Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V. Durch die Davisstraße ins Polareis

20. Das gefrorene Licht – Seelen spielen Fußball

An Bord der »Nascopie« in der Davisstraße.

In der Nacht nach Port Burwell lockte uns ein heller Schein vor dem Kabinenfenster, gerade als wir uns schlafen legen wollten, nochmals an Deck.

Am Himmel stand eine seltsame Erscheinung, die wie ein Streifen übriggebliebenes Tageslicht aussah. Es war ein unwirkliches Licht. Es fehlte ihm die warme Tönung der Abenddämmerung. Außerdem stand es nicht am Horizont, sondern hoch am Himmel.

Wir gingen auf die Back, wo wir den besten Ausblick hatten. Als wir dort anlangten, hatte sich die fremdartige Lichterscheinung bereits verändert. Sie ging jetzt quer über den ganzen Himmel, und im nächsten Augenblick war sie ein geschlossener Kreis, eine riesige Krone, die am sternbesäten Firmament hing.

Jetzt wurde es klar: Nordlicht. Gespannt blickten wir nach oben. Der Lichtbogen war in ständiger, zitternder Bewegung, und wir erkannten, daß er aus Myriaden von Lichtstrahlen bestand, Lichtstäben, die senkrecht nebeneinander gereiht waren. Sie formten oben am Himmel eine kreisrunde Mauer, jedoch eine Mauer, die nur aus zwei Dimensionen bestand. Sie war nur lang und hoch, jede Ausdehnung in die Breite fehlte ihr. Es war mehr wie ein Schleier, aber ein aufrecht stehender Schleier, eine Krone aus leuchtenden Glasstäben. Jeder einzelne der Leuchtstäbe aber war so dünn, daß er überhaupt keine Körperlichkeit besaß. Ein gefrorenes Licht.

Wie die Krone sich wieder auflöste und an ihrer Stelle sich ein vielfach gewundenes Band um den Himmel schlang, als wolle es all die funkelnden Sterne in einem leuchtenden Strauße zusammenfassen, als dieses Band in sich erzitterte wie eine aus Millionen Glühbirnen aufleuchtende Lichtreklame, fiel mir plötzlich ein, daß die Eskimos das Nordlicht für Seelen Verstorbener halten, die in fröhlichem Spiel über den nächtlichen Himmel tollen.

Die Eskimos haben für ein primitives Volk eine erstaunlich geistige, unkörperliche Vorstellung von der Seele nach dem Tode. Aber wir müssen wohl überhaupt in der Religion die Unterscheidung zwischen Kultur- und Naturvölkern fallen lassen. Die Ideen mancher sogenannter primitiver Völker sind in dieser Hinsicht wesentlich durchgeistigter als die mancher sogenannter Kulturvölker. Viele Christen stellen sich sowohl Gott wie die abgeschiedenen Seelen in voller Körperlichkeit vor. Die Eskimos jedoch haben ein viel abstrakteres Bild von der menschlichen Seele. Die Toten leben in ihrem Reich zwar auch in Gestalt von Menschen, allein sie sind, »als ob sie aus Nichts bestünden«. Sie leben zwar auch in menschlichen Behausungen, aber sie bedürfen weder Tür noch Fenster. Sie gehen durch die Wände, wie überhaupt durch alle Körper hindurch, ohne jedoch wesenlose Schatten zu sein, wie die Bewohner des griechischen Hades. Im Gegenteil – sie sind fröhliche, von lebendigem Leben erfüllte Wesen.

Wie ich jetzt über mir die Lichtstäbe des Nordlichtes tanzen sehe, wird mir klar, woher die Eskimos diese erstaunliche Seelenvorstellung haben. Sie brauchen nur auf den nächtlichen Himmel zu schauen. Die wunderbare Erscheinung an ihm ist körperlich und körperlos zugleich. Diese gefrorenen Lichtstrahlen stehen zum Greifen körperlich am Himmel und gleiten doch ineinander, über- und durcheinander hindurch wie Schatten.

Freilich, daß diese im Nordlicht verkörperten Seelen gerade Fußball spielen sollen, noch dazu mit dem runden Schädel eines Walrosses, wie die Eskimos glauben, ist für unser Empfinden eine allzu derbe, unpoetische Vorstellung. Uns scheint es eher, als ob die Seelen da oben einen fröhlich beschwingten Reigen tanzen. Uns dünken sie Millionen leuchtender Engel, seeliger, junger Wesen, die sich an den Händen halten, und deren Reihen sich wie in alten Volkstänzen in kunstvollen Figuren verschlingen, um sich ebenso kunstvoll wieder zu lösen.

