dem Namen des Majors enthielt.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, setzten wir auch unsere Namen auf das Papier; denn es sind beinahe auf den Tag einhundert Jahre her, daß John und James Roß mit den Überlebenden der »Victory« von der »Isabella« aufgefischt wurden. Wir haben diesen konischen Berg gerade vor uns. Es muß nach der Beschreibung von John Roß ungefähr hier vor uns im Sund gewesen sein, wo die drei Boote zuerst die rettenden Segel sahen.

Die Männer in den Booten hatten drei Winter im Eis hinter sich. Sie waren seit Monaten unterwegs, zuerst auf Schlitten, auf denen sie die schweren Boote über holpriges Eis schleppen mußten, dann in den Booten selbst, als sie die erste eisfreie Fahrrinne antrafen. Sie waren am Ende ihrer Kräfte und am Ende ihrer Vorräte. Da sehen sie vor sich ein Segel und gleich darauf ein zweites! Sie werfen sich, so erschöpft sie sind, in die Riemen. Aber der Wind frischt auf, und die Schiffe entfernen sich, ohne die Schiffbrüchigen zu bemerken.

Es gelingt dem Kapitän, den Mut der Leute, die verzweifeln wollen, wieder aufzurichten. Es gelingt ihm, sie an der anscheinend völlig aussichtslosen Arbeit an den Rudern festzuhalten. Das schier Unmögliche wird Wahrheit, der Wind flaut plötzlich ab. Die Schiffbrüchigen werden bemerkt, ein Boot wird ihnen entgegengeschickt.

Auf die Frage, wer ihre Retter sind, erhält der Kapitän der schiffbrüchigen »Victory« die Antwort: »Die ›Isabella‹, einstmals von Kapitän Roß geführt!« – Es ist sein eigenes Schiff, das er auf der ersten Reise kommandierte, das ihn rettet. Als sich darauf der verwilderte Mann in langem Bart und zerfetzter Fellkleidung als John Roß zu erkennen gibt, lächelt der Offizier der »Isabella« nur milde. – »Das kann nicht sein, Kapitän Roß ist seit zwei Jahren tot. Wir sind ausgeschickt, um nach Spuren seiner verlorengegangenen Expedition zu suchen.«

Ich meine, die Szene zu sehen, die sich vor hundert Jahren an dieser Stelle abspielte, die weißen Segel der »Isabella«. Allein es ist nur Eis, das sich im Sund zusammenzieht.

Eis zieht sich im Sund zusammen. Aber wir brauchen es nicht zu fürchten. Die heute viel geschmähte Technik erlaubt es den Nachfahren mit verhältnismäßiger Sicherheit Frau und Kind in Eisgebiete mitzunehmen, in denen die Ahnen mit einer Schar harter, in der Arktis erprobter Männer beinahe gescheitert wären und die noch vor kurzem solche Opfer kosteten. Der moderne Eisbrecher schiebt die Grenze des Unpassierbaren und Unbetretbaren immer weiter gegen den Pol vor, und das für die Arktis brauchbare Flugzeug wird sie in Kürze völlig aufgehoben haben. Dann erst, mit der völligen Überwindung des »Ewigen Eises« ist die Erde vom Menschen restlos in Besitz genommen.


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