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38. Ultima Thule

An Bord der »Nascopie« in Robertson Bay.

Im äußersten Nordwesten Grönlands, von der übrigen Insel durch einen breiten, unüberschreitbaren Gletscher getrennt, wohnen die sogenannten arktischen Hochländer. Diesen Namen gab ihnen Sir John Roß, der erste Europäer, der mit ihnen zusammentraf.

Diese arktischen Hochländer sind die eigentlichen Entdecker des Nordpols. Sie stellten die Begleiter Pearys wie Cooks, und ohne ihre Hilfe hätte weder der eine noch der andere den Pol erreicht. Als Cook auf Kap Spurbo festsaß, schien er nach europäischen Begriffen verloren. Seine Vorräte waren bis auf den letzten Bissen aufgezehrt, die Patronen waren ihm ausgegangen. Er hatte buchstäblich nichts mehr. Er wäre zugrunde gegangen, hätte er nicht zwei junge Nordgrönländer mitgehabt. Diese beiden zwanzigjährigen Burschen verstanden es, gleichsam aus dem Nichts sich Waffen anzufertigen, mit denen sie so viel Wild erbeuteten, um alle drei samt ihren Hunden am Leben zu erhalten und im Frühling die Rückkehr über das Eis nach Grönland zu ermöglichen.

Auch Knud Rasmussen wählte seine Begleiter für seine mehrjährige schwierige Wanderfahrt aus den Eskimos, die zwischen Kap York und Etah leben, und er war über ihre Tüchtigkeit und Umsicht des Lobes voll. So holte auch die kanadische Regierung von hier die Eskimos, die sie für ihren Polizeiposten auf Ellesmereland benötigte. Die zentralarktischen Eskimos hatten sich geweigert, so weit nach Norden in ein völlig leeres, unbewohntes Land zu ziehen.

Für uns, die wir bisher nur mit Eingeborenen der Zentralarktis zusammengetroffen waren, war diese erste Begegnung mit Nordgrönländern eine Überraschung. Sie wirkten wie eine andere Rasse. Das sind sie auch bis zu einem gewissen Grad.

Das normannische Blut ist nicht völlig versickert. Schließlich haben die Normannen ein paar Jahrhunderte lang an der grönländischen Ostküste gesessen. Über europäische Wirren und Nöte hat Norwegen dann freilich zweihundert Jahre lang seine grönländische Kolonie vergessen. Das Schiff aus Bergen, das alljährlich die normannischen Grönländer mit ihrer Heimat verband, blieb mit einem Male aus. Ohne den Nachschub aus Europa und die Versorgung mit europäischen Vorräten und Werkzeugen blieb den Abgeschnittenen nichts anderes übrig, als sich den Lebensnotwendigkeiten des Eises anzupassen, das heißt, Eskimos zu werden, was naturgemäß zur Vermischung und Aufsaugung des nordischen Blutes führte.

Als endlich zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts ein norwegischer Landpfarrer sich um das Schicksal der preisgegebenen grönländischen Christen solche Gewissensbisse machte, daß er alle Hebel in Bewegung setzte, bis schließlich eine Expedition von dem mit Norwegen unter einem König vereinigten Dänemark ausgerüstet wurde, fand man nur noch die Ruinen der normannischen Kirche von Kakortuk. Alles, was von den Normannen übrig geblieben, waren einige in die Eskimosprache übergegangene Ausdrücke. Wäre Hans Egede, der glaubensstarke Pfarrer, der so Grönland neu entdeckte und als dänische Kolonie begründete, gleichzeitig auch Ethnologe gewesen, so hätte er wohl außer den sprachlichen Spuren auch noch solche in den Gesichtszügen und im Körperbau der ihm so fremd erscheinenden Eskimos gefunden.

Der normannische Einfluß ist heute noch spürbar. Allerdings ist er ja auch noch durch dänisches Blut verstärkt worden, das sich gleichfalls mit dem grönländischen vermischte. Auf uns, die wir zuerst mit den noch rein mongolischen Eingeborenen der Zentralarktis zusammengetroffen waren, wirkten die ersten grönländischen Eskimos fast europäisch.

Sie kamen in großer Zahl in ihren Kanus angepaddelt, als die »Nascopie« langsam und vorsichtig die Robertsonbucht hinaufdampfte.

Robertson Bay ist die nördlichste Siedelung Grönlands, ich glaube der Welt. Sie liegt noch ein Stück nördlicher als Thule, der Posten Knud Rasmussens, den er so nannte, weil es seinerzeit der äußerste Vorposten der Menschheit im Eise war. Robertson Bay ist also das Ultima Thule der Welt. Aber selbst hier trägt Grönland seinen Namen »Grünes Land« zu Recht. Für uns, die wir aus Eis und Schnee, aus Gletscherwelt und kaum übersehbarem Packeis kommen, ist es jedenfalls wunderbar, wieder braune und grüne Felsen zu sehen, deren Saum mit richtigem Grün bedeckt ist.

Die Kajaks der Nordgrönländer vermögen leicht Schritt mit der »Nascopie« zu halten, die keinen Ankergrund findet. Der Gletscher, der die Bucht abschließt, streckt augenscheinlich seine Eiszunge bis hierher unter das Wasser vor.

Zwischen dem Dampfer und den Booten stiegen Begrüßungen und Scherze hin und her. Nicht nur wird Nookapinguaq herzlich begrüßt, sondern in der gleichen Weise die Polizisten von Ellesmere, die die Leute in den Kajaks zum großen Teil kennen. Manche von ihnen waren gleichfalls im Dienst der kanadischen Regierung, andere kamen in Begleitung von Expeditionen nach Ellesmere hinüber oder »auf Besuch«. Im Winter ist es mit den Schlitten nicht mehr als drei Tage über den gefrorenen Sund.

Da der Anker durchaus nicht fassen will, bleibt dem Kapitän nichts anderes übrig, als sein Schiff so gegen den Strom zu halten, daß wir ein Boot zu Wasser lassen können. Es muß zweimal fahren, ehe Nooka mit all seinen Schätzen gelandet ist.

So laut und lärmend die Freude der Leute aus Robertson Bay ist, so still und fast gedrückt werden Nookapinguaq und seine Frau wie sein Sohn. Augenscheinlich wird ihnen der Abschied von den Männern schwer, mit denen sie so viele Jahre Freud und Leid geteilt haben, und mit denen sie Tausende von Kilometern über das Eis gewandert sind.

Ena hat Tränen in den Augen, und auch Nooka kämpft sichtlich, seine Erregung zu bemeistern. Als er allen die Hand geschüttelt hat und schon die Gangway hinuntersteigen will, tritt er mit einer plötzlichen Bewegung noch einmal auf Ralph zu und drückt ihm einen Schlitten mit Hunden und Treiber aus Walroßelfenbein geschnitzt in die Hand. Dann läuft er hurtig, ohne sich nochmals umzusehen, die Stufen hinunter und springt ins Boot.


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