Die Eskimos sind trotz all ihrer Spiritualität und trotz ihres starken religiösen Bedürfnisses ein Volk, das durch die Natur gezwungen ist, der materiellen Seite des Lebens die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden. In einem derart kargen Lande kann sich menschliches Leben nur halten, wenn Essen und der Gedanke an Essen die allererste Rolle spielen. Im heißen Indien vermag einer ein Gott wohlgefälliges Leben mit frommen Betrachtungen und einer Handvoll Reis zu führen. In der Arktis ist dies unmöglich, wenn nicht noch einige Kilo Fleisch und Fett dazu kommen.

Deshalb ist auch der Eskimohimmel verständlicherweise mit Karibus- und Moschusochsen, Walrossen und Seehunden dicht bevölkert. Das wesentliche ist, daß alle Seelen in ihm täglich satt werden.

In diesen Himmel, das »Land des Tages« kommen allerdings nur Menschen, die ertrunken sind oder getötet wurden. Wer nicht durch einen gewaltsamen Tod entsühnt wurde, kommt nach dem Tode in das »Schmale Land«, eine Art Unterwelt, die aber keineswegs eine Hölle ist.

Das »Schmale Land« ist ein Küstenstreifen zwischen zwei Meeren. Hier herrscht winterliche Dämmerung. Auch hier gibt es Seehunde und Walrosse so reichlich, dass niemand zu hungern braucht, aber das Landwild fehlt, und man kann hier auch nicht so fröhlich Fußball spielen wie im »Land des Tages«.

Im »Schmalen Land« büßt Sünde ab, wer welche abzubüßen hat. Ist das geschehen, so bleibt er im »Schmalen Land«, lebt dort aber genau so glücklich wie die Bewohner des Taglandes.

In dieser Anschauung liegt die weise Erkenntnis, daß es weniger auf die tatsächlichen Lebensumstände ankommt, als auf die seelische Einstellung, auf den Blickwinkel, von dem aus man sie betrachtet. Das »Schmale Land« löst keine peinigenden, ängstigenden Vorstellungen aus. Immerhin aber ist der Anreiz, einmal in das »Land des Tages« zu gelangen, so groß, daß der Eskimo, der nicht schwimmen kann, sich in seinem Kajak auf das riesige und stürmische Polarmeer hinauswagt. Der Tod im Meer ist für ihn das gleiche wie der Tod in der Schlacht für den Mohammedaner, der Schlüssel zum Paradies.

Die wissenschaftliche Erklärung fällt mir wieder ein, die der Expeditionsmeteorologe vor ein paar Tagen für das Nordlicht gab. Nach ihr wird es durch von der Sonne fortgeschleuderte Elektronen gebildet, die um den magnetischen Nordpol kreisen. Ich blicke hinauf in das unerhörte Lichtwunder, und die Erklärung des Meteorologen will mich gar nicht befriedigen. Da ist mir die der Eskimos beinahe lieber, daß es aus ballspielenden Seelen besteht. Diese Erklärung gibt jedenfalls dem Gefühl mehr und ist vielleicht ebenso richtig. Wenn ich nur denke, was sich seit meinen ersten Schuljahren an wissenschaftlichen Erklärungen der physikalischen und chemischen Phänomene alles geändert hat! Jedesmal sollte die letzte die allein gültige sein! Ich hätte beispielsweise im Abitur sagen sollen, daß das Kausalitätsgesetz nur bedingt gilt! Ich wäre schön durchgerasselt.

Das Nordlicht über uns ist inzwischen so überwältigend geworden, daß man an keine wissenschaftliche Erklärung mehr denken, sondern nur stumm und andächtig nach oben blicken kann.

Die wandernden Bänder gefrorenen Lichtes haben sich in einer Spirale zum Zenit des Firmaments hinaufgewunden, und von hier beginnt Licht, körperliches Licht herabzutropfen. Nach allen Seiten schießen die Strahlen herab, und im nächsten Augenblick ist es, als stünden wir inmitten einer strahlenden Kuppel. –

Der Himmel, der leuchtende Thron Gottes selbst, hat sich auf die Erde herabgesenkt, auf das leere, eisige Land und Meer des hohen Nordens, das der Mensch noch nicht entheiligt hat.


 << zurück weiter >>